By Published On: 2. September 2025Categories: Literaturempfehlungen, Pädagogik, Soziales, Wirtschaft

Während die deutsche Politik über Rente und Migration debattiert, gerät eine Gruppe zunehmend aus dem Blick: die Kinder. Was passiert, wenn eine Gesellschaft altert und die junge Generation zur Minderheit wird? Der Soziologe Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier liefern in ihrem für den Deutschen Sachbuchpreis 2025 nominierten Werk „Kinder – Minderheit ohne Schutz“ eine unbequeme Antwort auf diese Frage. Sie zeigen auf, wie demografischer Wandel und gesellschaftliche Krisen eine ganze Generation strukturell benachteiligen. Ihr Buch ist mehr als eine Problemdiagnose – es ist ein dringlicher Appell für ein Umdenken, bevor es zu spät ist und somit ein absolutes Muss für Fachkräfte und politische Entscheidungsträger*innen.


Zentrale Themen und inhaltliche Schwerpunkte

Der demografische Wandel als Ausgangspunkt

El-Mafaalani und seine Ko-Autoren analysieren zunächst die demografischen Grundlagen: Deutschland steht am Wendepunkt, an dem die geburtenstarken Jahrgänge ins Rentenalter kommen, während gleichzeitig immer weniger Kinder geboren werden. Diese Verschiebung hat zur Folge, dass Kinder und Jugendliche nicht nur numerisch zur Minderheit werden, sondern auch politisch und gesellschaftlich marginalisiert sind. Die junge Generation ist „eine Minderheit, deren Lebensrealität geprägt ist von Bildungsungleichheit, Dauerkrisen und dem stetigen Gefühl, politisch und gesellschaftlich übersehen zu werden“.

Superdiversität und die Fragmentierung der Kindheit

Ein zentrales Konzept des Buches ist die „Superdiversität“ – die Tatsache, dass Kinder aus sehr unterschiedlichen sozialen, kulturellen und ökonomischen Verhältnissen kommen. Die Autoren zeigen auf, wie sich Kindheiten in Deutschland dramatisch auseinanderentwickeln: Während einige Kinder in stabilen, gut versorgten Lebenswelten aufwachsen, fehlt es anderen an allem. Diese Ungleichheit wird durch bestehende Systeme nicht nur reproduziert, sondern sogar verstärkt.

Bildungsungleichheit als Kernproblem

Das Buch widmet sich ausführlich der systematischen Benachteiligung im Bildungssystem. Die Autoren decken auf, wie strukturelle Defizite dazu führen, dass Bildungschancen ungleich verteilt sind und diese Ungleichheit über Generationen hinweg verfestigt wird. Dabei wird deutlich, dass die „Unreformierbarkeit des Bildungssystems“ ein zentrales Hindernis für Chancengerechtigkeit darstellt.

Der Krisenzustand als Normalität

Eine besonders beunruhigende These des Buches ist, dass „für Kinder und Jugendliche der Krisenzustand zum Normalzustand geworden“ ist. Die Autoren argumentieren, dass junge Menschen permanent mit multiplen Krisen konfrontiert sind – von Klimawandel über politische Instabilität bis hin zu sozialer Unsicherheit – ohne dass die Gesellschaft angemessen darauf reagiert.

Politische Machtlosigkeit der jungen Generation

Das Werk analysiert die strukturellen Gründe für die politische Marginalisierung von Kindern und Jugendlichen. Politisches Handeln ist zunehmend auf die Bedürfnisse der älteren Generation zugeschnitten, während Kinder oft einfach mitlaufen müssen. Die „fehlende Lobby für Kinder“ wird als systemisches Problem identifiziert, das durch demografische Verschiebungen noch verschärft wird.

Die Interdependenz von Generationengerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit

Ein wichtiger Aspekt ist die Erkenntnis, dass die Benachteiligung von Kindern nicht nur ein moralisches Problem darstellt, sondern die Zukunftsfähigkeit der gesamten Gesellschaft gefährdet. Die Autoren argumentieren, dass von einer kindergerechteren Gesellschaft auch die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft abhängt.

Konkrete Lösungsansätze und Reformvorschläge

Trotz der düsteren Diagnose entwickeln die Autoren konkrete und teilweise radikale Handlungsansätze. Das zentrale Argument lautet: Kinder müssen „aus ihrer Außenseiterposition ins Zentrum gerückt werden, nicht nur als moralische Verpflichtung, sondern als essenzielle Notwendigkeit für eine lebenswerte Zukunft“.

Mobilisierung von Rentner*innen

Ein besonders innovativer Vorschlag ist die systematische Einbindung der Rentner*innen in das Bildungssystem. Die Autoren schlagen vor, Babyboomer bei Renteneintritt zu verpflichten, mindestens ein Jahr in Bildungseinrichtungen zu arbeiten – bezahlt und strukturiert. Sollten nur 10% der Rentner dieser Verpflichtung nachkommen, könnte man die Zahl der in den Einrichtungen tätigen Erwachsenen mit einem Schlag verdoppeln. Darüber hinaus plädieren sie dafür, Anreize für Lehrkräfte und Pädagogen zu schaffen, damit sie auch im Rentenalter weiterarbeiten, und alle anderen als Lesepaten, Mentorinnen oder für Bastelkurse zu gewinnen. Die Autoren entwickeln ein Konzept der aktiven Generationensolidarität, bei dem die älteren Jahrgänge bewusst Verantwortung für die junge Generation übernehmen. Dies soll über ehrenamtliches Engagement hinausgehen und strukturell verankert werden.

Strukturelle Bildungsreformen

Die Autoren fordern massive Investitionen in die frühkindliche Bildung. Kita und Grundschule funktionieren derzeit nicht, wie sie sollten. Die Konsequenzen der Versäumnisse dort sind weitreichend: Was in Kita und Grundschule nicht erreicht wird, können die weiterführenden Schulen kaum ausgleichen. Ihre Forderung: Ein Sondervermögen Bildung als Signal ans ganze System. Darüber hinaus fordern sie einen besonderen Fokus auf Orte, an denen besonders viele benachteiligte Kinder leben. Dort müssen die besten Kitas und Grundschulen stehen, um mit kleinen Gruppen, dem kompetentesten Personal und einer ausgeklügelten Sprachförderung den Herausforderungen frühzeitig zu begegnen und Chancengleichheit zu schaffen.

Funktionswandel der Bildungseinrichtungen

Die Autoren erkennen an, dass Bildungseinrichtungen heute viel mehr Aufgaben erfüllen müssen als jemals zuvor und sich um Bereiche wie Gesundheit und Ernährung kümmern müssen. Daraus leiten sie ab, dass Bildungseinrichtungen zu echten Lebensorten werden müssen, die Partizipation ermöglichen und die Würde von Kindern als Grundprinzip begreifen. Hierfür sprechen sich El-Mafaalani und seine Ko-Autoren für breit aufgestellte „multiprofessionelle Teams“ in KiTa und Grundschule aus, die auch das Ehrenamt und die intensive Vernetzung mit externen Organisationen wie Sportvereinen oder Musikschulen umfassen. Darüber hinaus müssen einzelne Bildungssysteme besser zusammenarbeiten und aufeinander vorbereiten.

Kritische Einordnung

Die im Buch vorgenommene soziologische Analyse des gesellschaftlichen Wandels überzeugt durch ihre empirische Fundierung: Statistische Daten werden geschickt mit gesellschaftstheoretischen Überlegungen verknüpft. Besonders eindrücklich ist die Darstellung des demografischen Wandels – beispielsweise die Tatsache, dass 2024 doppelt so viele Menschen ihren 60. Geburtstag feierten, wie Kinder geboren wurden. Die Autoren kombinieren quantitative Datenanalyse mit qualitativen Beobachtungen zur Lebenssituation von Kindern und entwickeln daraus eine kohärente Gesellschaftstheorie der Generationenungerechtigkeit.

Trotz wissenschaftlicher Präzision bleibt das Buch dabei zugänglich und beschränkt sich nicht auf die Problemdiagnose, sondern entwickelt konkrete Handlungsansätze. Die Analyse trifft absolut den Nerv der Zeit und bietet wichtige Impulse für aktuelle bildungs- und sozialpolitische Debatten.

Während die Problemanalyse überzeugend ist, bleiben manche Lösungsvorschläge diskussionswürdig. Die vorgeschlagenen strukturellen Reformen sind ambitioniert – ihre Umsetzbarkeit in der politischen Praxis bleibt fraglich.

Fazit

Das Werk präsentiert eine schonungslose Analyse der demografischen Realitäten: „Die alternde Gesellschaft ist weder kindergerecht noch ist sie gerecht zu Kindern“. „Kinder – Minderheit ohne Schutz“ ist ein wichtiger Beitrag zur gesellschaftspolitischen Debatte, der überfällige Fragen zur Generationengerechtigkeit aufwirft. Die Kombination aus fundierter Analyse und appellativer Dringlichkeit macht das Buch zu einer wertvollen Lektüre für alle, die sich mit der Zukunft unserer Gesellschaft auseinandersetzen. Die Nominierung für den Deutschen Sachbuchpreis unterstreicht die wissenschaftliche Qualität und gesellschaftliche Relevanz des Werkes.

Quellen

Deutscher Sachbuchpreis Blog (2025), Kinder – Minderheit ohne Schutz, https://www.deutscher-sachbuchpreis.de/aktuelles-jahr/2025/kinder-minderheit-ohne-schutz, abgerufen am 11.8.2025.

El-Mafaalani, A./Kurtenbach, S./Strohmeier K. P. (2025), Kinder – Minderheit ohne Schutz: Aufwachsen in der alternden Gesellschaft, Kiepenheuer & Witsch.

Fluter magazin (2025), Die Schule ist keine Verwahranstalt. Da findet Kindheit statt, https://www.fluter.de/aladin-el-mafaalani-schule-interview, abgerufen am 11.8.2025.

Titelbildquelle

Grey, A. (2018), Kinder Mehrfarbige Handfarbe, abgerufen am 2.9.2025 von Pexels: https://www.pexels.com/de-de/foto/kinder-mehrfarbige-handfarbe-1148998/.

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