By Published On: 23. August 2020Categories: Gesundheit, Pädagogik, Psychologie

Ein Virus breitet sich aus. Die Menschen sind verunsichert, verängstigt, verärgert. In Folge der staatlichen Maßnahmen und der damit einhergehenden psychosozialen Auswirkungen auf den Alltag ist mit einem erhöhten Distress-Erleben der Bevölkerung zu rechnen.[1]

Knapp 18 Mio. Erwachsene in Deutschland erkranken jährlich an einer psychischen Störung – mit am häufigsten an Angsterkrankungen oder Depressionen. Für diese Bevölkerungsgruppe stellt die Corona-Krise nochmal eine ganz eigene Herausforderung dar.[2] Die Versorgung ist derzeit noch mangelhaft, die Rahmenbedingungen der videobasierten Therapie unausgereift. Therapeuten befürchten daher einen Anstieg der therapiebedürftigen psychischen Erkrankungen in der kommenden Zeit.[3] Vielfach wird als Schlüsselbegriff Resilienz genannt. Die Neuorientierung in Richtung einer nachhaltig resilienten Gesellschaft sollte demnach zur Priorität gemacht werden.[4] Für Coaches stellt sich also gleichwohl die Frage: Welche Überlegungen müssen angestellt werden und welche Perspektiven eröffnen sich vor dem Hintergrund der neuartigen Probleme, Veränderungen und Ambivalenzen?[5] 

 

Aktuelle Situation: Ein Überblick

Seit Ende des Jahres 2019 steht das alltägliche Leben nahezu weltweit auf dem Kopf. Grund hierfür ist das in der chinesischen Provinz Wuhan ausgebrochene Sars-CoV-2-Virus, das sich durch sein exponentielles Wachstum binnen weniger Wochen zu einer Pandemie ausbreitete und fast allgegenwärtig mit massiven Folgen einherging. Kontakteinschränkungen, Hygienevorschriften, Reisewarnungen, Lockdowns, Homeoffice, Quarantänemaßnahmen, Maskenpflicht – derzeit müssen sich die Bürger zahlreichen Herausforderungen auf allen erdenklichen Ebenen stellen. Hinzu kommen die Verluste von Angehörigen und Freunden, welche die Infektion nicht überstanden haben.[6] Wesenszüge und persönliche Umgangsweisen mit der Situation zeichnen sich nun im beruflichen wie auch im privaten Leben in besonderem Maße ab: Die einen reagieren ängstlich-hilfesuchend, andere kollegial und im Sinne kollektiver Vernunft, die nächsten wiederum egoistisch-regressiv, wie Psychologe und Psychiater Prof. Dr. Lehofer in einem Interview mitteilte. Die Krise bringt aktuell das Gute und das Schlechte in jedem Einzelnen hervor.[7] Jeder Mensch geht mit einer Krise anders um. Erfahrungen mit früheren Epidemien und Krisen zeigen, dass sich soziale Isolation und wirtschaftliche Einbußen ungünstig auf die psychische Gesundheit und Suizidalität auswirken.[8] [9] Zudem können Homeoffice und Quarantänemaßnahmen auch in eine ganz andere Richtung umschlagen und bei Partnerschafts- oder Familienhaushalten zu einem sog. „Dichtestess“ führen: Konflikte und (häusliche) Gewalt steigen. In Berlin wird bereits von einem 10%-igen Anstieg der häuslichen Gewalt gesprochen.[10]

 

Zukünftige Entwicklungen im Bereich des Coachings

Psychosoziale Folgen werden voraussichtlich einen Anstieg erfahren und eine verstärkte Inanspruchnahme des psychologischen Versorgungssystems nach sich ziehen.[11] [12] Daraus ergeben sich zum Teil neue, zum Teil verstärkte Trends für das Coaching.

Die Grundthemen des Coachings werden vermutlich unverändert bleiben. Selbststrukturierung, soziale Kompetenz, Work-Life-Balance und Ressourcenaktivierung sind nur einige Beispiele. Im Hinblick auf die Herausforderungen der zukünftigen Arbeitswelten, vermehrtes Homeoffice und den hierdurch wachsenden Bedarf nach Abgrenzungsmöglichkeiten von Arbeit und Privatem, muss der Aspekt der Entgrenzung der Arbeit neu verstanden und umstrukturiert werden. Daraus ergeben sich für den Coach zahlreiche Möglichkeiten im Rahmen der nun in den Vordergrund tretenden Grundthemen. Nicht zuletzt werden auch innerfamiliäre und partnerschaftliche Dynamiken durch die veränderten Arbeitsbedingungen zu einem großen Themenschwerpunkt reifen.[13]

Zahlreiche Unternehmen und Organisationen stehen vor einschneidenden Veränderungen und Neuorientierungen zum Zwecke ihres Fortbestehens. Coaching kann an dieser Stelle sinnvoll genutzt werden, um Strategien zu überdenken, neue Ziele zu setzen und Querdenken zu fördern.[14]

Mit abnehmender Stabilität der äußeren (wirtschaftlichen) Bedingungen steigt die Relevanz der individuellen inneren Stabilität. Zum einen heißt das, eine Kontinuität in seinem Leben zu bewahren. Zum anderen bedeutet es, Resilienz und Anpassungsfähigkeit zu fördern.[15] Resilienz ist nichts Angeborenes, sondern sie muss bewusst erlernt und trainiert werden. Sie beschreibt das Vermögen, trotz anhaltender Stresssituationen psychisch stabil zu bleiben. Je widerstandsfähiger eine Person bzw. die Bevölkerung, desto leichter wird es ihr fallen, mit neuen Anforderungen umzugehen und sich ihnen anzupassen, ohne davon negative Konsequenzen zu tragen. Die Vermittlung von Coping-Strategien, Entspannungsmethoden sowie Stressmanagement-Trainings stellen auf individueller Ebene potenziell wirksame Ansätze dar.[16]

Strukturelle Veränderungen im Berufsalltag eröffnen Potenziale im Bereich des betrieblichen Gesundheitscoachings. Zum einen können Führungskräfte auf die zunehmende Verantwortung, die ihnen übertragen wird, gezielt durch Coachingmaßnahmen vorbereitet werden. Ebenso dürften Coachings zur Ressourcenaktivierung und gesundheitserhaltender Selbststrukturierung unter den neuen, veränderten Arbeitsbedingungen sowohl für Führungskräfte als auch für Mitarbeiter notwendig werden.[17]

Life-Coachings und solche zu Work-Life-Balance werden eine neue Form annehmen. Je mehr das Thema der Entgrenzung von beruflicher Arbeit in den Mittelpunkt rückt, desto wichtiger werden auch der Schutz und die Organisation der übrigen Lebensbereiche.[18] Unter den sich stetig verändernden Bedingungen und Gesetzeslagen, wird die Realisierung und das Management der Bereiche Beziehungen, Familie und Freunde, Hobbies und Freizeit oder Sport und Aktivitäten zu einem Balanceakt heranreifen.[19]

 

Abschließende Gedanken

Die Coronakrise bringt Veränderungen in allen Lebensbereichen mit sich. Auf bewährte Handlungsmuster zurückzugreifen wird zunehmend schwieriger. Es kommt zu einer automatischen Gegenüberstellung von Beruf und Alltag unter Normalbedingungen auf der einen Seite sowie Leben und Arbeiten mit Infektionsgefahr auf der anderen.[20] Wie genau sich die Krise auf lange Sicht in der psychischen Gesundheit niederschlagen wird, ist noch unklar. Dem Arbeitsverhalten als auch den Sozialstrukturen stehen somit zwangsläufig Anpassungsprozesse bevor – so auch dem Bereich des Coachings. Unterstützende Maßnahmen von Coaches werden auf zahlreichen Ebenen an Relevanz gewinnen. Resilienz und Reflexion werden zentrale Begriffe darstellen. Arbeitsbereiche, die auf engen Beziehungsstrukturen basieren, stehen vor der Herausforderung, die entstandenen Blockaden durch Physical Distancing wieder aufzuheben und eine neue Grundlage zu erschaffen[21] – Coachingexpertise kann hier von großem Nutzen sein.

Statt kurzfristig auf „bloßes Funktionieren“ zu bauen, wird der Auftrag insgesamt darin bestehen, Potenziale zu erkennen und zu einem langfristigen, kreativen Denken zu animieren.[22] Ein nicht zu unterschätzender Aspekt wird das Vertrauen der Menschen in einander sein, denn die Ausnahmesituation wirft eine ganz grundlegende Frage auf: Wie können wir einander vertrauen und näher zusammenrücken, uns in dieser „neuen Welt“ zurechtfinden, wenn genau das, was eine funktionierende Gesellschaft ausmacht – Vertrauen, ein Gefühl von Miteinander, Empathie, ein Grundkonsens über gesellschaftspolitische Entscheidungen – plötzlich in Frage gestellt wird?

 

 

 

[1] Vgl. Liu/Heinz (2020), Distress Measurement during the Coronavirus Pandemic

[2] Vgl. gdppn (2020), Presseservice

[3] Vgl. RDN/dpa (2020), Nach Coronakrise

[4] Vgl. Ulrich (2020), S. 3

[5] Vgl. Schmidt-Lellek (2020), S. 403

[6] Vgl. Lieb/Tüscher (2020), S. 400

[7] Vgl. Video-Interview mit Prof. Dr. Michael Lehofer zur Future Week 2020, Vimeo

[8] Vgl. Zielasek/Gouzoulis-Mayfrank (2020), S. 1114-1115

[9] Vgl. Hutter (2000), S. 179

[10] Vgl. Spitzer (2020), S. 280

[11] Vgl. Zielasek/Gouzoulis-Mayfrank (2020), S. 1114

[12] Vgl. Röhr et al. (2020), S. 185

[13] Vgl. Schmidt-Lellek (2020), S. 410

[14] Vgl. Schmidt-Lellek (2020), S. 410-411

[15] Vgl. Schmidt-Lellek (2020), S. 411

[16] Vgl. Lieb/Tüscher (2020), S. 401

[17] Vgl. Schmidt-Lellek (2020), S. 411

[18] Vgl. Schmidt-Lellek (2020), S. 412

[19] Vgl. Ulrich/Wiese (2011), S.41

[20] Vgl. Belardi (2020), S. 258

[21] Vgl. Belardi (2020), S. 260

[22] Vgl. Schmidt-Lellek (2020), S. 414

 

 

Quellenverzeichnis

Belardi, N. (2020). Supervision und Coaching. Für soziale Arbeit, für Pflege, für Schule. Freiburg im Breisgau: Lambertus.

DGPPN (2020). Pandemie und Psyche. Presseservice. Abgerufen am 20.08.2020 von https://www.dgppn.de/schwerpunkte/COVID-19/presseservice.html

Hutter, C. (2000). Psychodrama als experimentelle Theologie. Rekonstruktion der therapeutischen Philosophie Morenos aus praktisch-theologischer Perspektive. Münster: LIT.

Lehofer (2020). Matthias Horx im Gespräch mit Prof. Dr. Michael Lehofer, Future Week 2020 [Video-Interview]. Future Day. Abgerufen am 21.08.2020 von https://vimeo.com/430817409

Lieb, K./ Tüscher, O. (2020). Die Corona-Krise als Chance? Einsichten der Resilienzforschung. Forschung & Lehre, Vol. 5/20, 400-401.

Liu, S./ Heinz, A. (2020). Cross-Cultural Validity of Psychological Distress Measurement During the Coronavirus Pandemic. Pharmacopsychiatry, DOI: 10.1055/a-1190-5029. Advance online publication.

RND/dpa (2020). Nach Coronakrise: Psychotherapeuten befürchten Welle von psychischen Erkrankungen [Online-Artikel]. Abgerufen am 20.08.2020 von https://www.rnd.de/gesundheit/coronakrise-psychotherapeuten-befurchten-welle-von-psychischen-erkrankungen-AMQIRRCLZF4OCJXCBQSOFWUHRU.html

Röhr, S./ Müller, F./ Jung, F./ Apfelbacher, C./ Seidler, A./ Riedel-Heller, S. G. (2020). Psychosoziale Folgen von Quarantänemaßnahmen bei schwerwiegenden Coronavirus-Ausbrüchen: ein Rapid Review. Psychiatrische Praxis, Vol. 47, 179-189.

Schmidt-Lellek, C. (2020). Perspektiven für das Coaching nach der Corona-Krise. Organisationsberatung Supervision Coaching, Vol. 27, 401-415.

Spitzer, M. (2020). Psychologie und Pandemie. Die Auswirkungen des Corona-Virus auf den Einzelnen und auf die Gesellschaft. Nervenheilkunde, Vol. 39, 274-283.

Ulrich, E./ Wiese, B. S. (2011). Life Domain Balance. Konzepte zur Verbesserung der Lebensqualität. Wiesbaden: Gabler.

Ulrich, B. (2020). Die desinfizierte Gesellschaft. Corona für immer: Wie wir uns vor zukünftigen Pandemien schützen können. Die Zeit, Vol. 22, S. 3.

Zielasek, J./ Gouzoulis-Mayfrank, E. (2020). Covid-19 Pandemie. Psychische Störungen werden zunehmen. Deutsches Ärzteblatt, Vol. 117(21), 1114-1118.

Beitragsbild: CC0 von https://pixabay.com/de/illustrations/corona-frau-mädchen-perspektive-5199344/

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