„Zwischen Persönlichkeitsentwicklung und Kameras.“

Ein gemeinsames Backerlebnis – Der Kuchenteig wird aufwendig zubereitet, drei Eier landen in der Schüssel, fünf auf dem Boden. Alle anderen Zutaten werden mal nacheinander, mal gleichzeitig wahlweise auf den Boden oder in die Rührschüssel gekippt und die geduldige Mutter wird wenigstens genau so häufig gehauen, gekniffen oder an den Haaren gezogen. Doch Sie lächelt Ihre beiden kleinen Töchter, 3 und 5 Jahre alt, geduldig und besonnen an, scherzt ein wenig verschmitzt und versucht dennoch halbherzig, das Backerlebnis in halbwegs geregelte Bahnen zu lenken. Eins haben Sie alle gemein – Ihr blickt ist immer wieder geradeaus gerichtet, wohlwissend aufgenommen zu werden. Das gemeinsame Backerlebnis scheint mehr ein Videoevent zu sein, um einen polarisierenden Content zu kreieren. Die Geister scheiden sich, die Kommentarspalte hält ein breites Spektrum an Resonanz bereit. Die eine Fraktion amüsiert sich herrlich über die goldigen und wilden Mädchen, wohingegen die zweite Fraktion zur Erziehung ermahnt und sogar ein regelrechter Hass der älteren Tochter gegenüber hohen Wellen schlägt. Und die dritte Fraktion, Sie sorgt sich um den Kinderschutz. Führt an, diese zur Schau gestellte Lebensmittelverschwendung zu forcieren, um eine große Reichweite zu erlangen. Die Kommentarspalte füllt sich von Minute zu Minute weiter, es wird heiß diskutiert, ob das körperliche Erwehren des Kindes der Mutter gegenüber möglicherweise ein Protest gegen die Filmaufnahmen sei. Oder ob es sich bei dem häufigen zu Boden werfen aller Lebensmittel vielleicht bereits um ein konditioniertes Verhalten der Kinder handelt. Oder ob es einfach nur eine äußerst geduldige Mutter ist, die Ihr aufgeregtes Backerlebnis nicht nur mit Ihren beiden Kindern, sondern gleich mit der ganzen Welt teilen möchte, da Sie ja schließlich zwei besonders niedliche Kinder hat, vor allen Dingen, wenn die Eier überall in der Küche kleben.

Diese und unendlich viele Szenen kann man in den sozialen Netzwerken täglich betrachten. Kleine Kinder, sogar Säuglinge, die bei jedem Schritt gefilmt und dargestellt werden. Nichtsahnend von den Reaktionen, die diese Videos auslösen oder den folgenschweren Konsequenzen, die dieses zur Schau stellen der privatesten Momente der Kindheit mit sich bringt. Wo doch ausgerechnet Kinder unter dem besonderen Schutz der eigenen Eltern und auch der gesamten Gesellschaft stehen sollten. Doch wie kann Kindern eine größere Lobby gegeben werden? Wie kann Kinderschutz nicht ausschließlich durch Apelle an die Vernunft der Eltern gelingen? Wie können Kinder geschützt werden, wenn Eltern Ihnen den Schutz der Privatsphäre versagen? Und welche fatalen Folgen kann eben diese Verletzung der Privatsphäre für die Entwicklung des Selbstwertgefühls, des Selbstbildes und auch der elementaren Beziehung zu den eigenen Eltern haben?

Das zuvor beschriebene Phänomen hat nun einen Namen; „Sharenting“. Es setzt sich aus dem englischen Wort „Parenting“ (frei übersetzt „die Elternschaft“) und dem Verb „to share“ (deutsch: teilen). Häufig wird dabei laut der Studie „Kinder. Bilder. Rechte. “ der Universität Köln, Deutsches Hilfswerk, die Einwilligung der Kinder nicht eingeholt, obwohl die Eltern selbst angaben, sich im Umgang mit digitalen Diensten häufig unsicher zu fühlen. Durch die immer größeren Möglichkeiten der Bildbearbeitung durch Künstliche Intelligenz reicht ein simples Unkenntlichmachen des Gesichts nicht mehr aus, um den Kinderschutz zu gewährleisten. Es scheint ein leichtes zu sein, auch harmlos wirkenden Fotos herunterzuladen, zu verändern und für andere Zwecke zu verwenden.

Eine Aktionswoche auf Social Media # KindersindkeinContent von Klicksafe, Schau hin, Gutes Aufwachsen mit Medien, der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz sowie der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs startete vor Ferienbeginn am 23.06.2025. Ziel der Kampagne war es, Erziehende dafür zu sensibilisieren, die Aufnahmen Ihrer Kinder nicht leichtfertig und unüberlegt zu teilen und die Rechte Ihrer Kinder zu wahren. Auch der Gefährdungsatlas der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz   erklärt die Staatliche Pflicht zum Schutz vor Beeinträchtigung oder Gefährdung der Persönlichkeitsentwicklung. Mit Hinblick auf Kinder und Jugendliche geht das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass der 2.Artikel, Absatz 1 in Verbindung mit dem 1.Artikel, Absatz 1 aus dem Grundgesetzbuch auch eine entfaltungsbezogene Garantie umfasst. Das bisher erarbeitete Persönlichkeitsrecht Erwachsener Menschen setzt die Annahme voraus, dass stabile Eigenschaften bereits über einen längeren Zeitraum bestehen. In Hinblick auf Kinder und Heranwachsende muss erwähnt werden, dass die angeborenen Persönlichkeitseigenschaften nach einer ersten Phase instinktiv,- reflex- und triebgesteuerter Verhaltensweisen überlagert und durch individuelle Persönlichkeitsstrukturen mit ganz eigene Handlungsmustern und Wertvorstellungen, erst im zunehmenden Alter stabilisiert. (Greve /Thomsen 2019, S.163) Der Staatliche Schutzauftrag ist vorrangig ein prozessbezogener Schutz, an dessen Ende ein aus Sicht der Verfassung mündiger Teil der Gesellschaft entsteht. Der Kern des Schutzauftrags ist die Abwendung von Fehlentwicklungen und Beeinträchtigungen. (Dreyer 2018a, S.347 ff.) Dort wo Eltern Ihre Kinder nicht mehr fremdnützig im Interesse deren unbeeinträchtigter Persönlichkeitsentwicklung pflegen und erziehen, oder aber diesen Prozess gefährden, wird eine Auffangfunktion des Staates durch die Übernahme der Elterlichen Verantwortung aktiviert.

Welche Auswirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung hat das Leben vor der Kamera für Kinder?

Neben den rechtlichen Rahmenbedingungen des Kinderschutzes sind auch die Entwicklungspsychologischen Auswirkungen des Aufwachsens unter der ständigen medialen Beobachtung zu erwähnen. Was das Kindesalter so absolut schützenswert macht, ist die Tatsache, dass Kinder kognitiv und entwicklungspsychologisch noch nicht in der Lage sind, weitreichende Folgen Ihres Verhaltens oder des Verhaltens anderer in Gänze zu verstehen oder abzuwägen. Auf Grund dessen muss festgehalten werden, dass die Zustimmung eines kleinen Kindes zur Veröffentlichung eigener Bilder oder Filme aus dem persönlichen Leben keine Relevanz hat, wenn sie überhaupt erfolgt. Vor allem im jungen Kindesalter sind Kinder entwicklungspsychologisch absolut auf die Verlässlichkeit der Bezugspersonen angewiesen, sodass die individuellen Bedürfnisse altersentsprechend rasch erfüllt werden. In der sehr frühen Kindheit, etwa zwischen zwei und vier Jahren entwickelt sich das Selbstwertgefühl zunächst vorrangig durch beobachtetes Verhalten. Da allerdings auch Kinder in den sozialen Netzwerken Bewertungen durch Kommentare und Likes ausgesetzt sind, stellt sich die Frage, wie ein gesundes Selbstwertgefühl überhaupt ausbildet – und wie störanfällig dieser Prozess unter Bedingungen medialer Sichtbarkeit sein kann. (Harter 2012, S. 35) Im Zusammenhang mit der immer größer werdenden digitalen Sichtbarkeit, verlieren Kinder zunehmend den Anspruch auf private Rückzugsräume. Rückzugsräume wie das eigene Kinderzimmer, die traditionell als Orte der Intimität und Selbstentfaltung gelten, werden durch die ständige mediale Präsenz zum öffentlich einsehbaren Schauplatz. (Meergans 2019, S.7) So werden Eltern nicht nur zur wichtigsten Bezugsperson in der prägendsten Phase des Lebens, sondern auch zu Arbeitgebern von unfreiwillig mitwirkenden Akteuren in einer Neuen Dimension der Arbeit: der Welt der sozialen Netzwerke und Kinderbasierter Content.

„Die Eltern sind nicht nur Produzenten, sondern auch die Profil- bzw. Kanalbetreiber, Motivatoren und zentralen Bezugspersonen.“ (Rosenstock 2019,S.18)

Literaturverzeichnis:

Grewe, Werner /Thomsen, Tamara (2019). Entwicklungspsychologie. Eine Einführung in die Erklärung menschlicher Entwicklung. Wiesbaden: Springer.

Dreyer, Stephan (2018a). Entscheidungen unter Ungewissheit im Jugendmedienschutz. Untersuchung der spielraumprägenden Faktoren gesetzgeberischer und behördlicher Entscheidungen mit Wissensdefiziten. Baden-Baden: Nomos (Dissertation).

Harter, Susan (2012): The construction oft he self. Developmental and sociocuktural foundations. Unter Mitarbeit von William M. Bukowski. 2.ed. New Yoirk, NY: Guilford Press.

Meergans, Luise (2019): Spielst du noch oder arbeitest du schon? Ein kinderrechtlicher Beitrag zur Debatte um Kinder- Influencerinnen und -Influencer. Unter Mitarbeit von Sophie Pohle und Silvia Kohn. In: Deutsches Kinderhilfswerk e.V. (DKHW) (hg.): Zwischen Spielzeug, Kamera und YouTube. Wenn Kinder zu Influencern (gemacht) werden. DOSSIER. Unter Mitarbeit von Sophie Pohle und Silvia Kohn. Berlin, S.5-11.

Rosenstock, Roland (2019): Die Würde des Kindes ist unantastbar. Das Phänomen der Kinder- Influencer/innen aus (kinder)ethischer Perspektive. Unter Mitarbeit von Sophie Pohle und Silvia Kohn. In: Deutsches Kinderhilfswerk e.V. (DKHW) (Hg.): Zwischen Spielzeug, Kameras und YouTube. Wenn Kinder zu Influencern (gemacht) werden. DOSSIER. Unter Mitarbeit von Sophie Pohle und Sylvia Kohn. Berlin, S. 17-22.

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