By Published On: 1. Oktober 2024Categories: Gesundheit, Pädagogik, Psychologie

2018 veröffentlichte das Robert Koch-Institut eine Folgeerhebung der KIGGS-Studie mit mehr als 13.000 Heranwachsenden. Demnach haben 6,5 Prozent der Jungen und 2,3 Prozent der Mädchen im Alter von 3 bis 17 Jahren eine diagnostizierte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) (Robert Koch-Institut, 2018, S. 47-48). Internationale Studien deuten auf einen männlichen Überhang im Durchschnitt von 4:1 hin (Stollhoff, 2023, S. 50). Aber tritt die Entwicklungsstörung bei Mädchen wirklich so viel seltener auf als bei Jungen? Experten bezweifeln dies. Es wird vielmehr von einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis ausgegangen. Schließlich liegt dieses bei Erwachsenen erstaunlicherweise bei nur noch 1,5:1 (Stollhoff, 2023, S. 50). 

Die AD(H)S gehört zu den häufigsten psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter mit einer weltweiten Prävalenz von 5 % bei Kindern. Sie geht einher mit vielen Beeinträchtigungen der kognitiven und psychosozialen Funktionsfähigkeit. Als Kernsymptome zeigen sich Unaufmerksamkeit, motorische Unruhe (Hyperaktivität) und Impulsivität. Entsprechend der Diagnosekriterien der Klassifikationssysteme sowie Leitlinienempfehlungen bedarf eine Diagnose der AD(H)S, dass die Symptomatik über mindestens sechs Monate in mehreren Lebensbereichen (bspw. Schule, Familie) auftritt, von der alterstypischen Entwicklung abweicht und mit Beeinträchtigungen der Funktionsfähigkeit im Alltag einhergeht (Robert Koch-Institut, 2018, S. 46). Für die Entstehung einer AD(H)S müssen psychosoziale und genetische Faktoren zusammenwirken. Genveränderungen betreffen dabei am deutlichsten Dopamin und Noradrenalin, welche dem Gehirn nicht in ausreichender Menge zur Verfügung stehen (Stollhoff, 2023, S. 52).

Bei Mädchen und Frauen dominiert AD(H)S als Variante ohne Hyperaktivität. Die als vorwiegend „unaufmerksamer“ Typus bezeichnete Form der Entwicklungsstörung wird oft erst im Jugendalter festgestellt – wenn überhaupt. Ihre Probleme werden häufig übersehen, da die Betroffenen motorisch nicht übermäßig aktiv und eher introvertiert sind und sie ihr Umfeld weniger „stören“. Gleichwohl zeigen sich ebenfalls Einschränkungen in exekutiven Funktionen: Zeitmanagement, Impulskontrolle, Handlungsplanung und -durchführung, Arbeitstempo, Aufmerksamkeitsdauer als auch die Fähigkeit, sich auf eine Sache zu fokussieren und anderes dabei auszublenden (Stollhoff, 2023, S. 48). Es lassen sich auch Unterschiede in der Komorbidität beobachten. So leiden Jungen häufiger an externalisierenden komorbiden Störungen, wohingegen Mädchen häufiger an internalisierenden komorbiden Störungen leiden. Bspw. zeigen sich Mädchen eher ängstlich und depressiv (Gawrilow, 2016, S. 53-54). 

Die gravierenden Unterschiede in der Kernsymptomatik der betroffenen Mädchen im Vergleich zu betroffenen Jungen bewirken, dass diese weniger auffallen und folglich später diagnostiziert werden als gleichaltrige Jungen. Häufig erhalten sie erst im Jugend- oder Erwachsenenalter Zugang zu Diagnostik und Therapie, wenn die Symptome deutliche Schwierigkeiten in Schule, Ausbildung oder Studium verursachen. 

Es gibt drei Subtypen der AD(H)S: vorwiegend unaufmerksam, vorwiegend hyperaktiv und impulsiv oder gemischt:

Abb. 1: AD(H)S Subtypen

Grundsätzlich ist es – um Mädchen adäquat diagnostizieren zu können – sinnvoll, geschlechtsspezifische Unterschiede in der Diagnostik und Behandlung von Krankheiten zu betrachten. Hiermit beschäftigt sich die noch recht junge Gendermedizin. Bisher waren Frauen aufgrund ihrer „komplexen“ Eigenschaften in Studien unterrepräsentiert. Die Folge sind Verzerrungen bei der Datenerhebung, die unter anderem für die medizinische Versorgung weitreichende Konsequenzen haben. Diagnosekriterien erfassen nicht zuverlässig die weibliche Variante – und geschlechtsspezifische Diagnosekriterien für AD(H)S bei Mädchen und Frauen gibt es noch nicht. Die fehlende Berücksichtigung dieser Unterschiede führt dazu, dass Mädchen und Frauen mit AD(H)S häufig nicht korrekt oder erst nach langer Odyssee diagnostiziert werden. Das hängt auch mit Erziehung und gesellschaftlichen Normen zusammen. Mädchen neigen schon in den ersten Schuljahren dazu, ihre Symptome zu unterdrücken, um nicht aufzufallen und gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen. Dadurch zeigt sich ihre AD(H)S weniger offensichtlich und wird schlichtweg häufiger übersehen. Eine zu späte oder fehlende Diagnose kann schwerwiegende Folgen für Mädchen und Frauen haben: Sie leiden häufig unter negativen Selbstbildern und Selbstvorwürfen. Diese inneren Überzeugungen können unter Umständen das ganze Leben prägen und die Betroffenen hemmen, ihre Talente und Fähigkeiten überschatten sowie das Risiko von Begleiterkrankungen und Folgeprobleme wie Depressionen und Angststörungen mit sich bringen (Carl, Ditrich, Koentges & Matthies, 2022, S. 12-14).

Fazit

Oftmals wissen Mädchen und Frauen nicht, dass sie AD(H)S haben – und das ist gut so. Sie werden für ihre Spontanität, ihre Lebendigkeit und ihr soziales Engagement geschätzt. Mit ihren Besonderheiten können sie gut leben. Andere Frauen und Mädchen wiederum wissen auch nicht, dass sie AD(H)S haben – und das ist nicht gut so. Denn sie fühlen sich von den Anforderungen, die an sie gestellt werden, überfordert, quälen sich mit Routinen und sind mit ihrem Leben unzufrieden. Es sind Mädchen und Frauen, die hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben und ihre Potenziale nicht nutzen können (Carl, Ditrich, Koentges & Matthies, 2022, S. 11).

Um AD(H)S betroffene Mädchen und Frauen angemessen – insbesondere in Hinblick auf die Geschlechtsunterschiede – diagnostizieren, behandeln und begleiten zu können, sind die Anpassung der Diagnostik, der Diagnosekriterien und der Therapie ein wichtiger Schritt. Weiterhin sind die Behandlungs- und Interventionsmaßnahmen in Hinblick auf medikamentöse Therapie anzugleichen. Bisherige empirische Studien beziehen sich oftmals auf Jugendliche unter 12 Jahren. Zu Hinweisen, dass die Wirkung der Medikamente abhängig von hormonellen Schwankungen bei Mädchen und Frauen ist, fehlen noch empirische Untersuchungen. Auch die Unterschiede in der Kernsymptomatik verlangen unterschiedliche Therapieansätze. Insbesondere die Selbstwahrnehmung sollte einen hohen Stellenwert innerhalb der psychologischen Therapie einnehmen, da gerade Patientinnen unter einer negativen Selbstwahrnehmung leiden. Darüber hinaus erfordern unterschiedliche Komorbiditäten unterschiedliche Therapieansätze (Gawrilow, 2016, S. 55-56). Dies alles unterstreicht die Bedeutung weiterer Forschung, um das Profil von Mädchen mit AD(H)S zu definieren. Der Fokus sollte dabei auf das Aufmerksamkeitsdefizit, ein zu langsames Arbeitstempo, aber auch auf soziale Interaktionsstörungen und emotionale Dysregulation gelegt werden. Eine effektive Behandlung könnte die Lebensqualität von Mädchen und Frauen mit AD(H)S deutlich verbessern (Stollhoff, 2020, S. 14-15). Neben einem größeren Verständnis seitens der Wissenschaft für die typisch weiblichen AD(H)S Muster ist zu hoffen, dass auch andere Professionen, wie bspw. Lehrende besser fortgebildet werden, um die Symptome von AD(H)S insbesondere bei Mädchen besser zu erkennen, zu verstehen und Unterstützungssysteme in der Schule zu entwickeln, um betroffenen Mädchen zu helfen, ihr volles Potenzial zu entfalten (Nadeau, 2015, S. 299). In jedem Fall ist es eine große Chance der Gendermedizin, das Ungleichgewicht aufzuarbeiten und dazu beizutragen, mehr Bewusstsein für die weibliche Variante von AD(H)S zu schaffen und betroffenen Mädchen und Frauen dabei zu helfen, sich zu verstehen und anzunehmen (Carl et al., 2022, S. 1).

Hilfreiche Weblinks
ADHS Deutschland e. V. – Selbsthilfe für Menschen mit ADHS: www.adhs-deutschland.de
Zentrales ADHS-Netz: www.zentrales-adhs-netz.de
Angebote für Mütter mit AD(H)S oder Mütter mit Kindern mit AD(H)S: www.adhs-deutschland.de oder www.adhs.info/fuer-eltern-und-angehoerige/was-koennen-eltern-selbst-tun 
Ärztinnen und Ärzte engagieren sich gemeinsam für ADHS: www.ag-adhs.de
(Carl et al., 2022, S. 233; Stollhoff, 2023, S. 54)

Literaturverzeichnis

Carl, C., Ditrich, I., Koentges, C. & Matthies, S. (2022). Die Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S (3. Auflage.). Weinheim Basel: Beltz.

Gawrilow, C. (2016). Lehrbuch ADHS: Modelle, Ursachen, Diagnose, Therapie (UTB Psychologie, Pädagogik) (2., aktualisierte Auflage.). München Basel: Ernst Reinhardt Verlag.

Nadeau, K. (2015). Understanding Girls with ADHD. Advantage Books.

Robert Koch-Institut. (2018). ADHS bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Querschnittergebnisse aus KiGGS Welle 2 und Trends. RKI-Bib1 (Robert Koch-Institut). https://doi.org/10.17886/RKI-GBE-2018-078

Simchen, H. (2023). Die vielen Gesichter des AD(H)S (6. Auflage.). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.

Stollhoff, K. (2020). ADHS wird bei Mädchen oft übersehen. Pädiatrie32(6), 14–15. https://doi.org/10.1007/s15014-020-2510-y

Stollhoff, K. (2023). Übersehene Mädchen, (04/2023).

Abbildungen

Titelbild: (2017), Zugriff am 23.Juni 2023, verfügbar unter: https://pixabay.com/de/photos/kind-schönheit-mädchen-porträt-2162410

Abb. 1: AD(H)S Subtypen, eigene Darstellung nach Simchen, 2023, S. 18-19)

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