Wer bestimmt eigentlich, was Jugendliche sehen? Der Algorithmus als unsichtbarer Lehrer mit Chancen aber auch Gefahren für die Meinungsbildung.
In den sozialen Netzwerken wie TikTok, Instagram oder YouTube entscheiden längst nicht mehr nur Menschen, was konsumiert wird. Der Algorithmus übernimmt die Rolle eines unsichtbaren Kurators (Ruznic, 2023, S. 30-31). Er filtert, bewertet, sortiert und präsentiert Inhalte auf Grundlage unseres bisherigen Verhaltens. Was wir liken, wie lange wir schauen, was wir teilen. Daraus entsteht ein personalisierter Feed, der unsere Vorlieben scheinbar perfekt trifft, jedoch keineswegs neutral ist (Ruznic, 2023, S. 37-39).
Zwischen kreativer Freiheit und algorithmischer Manipulation
Befürworterinnen und Befürworter dieser digitalen Entwicklungen argumentieren, dass soziale Medien kreative Entfaltung ermöglichen und den Zugang zu vielfältigen Informationen demokratisieren. Der Algorithmus erlaubt es jeder Person, unabhängig von sozialem oder kulturellem Hintergrund, eine große Reichweite zu erzielen. Gerade marginalisierte Gruppen finden auf Plattformen, wie zum Beispiel TikTok, Räume, in denen sie sich austauschen, Unterstützung erhalten und ihre Sichtbarkeit erhöhen können (Lorenz, 2023, S. 205 & 265). Studien wie jene von Crystal Abidin aus dem Jahre 2021 zeigen, dass Jugendliche durch das Produzieren von Inhalten mediale Kompetenzen erwerben, die im späteren Berufsleben von Nutzen sein können. Darunter Storytelling, kreative Produktion und digitale Kommunikation.
Doch diese optimistische Sicht ist nur eine Seite des Spiegels. Zahlreiche kritische Stimmen warnen davor, dass Algorithmen keineswegs neutral sind. Vielmehr verfolgen sie wirtschaftliche Interessen. Sie sind darauf programmiert, Aufmerksamkeit zu maximieren, selbst um den Preis, potenziell schädliche Inhalte zu verstärken. Jugendliche werden durch TikTok verstärkt mit problematischen Themen wie Körperidealen, Selbstoptimierung, Essstörungen oder gewalttätigen und extremistischen Inhalten konfrontiert (Koblike & Markiewitz, 2024).
Gerade für Jugendliche kann dies weitreichenden Konsequenzen haben. Sie befinden sich in einer sensiblen Phase der Identitätsbildung, in der sie verstärkt nach Orientierung, Zugehörigkeit und Selbstvergewisserung suchen. (Miller, 2019, S. 15)
Die Plattform reagiert nicht primär mit pädagogischer Verantwortung, sondern mit mathematischer Optimierung, was sich gut rechnet, wird verstärkt.
Eine Studie von Yang Zhao aus dem Jahre 2024, veröffentlicht im International Journal of Qualitative Methods zeigt, dass intensive TikTok-Nutzung mit einer signifikant höheren Prävalenz von depressiven Symptomen und Angststörungen bei jungen Menschen korreliert. Besonders alarmierend ist, dass viele dieser Inhalte nicht aktiv gesucht werden, sondern vom Algorithmus gezielt in den Feed gespült werden. Ohne Einordnung, ohne Kontext, ohne pädagogische Begleitung.
Auch politische und gesellschaftliche Auswirkungen sind nicht zu unterschätzen. Durch algorithmisch erzeugte Filterblasen erhalten Jugendliche oft nur Inhalte, die ihre Sichtweise bestätigen. Abweichende Perspektiven werden ausgeblendet, was langfristig zu einer Radikalisierung oder Polarisierung von Meinungen führen kann. Eli Pariser beschrieb dieses Phänomen bereits 2012 in seinem Buch „The Filter Bubble“. Heute ist es aktueller denn je. (Pariser, 2012, S. 42-45) Ein Beispiel hierfür wären Wahlen. Die Meinung von jungen Erstwählern wird heutzutage überwiegend über TikTok geprägt und beeinflusst. Sie bilden sich ihre Meinung über verschiedene Politiker oder Parteien ausschließlich über die Ihnen auf TikTok vorgeschlagenen Inhalte, was oftmals genau zu einem einseitigen Meinungsbild führt.
Dies zeigt auch die folgende Abbildung. 55% der 16 bis 29-jährigen Befragten, wüssten ohne die sozialen Medien nicht mehr, was in der Welt geschieht. Sie beziehen also ihr allgemeines Wissen und ihre gesamten Informationen über das Weltgeschehen rein durch die sozialen Medien.

Abbildung 1: Social Media ist für die Generation U30 Alltag
(Quelle: https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Mehr-als-50-Millionen-Deutsche-nutzen-soziale-Medien.)
Der Algorithmus als Spiegel unserer Gesellschaft?
Anstatt den Algorithmus pauschal zu verteufeln oder zu idealisieren, erscheint es sinnvoller, ihn als Spiegel unserer digitalen Gesellschaft zu betrachten. Denn er verstärkt nicht nur was technisch funktioniert, sondern auch, was wir als Nutzerinnen und Nutzer unbewusst fördern. Inhalte, die provozieren, emotionalisieren oder polarisieren, erzielen mehr Aufmerksamkeit und genau das misst der Algorithmus.
Das bedeutet: Der Einfluss algorithmischer Systeme entsteht im Zusammenspiel zwischen Technologie, menschlichem Verhalten und gesellschaftlichem Kontext (Fry, 2019, S. 175 & 198)
Diese Einsicht verlangt nach einer differenzierten Verantwortung. Nicht nur die Plattformen selbst, sondern auch die Nutzerinnen und Nutzer, die Bildungsinstitutionen und die Politik sind gefragt, mit diesem Einfluss kritisch und reflektiert umzugehen.
Bildung muss algorithmuskompetent werden
Um Jugendliche und junge Erwachsene im Umgang mit algorithmischen Systemen zu stärken, braucht es eine systematische Integration entsprechender Inhalte in die Bildungslandschaft. Hochschulen könnten hier beispielsweise eine zentrale Rolle spielen, indem sie Seminare oder Workshops anbieten, in denen die Funktionsweise, Risiken und gesellschaftliche Auswirkungen von Algorithmen kritisch beleuchtet werden. Dabei geht es nicht nur um technische Aspekte, sondern auch um Fragen der Selbstwahrnehmung, psychischen Gesundheit und politischen Bildung.
Reflexionsräume für Studierende, in denen sie ihre eigenen Social-Media-Erfahrungen analysieren und einordnen können, wären ein sinnvoller Schritt in Richtung digitaler Resilienz. Gleichzeitig sollten Bildungsinstitutionen sich stärker an der öffentlichen Debatte über algorithmische Transparenz beteiligen, etwa durch Forschungskooperationen mit Plattformen oder durch die Forderung nach klaren Regulierungen.
Denn eines ist klar: Der Algorithmus ist gekommen, um zu bleiben. Doch ob er ein Werkzeug zur Befähigung oder zur Beeinflussung wird, liegt nicht allein in der Technik, sondern in der Art, wie wir als Gesellschaft damit umgehen.
Fazit: Algorithmus Zwischen Spiegel und Verstärker
Der Algorithmus agiert heute als mächtiger Sozialisator. Besonders für Jugendliche, die sich in sozialen Medien nicht nur unterhalten, sondern auch informieren, positionieren und definieren. Er verstärkt das, was wirkt. Und das tut er unabhängig davon, ob es gesund, wahr oder demokratisch ist. Doch er ist kein Täter im klassischen Sinn, sondern ein Spiegel unserer Vorlieben und Gewohnheiten. Diese Spiegelung ist nicht objektiv, sondern verzerrt und gerade deshalb so wirkmächtig.
Statt ihn zu dämonisieren oder naiv zu feiern, sollten wir den Algorithmus kritisch lesbar machen. Das bedeutet, dass wir die Medienkompetenz neu denken müssen. Als Fähigkeit zur Selbstbeobachtung im digitalen Raum, zur Reflexion über das Gesehene und zur Bewertung dessen, was uns nicht gezeigt wird.
Literaturverzeichnis
Titelbildquelle
Titelbild: Software-Matrix-Codes. Veröffentlichungsdatum: 27.04.2018
Künstler: Markus Spiske. Abgerufen am 11.09.2025. Verfügbar unter: https://www.pexels.com/de-de/foto/software-matrix-codes-1089438/.
Nutzungsbedingungen: https://www.pexels.com/de-de/imprint/.
Lizenzbedingungen: https://www.pexels.com/de-de/lizenz/.
Literaturquellen
Abidin, C. (2021). Mapping Internet celebrity on TikTok: Exploring attention economies and visibility labours. Cultural Science Journal, 12(1), 77–103.
Bitkom. (2023). Social Media ist für die Generation U30 Alltag. Veröffentlicht von:marketing boerse, abgerufen am: 4.9.2025, Verfügbar unter: https://www.marketing-boerse.de/news/details/2306-mehr-als-50-millionen-deutsche-nutzen-soziale-medien/188985.
Dr. Kobilke, L. & Dr. Markiewitz, A. (2024). Challenge accepted: welche Challenges sich auf TIKTOK verbreiten und wie Kinder und Jugendliche sie warnehmen, Zentrale Ergebnisse von Inhaltsanalyse und Befragung, Düsseldorf, Februar 2024, Nordrheinwestfahlen: Landesanstalt für Medien.
Fry, H. (2019). Hello World: How to be Human in the Age of the Machine, London: Black Swan.
Lorenz, T. (2023). EXTREMELY ONLINE, the untold Story of Fame, Influence and Power on the Internet. New York: Simon & Schuster.
Miller, D. (2019). Social Media und die Identitätsbildung bei Jugendlichen. Chancen und Herausforderungen in der soziokulturellen Arbeit mit Mädchen, Jungen und Queers, München: GRIN Verlag.
Pariser, E. (2012). Filter Bubble, Wie wir im Internet entmündigt werden, München: Carl Hanser Verlag.
Ruznic, A. (2023). Meister des TikTok-Algorithmus: Der Weg zum Marketing-Erfolg: Entschlüsseln, Ausnutzen und Profitieren von TikToks Geheimnissen, independently published: Ruznic Marketing.
Zhao, Y. (2024). TikTok and Researcher Positionality: Considering the Methodological and Ethical Implications of an Experimental Digital Ethnography, International Journal of Qualitative MethodsVolume 23, January 2024, California: SAGE Publications.






