By Published On: 30. Januar 2023Categories: Pädagogik, Psychologie

Fallbeispiel: In einem psychologischen Zentrum erzählt ein elfjähriger Junge namens M. voller Stolz und Verachtung, dass vor kurzem ein Kind in seiner Schule die Stufen hinuntergestürzt sei und er es daraufhin ausgelacht, verspottet und angespuckt habe. Auf die Aufforderung, sich in die Lage des betroffenen Kindes hineinzuversetzen bzw. auf die Frage, ob er sich in einer ähnlichen Situation Hilfe von anderen Kindern wünschen würde, reagiert er überhaupt nicht. M. wirkt selbstgefällig, und der Stolz über sein Verhalten untergräbt alle Versuche, ihm Empathie verständlich zu machen.

Kinder und Jugendliche wie M. haben es besonders schwer, denn sie sind emotional selbst nicht fest angebunden und erleben sich als unaushaltbar. M. wird zwar im System gesehen, mit seinen realen Bedürfnissen und Schwierigkeiten bleibt er aber unsichtbar (Fickler-Stang 2019, S. 9). Laut Benecken (2014) ist eine psychotherapeutische Behandlung älterer „Kinder, die hassen“, also jene mit einer Störung des Sozialverhaltens (bei einer entsprechenden Sozialanamnese) in der Regel nicht indiziert oder sogar kontraindiziert (S. 17). Was also tun mit Kindern, die so sehr hassen?

Hilft Kindern mit einer Störung des Sozialverhaltens nur die Prävention?

Und was, wenn es dafür schon zu spät ist? Laut Görtz-Dorten (2020) können wir aufatmen: Kontraindikationen für die Behandlung von oppositionellen, aggressiven und dissozialen Verhaltensstörungen liegen ihrzufolge nicht vor. Allerdings können solche Interventionen bei nicht sachgerechter Durchführung Nebenwirkungen haben. Sie nennt dafür beispielsweise Überforderung, wenn die kognitiven Voraussetzungen bei Patient*innen oder Bezugspersonen nicht (hinreichend) vorhanden sind. Auch Pessimismus und Selbstabwertung könnten gefördert werden, wenn wenige oder gar keine effektiven Problemlösestrategien angesprochen oder positiv verstärkt werden (S. 227).

Es gibt also Hoffnung auf Besserung – vorausgesetzt, man macht es richtig!

Wussten Sie beispielsweise, dass die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT), die ursprünglich ausschließlich zur Behandlung von Borderline-Patient*innen vorgesehen war, auch vielversprechend für die Behandlung von aggressiven Verhaltensstörungen ist? Allerdings sind die Befunde über die Wirksamkeit der DBT in Bezug auf aggressive Verhaltensstörungen im Vergleich zu klassischen Behandlungsverfahren weitaus geringer (Stadler 2016, S. 444).

Was sind denn die klassischen Behandlungsverfahren? Bevor wir diese Fragen diskutieren, werfen wir einen Blick auf die Merkmale dieser psychischen Störung.

Merkmale der dissozialen Verhaltensstörung mit eingeschränkten prosozialen Emotionen

Laut Görtz-Dorten (2021) wurden die Störungen des Sozialverhaltens in der ICD-10 in der Kategorie „F9 Störungen mit Beginn in Kindheit und Jugend“ eingeordnet, während sie in der ICD-11 in einem eigenen Bereich „Disruptive and dissocial disorders“ (Disruptive und dissoziale Störungen) zusammengefasst sind (S. 494). Mittlerweile heißt die Kategorie „Disruptive behaviour or dissocial disorders“ (Störendes Verhalten oder dissoziale Störungen) und enthält drei Unterkategorien, auf die jeweils die Spezifizierungen „mit eingeschränkten prosozialen Emotionen“ oder „mit typischen prosozialen Emotionen“ angewendet werden können. Der Junge in unserem Fallbeispiel hat eine „6C91.00 Dissoziale Verhaltensstörung, Beginn in der Kindheit mit eingeschränkten prosozialen Emotionen“ und erfüllt damit alle Definitionsanforderungen für eine dissoziale Verhaltensstörung, die in der Kindheit auftritt. Darüber hinaus weist er Merkmale auf, die manchmal als „gefühllos und emotionslos“ bezeichnet werden. Zu diesen Merkmalen gehören ein Mangel an Einfühlungsvermögen oder Sensibilität für die Gefühle anderer und ein Mangel an Sorge um die Notlage anderer, ein Mangel an Reue, Scham oder Schuldgefühlen über das eigene Verhalten (es sei denn, es wird durch eine Festnahme ausgelöst), eine relative Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrscheinlichkeit einer Bestrafung, ein Mangel an Sorge über schlechte Leistungen in der Schule oder bei der Arbeit und ein begrenzter Ausdruck von Emotionen, insbesondere von positiven oder liebevollen Gefühlen gegenüber anderen, oder nur in einer Weise, die oberflächlich, unaufrichtig oder instrumentell erscheint (World Health Organization 2022).

Evidenzbasierte Behandlungsverfahren schließen immer die wichtigen Elterntrainings mit ein

Görtz-Dorten (2020) weist zur Behandlung von oppositionellen, aggressiven und dissozialen Verhaltensstörungen auf die Leitlinien hin, die ein multimodales Vorgehen fordern, das dem Konzept einer evidenzbasierten Therapie folgt und patienten-, familien-, kindergarten- bzw. schulzentriert, und falls erforderlich, auch gleichaltrigenzentrierte Interventionen umfasst. Da es den Betroffenen peinlich sein kann, wenn sie während der Therapie auch mit ihren Schwächen konfrontiert werden, können initiale Motivationsprobleme und Widerstände entstehen. Das kann dazu führen, dass es ihnen schwerfällt, sich in der Therapie zu öffnen. Sie können großes Misstrauen zeigen, dem Therapeuten verweigernd begegnen oder die Ursachen für Konflikte stark externalisieren. In manchen Systemen sind die Kinder extrem mächtig, und die Bezugspersonen haben es bereits aufgegeben ihnen Grenzen zu setzen (S. 227). Daher wird der Fokus in der Therapie stärker auf vermutlich relevante störungsaufrechterhaltende Faktoren gelenkt, die zielgenaue Interventionen ermöglichen. Elterntrainings werden bei Kindern mit mangelnden prosozialen Emotionen besonders bedeutsame Effekte zugeschrieben. Elterntrainings, die Module enthalten, die an der Förderung positiver, warmherziger Eltern-Kind-Beziehungen ansetzen, sind am effektivsten, während Module, die über negative Konsequenzen eine Verhaltensänderung bewirken sollen, geringe Wirksamkeit zeigen (Görtz-Dorten 2021, S. 497).

Eine Studie von Laezer (2021) untersucht die Wirksamkeit psychoanalytischer Behandlungen ohne Medikation im Vergleich zu verhaltenstherapeutischen Behandlungen mit und ohne Medikation bei Kindern im Alter zwischen 6 und 11 Jahren mit der Diagnose ADHS und/oder Störung des Sozialverhaltens. Dabei wurde die eine Gruppe mit dem Manual zur psychoanalytisch-psychotherapeutischen Behandlung bei Kindern mit psychosozialen Integrationsproblemen, insbesondere HKS/ADHS, und die andere mit dem Verhaltenstherapeutischen Intensivprogramm zur Reduktion von Aggression (VIA) behandelt. Letzteres ist ein multimodales Training im tagesklinischen Setting für Kinder und Jugendliche mit einem impulsiv aggressiven Verhalten. Adäquate Verhaltensweisen werden in verschiedenen Modulen erlernt und im Gruppenkontext geübt. Das Programm zielt auf eine verbesserte Emotionsregulation, Selbstkontrolle und soziale Kompetenz der Kinder ab. Auch hier wird begleitend ein Elterntraining durchgeführt, dessen Schwerpunkt auf der Anwendung spezifischer Verstärkerstrategien und einer positiveren Wahrnehmung und Wertschätzung des Kindes liegt. Die Ergebnisse der Studie zeigen eine hoch signifikante Reduktion der Symptome der Störung des Sozialverhaltens, sowohl bei den psychoanalytisch behandelten, als auch bei den verhaltenstherapeutisch behandelten Kindern (S. 509).

Fazit

Kinder, die hassen, können die Diagnose „6C91.00 Dissoziale Verhaltensstörung, Beginn in der Kindheit mit eingeschränkten prosozialen Emotionen“ haben. Eine Psychotherapie ist entgegen manchen konträren Meinungen, sehr wohl indiziert und wirksam. Neben der DBT, die in erster Linie für die Behandlung von Borderline-Patient*innen entwickelt wurde, weisen erfolgreichere evidenzbasierte Therapien, ein multimodales Vorgehen auf. Psychoanalytische und verhaltenstherapeutische Maßnahmen zeigen gleichermaßen eine signifikante Reduktion der Symptome. Bei jeder Form der Behandlung einer Störung des Sozialverhaltens sind Elterntrainings von wesentlicher Bedeutung. Die Interventionen müssen sachgerecht durchgeführt werden, um Nebenwirkungen wie z. B. Pessimismus und Selbstabwertung zu vermeiden.

Literatur:

Benecken, Jürgen (2014): Kinder, die hassen“ im Kontext von Psychotherapie und Pädagogik. In: Inés Brock (Hg.): Psychotherapie und Empowerment. Impulse für die psychosoziale Praxis. Opladen, Berlin: Budrich, 81.

Fickler-Stang, Ulrike (2019): Dissoziale Kinder und Jugendliche – unverstanden und unverstehbar? : frühe Beiträge der Psychoanalytischen Pädagogik und ihre aktuelle Bedeutung. Unter Mitarbeit von Psychosozial-Verlag. Originalausgabe. Gießen: Psychosozial-Verlag (Psychoanalytische Pädagogik / Band 50). Online verfügbar unter https://ubdata.univie.ac.at/AC15541061.

Görtz-Dorten, Anja (2020): Oppositionelle und aggressiv-dissoziale Störungen. In: Manfred Döpfner, Martin Hautzinger und Michael Linden (Hg.): Verhaltenstherapiemanual: Kinder und Jugendliche. 1. Auflage 2020. Berlin: Springer Berlin; Springer (Psychotherapie: Praxis), S. 225–228.

Görtz-Dorten, Anja (2021): Störungen mit oppositionellem und trotzigem Verhalten und dissoziale Verhaltensstörungen. In: Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 49 (6), S. 494–498.

Laezer, Katrin Luise (2021): Psychoanalytische Behandlungen ohne Medikation und verhaltenstherapeutische Behandlungen mit und ohne Medikation von Kindern mit der Diagnose ADHS und/oder Störung des Sozialverhaltens. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie 70 (6), S. 499–519.

Stadler, Christina (2016): Dialektisch-behaviorale Behandlungsansätze bei aggressiven Verhaltensstörungen. In: Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie 44 (6), S. 443–454.

World Health Organization (2022): ICD 11. Online verfügbar unter https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http%3a%2f%2fid.who.int%2ficd%2fentity%2f467941148.

Quellenangabe:

Adobe Stock, #119947049, Angry male child posing pensively in dark room, Von Jan H. Andersen

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