By Published On: 14. Juli 2022Categories: Gesundheit, Management, Psychologie, Wirtschaft

Trauer, Wut, Angst und Hilflosigkeit. Der Eintritt eines kritischen Lebensereignisses lässt Betroffene häufig in ein Loch stürzen, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Was macht man denn auch, wenn eine geliebte Person unerwartet verstirbt? Was, wenn man plötzlich schwer krank wird? Als Angehöriger oder Freund kann man häufig nicht mehr machen, als Betroffene zu unterstützen. Indem man dafür sorgt, dass jeder genug isst und trinkt, indem man Papierkram und Telefonate übernimmt oder einfach indem man da ist. Bedingt durch den strukturellen Wandel in der Arbeitswelt ist es jedoch auch Unternehmen immer mehr daran gelegen, betroffene Mitarbeiter in Krisensituationen zu unterstützen. Die Gründe hierfür sind vielschichtig.

Was ist ein kritisches Lebensereignis?

Kritische Lebensereignisse finden sowohl in der Entwicklungspsychologie als auch in der Klinischen Psychologie Beachtung. Negative und positive Ereignisse werden dort als unterschiedlich belastende Stressoren angesehen, wobei in der Regel eine Einteilung in normative und nicht normative kritische Ereignisse erfolgt. Erstere stellen regulär auftretende Ereignisse dar, bei denen es möglich ist, sich auf sie vorzubereiten (z. B. Schulabschluss). Sie bilden die Grundlage für Entwicklungsaufgaben. Im Gegensatz dazu stehen nicht normative kritische Lebensereignisse. Aufgrund ihres unerwarteten und unvorbereiteten Eintritts übersteigen sie vorhandene Bewältigungsressourcen und hinterlassen meist ein sehr traumatisches Erlebnis (Wittchen & Hoyer, 2011, S. 307). In Anbetracht ihrer sehr belastenden Wirkung sollen diese nicht normativen Ereignisse näher definiert werden:  

Kritische Lebensereignisse…
▪ bringen ein hohes Maß an Veränderungen mit sich,
▪ beinhalten Verlusterfahrungen,
▪ lösen heftige Emotionen aus,
▪ sind nicht oder nur schwer kontrollierbar,
▪ treten unerwartet ein und sind nur schwer vorhersehbar,
▪ erschüttern das Weltbild, Selbstbild und den Selbstwertbezug,
▪ durchkreuzen Pläne, verschließen Handlungspfade und schränken den Handlungsspielraum ein.
Tabelle 1: Charakteristika kritischer Lebensereignisse (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Filipp & Aymanns, 2010, zit. nach Lenze et al., 2013, S. 9)


Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht über die am häufigsten genannten kritischen Lebensereignisse in verschiedenen Altersgruppen. Hobson und Delunas (2001, S. 305) ergänzen dies um die Verantwortungsübernahme für kranke, ältere und zu pflegende Personen, Umstrukturierungen am Arbeitsplatz sowie Opfer von Verbrechen und Naturkatastrophen.

AltersgruppeAm häufigsten genannte kritische Lebensereignisse
Unter 30 JahreStreit und Mobbing am Arbeitsplatz, Konflikte im privaten Umfeld,
finanzielle Probleme
30-40 JahreTrennung, belastende Konflikte, Streit und Mobbing am Arbeitsplatz, schwere Erkrankung
40-50 JahreSchwere Erkrankung, belastende Konflikte, Trennung, Probleme mit der eigenen Gesundheit
50-65 JahreTod des*r Partner*in, schwere Erkrankung eines Familienangehörigen, Trennung, Beeinträchtigungen durch eigene gesundheitliche Einbußen
Tabelle 2: Am häufigsten genannte kritische Lebensereignisse sortiert nach Altersgruppen (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Waltersbacher, Zok & Klose, 2017, S. 137-138)


Erhöhte Fehlzeiten und Leistungseinschränkungen

Die Notwendigkeit, sich betrieblich mit kritischen Lebensereignissen auseinanderzusetzen, nimmt immer weiter zu. Grund hierfür sind nicht nur demografische Entwicklungen und steigende Fallzahlen, sondern auch veränderte Arbeits- und Lebensumwelten durch gestiegene Leistungsanforderungen und Unsicherheiten am Arbeitsplatz (Lenze et al., 2013, S. 20). Derartig hohe und langanhaltende psychische Belastungen resultieren in Krankschreibungen, zeigt die DAK Gesundheit. Psychische Erkrankungen belegen hier aktuell Platz 2 des Arbeitsunfähigkeitsvolumens, wobei die Diagnose „Reaktion auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen“, nach den Depressionen, die zweithäufigste Einzeldiagnose darstellt (DAK, 2021, 2022).

Allerdings gibt es auch Mitarbeiter, die sich nicht oder nur für sehr kurze Zeit krankschreiben lassen und/oder niemandem von ihrer privaten Krise berichten. Und das, obwohl das Ereignis einen starken Einfluss auf ihre Konzentration und Leistung und somit auf ihre Berufstätigkeit hat. Hierfür finden sich unterschiedliche Gründe. Während rund 90% der Betroffenen angeben, dass das Thema niemanden etwas angehe, vermutet jeder Zweite ein Tabuthema und berufliche Nachteile. Viele nehmen aber auch an, dass das Unternehmen ohnehin nicht weiterhelfen könne und die Vorgesetzten nicht zuständig oder qualifiziert seien (Lenze et al., 2013, S. 26; Waltersbacher et al., 2017, S. 138-142).

Auswirkungen auf Unternehmen

Anhaltende erschöpfende Belastungssituationen gehen nicht selten mit langfristigen psychischen, körperlichen und/oder psychosomatischen Beanspruchungsfolgen einher – die weitere Fehlzeiten und Fluktuationen zufolge haben können. Weiterhin nicht zu vernachlässigen sind negative Auswirkungen auf die Arbeitsmotivation, die auftreten, wenn Mitarbeiter aufgrund ihrer Leistungseinschränkungen und erhöhten Fehlerneigung frustriert sind und/oder Nachteile erfahren. Das ist insbesondere der Fall, wenn aufgrund der Veränderungen eine flexible, reduzierte oder unterbrochene Arbeitszeit benötigt wird, diese aber nicht ermöglicht werden kann. Oder wenn aufgrund fehlender zeitlicher Möglichkeiten keine Karriere und Weiterbildungen mehr möglich sind (Lenze et al., 2013, S. 27-28).

Letztlich haben die Leistungseinschränkungen und Fehlzeiten der betroffenen Mitarbeiter nicht nur Folgen für die betroffenen Mitarbeiter selbst, sondern auch für Kollegen und Arbeitsteams. Mithilfe von Empathie, Akzeptanz und Wertschätzung können Teams die Arbeit zwar kurzzeitig auffangen, aber langfristig müssen auch diese gezielte Unterstützung erfahren. Die Vermittlung von Rückhalt und Sicherheit durch die Führungskraft stellt somit eine wichtige Maßnahme dar, damit auch die kollegiale Unterstützung und Akzeptanz für den Betroffenen langfristig wachsen und so eine zusätzliche Unterstützung darstellen kann (Lenze et al., 2013, S. 27-28). Im Folgenden werden daher verschiedene Maßnahmen aufgezeigt, die Unternehmen sowohl vor dem Eintritt einer Krise als auch während einer Krisensituation treffen können, um ihre Mitarbeiter zu unterstützen.

Handlungsempfehlungen vor Eintritt der Krisensituation

  • deutliche, wertschätzende und wiederholte Kommunikation durch die Führungskraft, dass es Phasen im Leben gibt, in denen nicht immer die gleiche Leistung erbracht werden kann
  • Angebot betrieblicher Gesundheitsangebote (z. B. Coachings, Gespräche mit Vertrauensperson, Umgang mit Problemen und Konflikten), auch wenn keine konkreten Fälle bekannt sind; ggf. Krankenkassen unterstützend einbinden bei Themen wie Erkrankungen, Sucht und Altern
  • vorzeitige Vereinbarung von Vertretungsregelungen, die in der Akutsituation greifen; Abklärung von Verantwortlichkeiten und Vorgehen in Krisensituationen, um schnelles und kompetentes Agieren zu ermöglichen
  • Informationsmaterial digital zur Verfügung stellen, um schnelle und unkomplizierte Unterstützung im Krisenfall zu gewährleisten
  • Benennung weiterer Ansprechpartner im Unternehmen, die betroffene Mitarbeiter unterstützen; fachliche Ausbildung ermöglichen (z. B. Qualifikationserwerb „Psychische Erste Hilfe“)
  • Mitarbeiter und Führungskräfte durch geeignete Schulungen und interne Kommunikationsformate sensibilisieren und soziale Kommunikationskompetenzen stärken
  • Kooperation kleiner Unternehmen mit anderen kleinen Unternehmen, um gemeinsame, unternehmensübergreifende Sensibilisierungsmaßnahmen zu schulen und Unternehmensnetzwerk zu stärken (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2022; Jobst-Jürgens, 2020, S. 83-84; Waltersbacher et al., 2017, S. 149, 151)


Handlungsempfehlungen in der akuten Krisensituation

  • authentisches Verständnis, Rücksichtnahme und solidarisches Verhalten – eine von Offenheit und Wertschätzung geprägte Unternehmenskultur erleichtert Gespräche über kritische Lebensereignisse
  • bei Bedarf klärende, vertrauensvolle Gespräche durch den Vorgesetzten
  • Anerkennung bisheriger Leistungen (Hinweis, dass es Phasen im Leben gibt, in denen nicht immer die gleiche Leistung erbracht werden kann)
  • auf Informationsmaterial, (professionelle) Hilfsangebote und Ansprechpartner innerhalb und außerhalb des Unternehmens hinweisen
  • bei Bedarf externe Referenten einladen, die spezifische Themenschwerpunkte vertiefen (Angebot für Betroffene, Mitarbeiter und Führungskräfte)
  • Übernahme einer anderen (leichteren) Tätigkeit im Betrieb ermöglichen (mit Betroffenen absprechen, um Bevormundung zu vermeiden)
  • Ermöglichung flexibler Arbeitszeiten und Urlaubsregelung, Homeoffice, Sonderfreistellungen von der Arbeit (Sonderurlaub, unbezahlter Urlaub, Sabbatical) (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2022; Jobst-Jürgens, 2020, S. 83-84; Waltersbacher et al., 2017, S. 145-149)


Fazit

Aktuelle globale Themen wie die COVID-19-Pandemie und der Ukrainekrieg sind ein präsentes Beispiel dafür, dass Mitarbeiter immer häufiger von gesundheitlichen und wirtschaftlichen Krisen betroffen sind. Derartige Ereignisse können als Stresstests gewertet werden, die die Beziehungsstabilität zwischen Unternehmen und Mitarbeitern prüfen. So stellt sich die Frage, ob es infolge der Krise zu erhöhten Fehlzeiten und Fluktuationen oder doch zu einer gestärkten Verbindung kommt. Fakt ist, dass auch Unternehmen unterstützen können – und das bereits vor dem Eintritt der Krise. Welche Maßnahmen hierbei konkret getroffen werden, ist unmaßgeblich, solange sich Mitarbeiter geschätzt, akzeptiert und verstanden fühlen und zumindest im beruflichen Umfeld eine Erleichterung verspüren.

Konkrete Handlungshilfen und Grundwissen für folgende Themen zeigt der Handlungsleitfaden des Projektes „LoS! – Lebensphasenorientierte Selbsthilfekompetenz“

  • Gespräche mit Betroffenen (S. 62-63)
  • Todesfall (S. 33, 64-65)
  • Finanzielle Probleme (S. 33, S. 66-67)
  • Trennung/Scheidung (S. 33, 68-69)
  • Pflege (S. 33, S. 70-71)
  • Eigene Erkrankung (S. 33, 72-74)
  • Familie und Beruf (S. 33)
  • Veränderungsprozesse (S. 34)


Literaturverzeichnis

Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2022). So begegnen Sie kritischen Lebensereignissen am Arbeitsplatz. Zugriff am 14.04.2022. Verfügbar unter https://www.inqa.de/DE/wissen/gesundheit/physische-und-psychische-gesundheit/kritische-lebensereignisse.html

DAK (2021). Anteile der zehn wichtigsten Krankheitsarten an den Arbeitsunfähigkeitstagen in Deutschland in den Jahren 2014 bis 2020. Zugriff am 10.04.2022. Verfügbar unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/77239/umfrage/krankheit-hauptursachen-fuer-arbeitsunfaehigkeit/

DAK (2022). PSYCHREPORT 2022. Entwicklung der psychischen Erkrankungen im Job: 2011-2021. Zugriff am 11.04.2022. Verfügbar unter https://www.dak.de/dak/download/report-2533050.pdf

Hobson, C. & Delunas, L. (2001). National Norms and Life-Event Frequencies for the Revised Social Readjustment Rating Scale. International Journal of Stress Management, 8, 299–314. DOI: https://doi.org/10.1023/A:1017565632657

Jobst-Jürgens, V. (2020). New Work. Was relevante Arbeitnehmergruppen im Job wirklich wollen – eine empirische Betrachtung. Wiesbaden: Springer Gabler. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-31132-2

Lenze, M., Schierhorn, A., Mühlenbrock, I., Riechel, S., Menge, A. et al. (2013). Beschäftigte in kritischen Lebensphasen unterstützen – Eine strategische Handlungshilfe für Unternehmen. Zugriff am 10.04.2022. Verfügbar unter https://www.inqa.de/SharedDocs/downloads/beschaeftigte-in-kritischen-lebensphasen-unterstuetzen-eine-strategische.pdf;jsessionid=9387DAD798A5FA7DAA0918B2B6A44161.delivery2-replication?__blob=publicationFile&v=4

Oerter, R., Altgassen, M. & Kliegel, M. (2011). Entwicklungspsychologische Grundlagen. In: Wittchen, H.-U. & Hoyer, J. (Hrsg.), Klinische Psychologie & Psychotherapie (2. Aufl., S. 301-318). Berlin/Heidelberg: Springer. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-642-13018-2

Waltersbacher, A., Zok, K. & Klose, J. (2017). Die betriebliche Unterstützung von Mitarbeitern bei kritischen Lebensereignissen. In: Badura, B., Ducki, A., Schröder, H., Klose, J. & Meyer, M. (Hrsg.), Fehlzeiten-Report 2017. Krise und Gesundheit – Ursachen, Prävention, Bewältigung (S. 133-152) Berlin: Springer. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-54632-1


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jcomp (o. D.). Sad man holding head with hand. Zugriff am 21.04.2022. Verfügbar unter https://www.freepik.com/free-photo/sad-man-holding-head-with-hand_3805602.htm#query=sad&position=31&from_view=search

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