In den sozialen Medien begegnen einem zunehmend Accounts, auf denen Eltern über das Leben mit ihren Kindern mit Behinderung berichten. Oft mit dem genannten Ziel, „Aufklärung zu leisten“, die eigene Geschichte zu teilen oder Spenden zu sammeln. Doch zwischen authentischer Sichtbarkeit und fragwürdiger Selbstdarstellung verläuft ein schmaler Grat. Besonders problematisch wird es dann, wenn intime Einblicke in das Leben von Kindern mit Behinderung zur Selbstinszenierung und zum Marketinginstrument werden. Die Frage stellt sich, wo die digitale Teilhabe endet, und wo digitale Ausbeutung beginnt.

Zwischen Sichtbarkeit und Selbstdarstellung

Bilder von Kindern mit Down-Syndrom, Alltagsszenen mit Epilepsie, Reels über den Pflegeaufwand oder emotionale Clips aus dem Krankenhaus. Derartige Inhalte gehen oft viral. Viele dieser Beiträge erzeugen hohe Reichweiten, Kommentare voller Mitgefühl oder Bewunderung, Likes in fünfstelliger Zahl. InfluencerInnen berichten über ein „besonderes Familienleben“, teilen Therapieerfolge und fordern Inklusion. In vielen Fällen mag dies zum Ziel sein, Barrieren abzubauen, Vorurteile zu entkräften und Gemeinschaft zu stiften.

Doch genau hier wird es kritisch. Wenn der Content primär auf Reichweite, Klickzahlen oder gar bezahlte Kooperationen abzielt, geraten die Rechte und das Wohl der betroffenen Kinder leicht aus dem Blick. (Vgl. Kutscher et al. 2020, S. 11) In diesen Fällen geht es nicht mehr um Aufklärung oder Teilhabe, sondern um Aufmerksamkeit und monetären Nutzen. Laut einer Einschätzung von Humanium könnten bis 2030 über 66 % der Fälle von Identitätsdiebstahl auf sogenanntes Sharenting zurückzuführen sein (Cordeiro 2021 Zugriff am 14.05.2025), das öffentliche Teilen von Kinderbildern durch Eltern im Netz.

Kinderrechte in der digitalen Öffentlichkeit

Minderjährige können grundsätzlich nicht selbst entscheiden, ob sie im Netz sichtbar sein wollen. Das gilt erst recht für Kinder mit geistigen oder mehrfachen Behinderungen. Während ein nicht-behindertes Kind zumindest in gewissem Alter ein Verständnis für digitale Öffentlichkeit entwickeln kann, fehlt diese Fähigkeit bei dieser Personengruppe ggf. völlig. Ihre Eltern treffen eine Entscheidung, die langfristige Folgen haben kann, wenn Bilder, Videos und Aussagen, im Netz dauerhaft auffindbar bleiben. (Vgl. Kutscher und Bouillon 2018) Das „Recht am eigenen Bild“ ist im deutschen Recht klar geregelt (Bundesministerium der Justiz), doch in der Praxis wird es in sozialen Medien oft missachtet. Besonders problematisch ist das, wenn intime oder peinliche Situationen gezeigt werden wie Windelwechsel, Wutausbrüche, medizinische Eingriffe oder emotionale Krisen. Laut einer Studie von klicksafe gaben 9 % der befragten Kinder an, dass ihre Eltern Inhalte über sie ohne Einverständnis veröffentlicht haben; 6 % fühlten sich dadurch bloßgestellt oder verletzt. (klicksafe.de 2022)

Digitale Teilhabe für Kinder mit Behinderung

Es wäre zu einfach, Social Media pauschal zu verurteilen. Sichtbarkeit kann auch für Kinder mit Behinderung empowernd sein. Es gibt Accounts, die sensibel und respektvoll zeigen, wie vielfältig Leben mit Behinderung sein kann. Wichtig ist jedoch, wer die Kontrolle über die Inhalte hat und mit welchem Ziel diese Inhalte veröffentlicht werden.

Digitale Teilhabe bedeutet nicht nur, sichtbar zu sein, sondern auch, Kontrolle über die eigene Darstellung zu haben. Und genau das fehlt Kindern, deren Leben durch die Accounts ihrer Eltern dauerhaft öffentlich ist.  In dieser Hinsicht sind sie keine Subjekte der Teilhabe, sondern werden zu Objekten digitaler Kommunikation. Die Erziehungswissenschaftlerin Nadia Kutscher betont, dass Kinder oft eine deutlich sensiblere Einschätzung gegenüber der Verbreitung ihrer Daten haben als ihre Eltern. (Vgl. Kutscher et al. 2020, S. 348-350)

Ethische Verantwortung und Handlungsbedarf

Die Diskussion um sogenanntes „Sharenting“ (von engl. share + parenting) betrifft alle Eltern. Bei Kindern mit Behinderung kommt eine besondere Schutzbedürftigkeit hinzu. Medienethisch ist klar, dass die Würde des Kindes Vorrang vor den Interessen der Eltern haben muss, auch wenn diese vordergründig Gutes wollen. (Vgl. Kutscher et al. 2020, S. 587f)

Laut Humanium existieren kaum wirksame Schutzmechanismen, um die dauerhafte Verfügbarkeit sensibler Inhalte über Kinder einzuschränken. Plattformen wie Instagram oder TikTok könnten insbesondere bei monetarisierten Accounts Inhalte mit Kindern grundsätzlich stärker reglementieren. (Cordeiro 2021 Zugriff am 14.05.2025) Auch Fachkräfte im Bereich Frühförderung oder Eingliederungshilfe können hier unterstützend wirken, indem sie Eltern für Fragen der digitalen Selbstbestimmung und Persönlichkeitsrechte sensibilisieren.

Fazit

Das Leben mit einem Kind mit Behinderung ist oft geprägt von Herausforderungen, aber auch von großen Momenten der Nähe und des Stolzes. Es ist verständlich, dass Eltern dies teilen möchten. Doch digitale Teilhabe darf nicht zur Einbahnstraße werden, in der das Kind zur Projektionsfläche elterlicher Narrative oder gar zur Marke wird. Kinder mit Behinderung brauchen auch im Netz Schutz. Und sie brauchen vor allem eines. Das Recht, selbst zu entscheiden, wie sie gesehen werden wollen.

Literatur

Cordeiro, V. C. (2021): Kinderrechte und digitale Technologien. Die Privatsphäre von Kindern im Zeitalter der sozialen Medien – Die Gefahren des „Sharenting – Humanium. Online verfügbar unter https://www.humanium.org/de/kinderrechte-und-digitale-technologien-die-privatsphaere-von-kindern-im-zeitalter-der-sozialen-medien-die-gefahren-des-sharenting/?, zuletzt aktualisiert am 26.01.2021, zuletzt geprüft am 14.05.2025.

klicksafe.de (Hg.) (2022): Kinderbilder im Netz. problematische Aspekte des „Sharenting&quot. Online verfügbar unter https://www.klicksafe.de/news/kinderbilder-im-netz-problematische-aspekte-des-sharenting?, zuletzt aktualisiert am 22.03.2022, zuletzt geprüft am 14.05.2025.

Kutscher, N.; Bouillon, R. (2018): Kinder. Bilder. Rechte. Persönlichkeitsrechte von Kindern im Kontext der digitalen Mediennutzung in der Familie (4). Online verfügbar unter https://www.dkhw.de/filestorage/1_Informieren/1.1_Unsere_Themen/Kinder_und_Medien/Studien/DKHW_Schriftenreihe_4_KinderBilderRechte.pdf, zuletzt geprüft am 14.05.2025. Kutscher, N.; Ley, T.; Seelmeyer, U.; Siller, F.; Tillmann, A.; Zorn, I. (Hg.) (2020): Handbuch Soziale Arbeit und Digitalisierung. Juventa Verlag. 1. Auflage. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

Bildquelle

love-1833160_1280 von johnhain über Pixabay online verfügbar unter: https://pixabay.com/de/illustrations/liebe-liebend-me-kind-hoffnung-1833160/ Aufruf am 19.06.2025

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