Einführung
Jeder Mensch kennt Situationen, in denen man sich einfach nur tieftraurig fühlt. Sei es nach dem Aus einer Beziehung, dem Verlust eines geliebten Menschen, eventuell auch das Nichtbestehen einer Prüfung, Mobbing am Arbeitsplatz…es gibt unzählige Gründe. Viele werden sich dann zurückziehen, versuchen die Situation erfassen und zum Beispiel auch Musik hören. In den allermeisten Fällen wird die Person versuchen, die negative Emotion der Traurigkeit loszuwerden – sie wird aversiv empfunden und soll nicht lange erlebt werden. Dennoch gibt es seit Jahrtausenden traurige Musik, Tragödien im Schauspiel mit dramatischen Enden und Literatur mit ähnlichem Inhalt. Wieso werden diese Werke dann absichtlich erlebt und scheinbar sogar genossen oder zumindest als angenehm empfunden? Lässt sich diese zunächst unlogisch erscheinende Verknüpfung beweisen und wie kann sie erklärt werden?
Begrifflichkeiten
Zunächst zu einer kurzen Grundlagenauffrischung und Begriffsabgrenzung: Emotionen sind Reaktionen auf Umweltreize und bestehen aus diversen Faktoren, dazu zählen z.B. kognitive Bewertung und körperliche Reaktion. Sie können als Prozessmodell aus Reiz, kognitiver Bewertung, Handlungstendenz, physiologischer Reaktion, körperlicher Reaktion (z.B. Gesichtsausdruck) und erlebtem Gefühl gesehen werden (Juslin & Laukka, 2004, S. 1; Scherer & Moors, 2019, S. 36). Stimmungen sind dagegen Gefühlszustände, die üblicherweise länger andauernd sind und keine direkte und erkennbare Verknüpfung zum Auslöser haben müssen (Neumann, 2022). Wir müssen zwischen diesen beiden psychologischen Phänomenen klar unterscheiden, vor allem weil die Emotion auch nur sehr kurzzeitig sein kann. Sie hat immer einen Auslöser, das heißt die Musik oder das Schauspiel könnte als solcher unmittelbar fungieren. Hat ein Werk also eine negative Handlung oder wirkt durch ihren Charakter traurig, so könnte sie Traurigkeit als Emotion auslösen.
Die Tragödie als Paradoxon
Schauspiel, Musik oder Literatur sind Kunstformen. Dies könnte in unmittelbarer Verbindung mit der als angenehm empfundenen Wirkung zu stehen. Der Schlüssel ist das Konzept der Ästhetik.
Das Empfinden von Ästhetik
Ein Werk kann als ästhetisch empfunden werden, wenn es einen passenden Reiz ausgibt und eine passende Umgebung umgibt. Eine solche Umgebung kann z.B. auch ein „iPod“ sein, also das Hören von Musik in diesem Sinne ist nicht auf einen prunkvollen Konzertsaal beschränkt. Die empfundene Ästhetik schließen insbesondere Reize aus, die als unangenehm empfunden werden oder als zwangsläufig notwendig gelten, wie alltägliche Tätigkeiten. Empfindet eine Person ein Musikstück außerdem einfach als „schlecht“, dann wird es niemals in diesem Kontext wirken können. Es lassen sich also keine universal gültigen Kriterien dafür aufstellen, ob etwas ästhetisch ist oder nicht. Die subjektive Entscheidung darüber ist ein Zusammenspiel aus Umweltreizen und persönlicher emotionaler Bewertung (Schubert, 2016, S. 3–4; Xenakis & Arnellos, 2014, S. 11). Es lassen sich sieben Determinanten aufstellen, wie die kognitive Bewertung einer Sache als ästhetisch oder nicht ablaufen könnte: (Jacobsen, 2006, S. 157–161).
Parallel Processing
Es kommt bereits bei der Emotionsentstehung die Parallel Processing Hypothesis (PPH) zum Tragen. Diese besagt, dass ein ästhetischer Kontext eine Dissoziation der Emotion hervorrufen kann. Eine Emotion gilt in diesem Modell als eine Kombination der subjektiven Gefühle, die sie hervorruft und der Handlungstendenz, die sie erzeugt. Im Rahmen der kognitiven Bewertung in der Emotionsentstehung wird entschieden, ob die Handlungstendenz positiv oder aversiv ausgelegt wird, d.h. ob die Emotion als annehmbar oder abzustellen erlebt wird. Der ästhetische Kontext hemmt nun die aversive Seite der Handlungstendenz (Schubert, 2016, S. 2–3). So kann also eine Emotion, die eigentlich als unerwünscht und unangenehm erlebt wird (Traurigkeit) durch den ästhetischen Kontext zwar immer noch als trauriges Gefühl, aber ohne die ablehnende Handlungstendenz erlebt werden – sie wird akzeptiert und aktiv erlebt.
Biochemische Erklärungen
Huron (2011) liefert einen möglichen biochemischen Erklärungsansatz durch die Beteiligung von Hormonen: durch die Ausschüttung von Adrenalin und Endorphinen werden positive Gefühle hervorgerufen und schmerzlindernde Effekte erreicht. Dies wäre im Falle einer Verletzung (Huron nennt das Beispiel eines Wolfsangriffs) sinnvoll, um die Überlebenschancen zu steigern. Liegt eine solche Verletzung aber nicht vor, sondern wurden die Hormone und Neurotransmitter durch die Musik stimuliert, so sind sie folglich im Überschuss vorhanden und könnten positiven Affekt auslösen. Traurigkeit geht als Emotion mit einer erhöhten Ausschüttung von Prolaktin einher (Frey & Langseth, 1985, zitiert nach Huron, 2011, S.151). Dieses Hormon kann allerdings ebenso positive Gefühle und beruhigende Effekte auslösen, wie Endorphine oder Adrenalin und könnte durch seine Ausschüttung auch eine moderierende oder eindämmende Wirkung auf Traurigkeit haben (so wie die Ausschüttung von Endorphinen bei physischem Schaden) (2011, S. 151–153).
Fazit
An dieser Masse von Einflussfaktoren lässt sich gut nachvollziehen, warum eine allgemeingültige Definition von Ästhetik nicht möglich ist. Ferner ist es nun offensichtlich, warum z.B. ein bestimmtes objektiv trauriges Musikstück bei manchen einen positiven Affekt hervorrufen kann. Es muss eben individuell zur Person passen, um einen Effekt zu erzielen – dies ist nicht vorherzusagen.
Ein Anwendungsfeld dieser paradoxen Wirkung wäre die Psychotherapie der Depression. Im Rahmen dieser könnten bestimmte, als ästhetisch empfundene Musikstücke für die Hebung des Affekts als Selbsthilfe dienen. In einer Studie mit 38 als klinisch depressiv (Major Depressive Disorder, MDD) diagnostizierten und 38 altersgleichen gesunden Teilnehmerinnen wurden Musikstücke vorgespielt und sie befragt, ob sie diese Musik in Zukunft wieder hören würden. Außerdem wurden im zweiten Durchgang jeweils zwei Hörproben gespielt und die Teilnehmerinnen mussten sich entscheiden. Im Ergebnis zeigten sich für beide Durchgänge statistisch signifikant höhere Wahrscheinlichkeiten für die Auswahl trauriger Musik bei den MDD-Gruppenangehörigen (Yoon et al., 2020, 615–620). Die therapeutische Anwendung wäre also durchaus möglich.
Abkürzungsverzeichnis
MDD Major Depressive Disorder
PPH Parallel Processing Hypothesis
Literaturverzeichnis
Frey, W. H. & Langseth, M. (1985). Crying: The mystery of tears. Winston Press.
Huron, D. (2011). Why is sad music pleasurable? A possible role for prolactin. Musicae Scientiae, 15(2), 146–158. https://doi.org/10.1177/1029864911401171
Jacobsen, T. (2006). Bridging the Arts and Sciences: A Framework for the Psychology of Aesthetics. Leonardo, 39(2). https://doi.org/10.1162/leon.2006.39.2.155
Juslin, P. N. & Laukka, P. (2004). Expression, Perception, and Induction of Musical Emotions: A Review and a Questionnaire Study of Everyday Listening. Journal of New Music Research, 33(3). https://doi.org/10.1080/0929821042000317813
Neumann, R. (2022). Stimmung. Hogrefe AG. Dorsch Lexikon der Psychologie. https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/stimmung
Scherer, K. R. & Moors, A. (2019). The Emotion Process: Event Appraisal and Component Differentiation. Annual review of psychology, 70. https://doi.org/10.1146/annurev-psych-122216-011854
Schubert, E. (2016). Enjoying Sad Music: Paradox or Parallel Processes? Frontiers in human neuroscience, 10. https://doi.org/10.3389/fnhum.2016.00312
Xenakis, I. & Arnellos, A. (2014). Aesthetic perception and its minimal content: a naturalistic perspective. Frontiers in psychology, 5. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2014.01038
Yoon, S., Verona, E., Schlauch, R., Schneider, S. & Rottenberg, J. (2020). Why Do Depressed People Prefer Sad Music? Emotion (Washington, D.C.), 20(4), 613–624. https://doi.org/10.1037/emo0000573
Abbildungsverzeichnis
Beitragsbild: Clker-Free-Vector-Images (2014). Pixabay.com. Abgerufen am 05.09.2024. https://pixabay.com/vectors/drama-comedy-and-tragedy-theater-312318/