Die differenzierte Erhebung der emotionalen Entwicklung, anhand der SEED, findet im Bereich der Eingliederungshilfe vermehrt Anerkennung. Die SEED (Skala der emotionalen Entwicklung Diagnostik) bietet durch einen standardisierten Interviewleitfaden, aufgeteilt in acht Teilbereiche der emotionalen Entwicklung (Domänen), Aufschluss über Bedürfnisse, Sichtweisen und Lebensverständnis von Personen mit Intelligenzminderung, ICD-11 (Zepperitz, 2022).
Entwicklung der Skala und deren Gültigkeit
Die SEED wird als Instrument im diagnostischen Prozess verstanden, welches in den Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung von Menschen mit einer Störung in der Intelligenzentwicklung empfohlen wird (Dôsen et al., 2010; Häßler, 2021). Die SEED- Skala der emotionalen Entwicklung basiert auf dem SEO (Schaal voor Emotionele Ontwikkeling) nach Anton Dõsen (1939-2023). Im Bewusstsein, das Entwicklung ein kontinuierlicher Prozess ist, definierte Dôsen fünf Phasen der Entwicklung und beschrieb darin die Altersphasen (0-12 Jahren) mit typischen emotionalen Bedürfnissen und Verhalten als Meilensteine der emotionalen Entwicklung. Durch eine Expertengruppe, in einem internationalen Projekt der NEED-Gruppe (Network of Europeans on Emotional Development) wurde das SEO Phasenmodell von Dôsen auf Validität und Beobachtbarkeit auf der Verhaltensebene weiter zur SED-S (Scale of Emotional Development–Short; Sappok et al., 2016) entwickelt. Jüngst wurde die Skala um eine sechste Phase erweitert, welche bis zum emotionalen Referenzalter des 18. Lebensjahres reicht (SEED-2). Die Validierung anhand einer Kohorte von typisch entwickelten Kindern (Sappok et al., 2019), sowie weitere Studien mit Kindern (Sterkenburg et al., 2021) und Erwachsenen mit einer Störung in der Intelligenzentwicklung (Sappok, Dosen et al., 2020; Flachsmeyer et al., 2021) belegen eine hohe Übereinstimmung des Entwicklungsalters der Kinder und der Skala und bestätigen die Validität und Reliabilität des Instruments.
Relevanz der Kenntnis des emotionalen Entwicklungsstand
Die Nutzung verschiedener Assessments zur Diagnosestellung im Bereich der Gesundheitsversorgung bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen ist heutzutage üblich, so zum Beispiel, um das Intelligenzniveau festzustellen (bspw. durch DAS- Disabillity Assistent Schedule), ob ein Autismus vorliegt, bspw. durch DiBAS-R (Köller & Hoffmann, 2021) oder auch mittels genetischer Untersuchungen um Syndrome zu diagnostizieren. Oft reicht jedoch die alleinige Feststellung der kognitiv oder medizinisch basierten Testungen nicht aus, um Verhalten erklärbar zu machen. Der Fortschritt der emotionalen Entwicklung wird von verschiedenen inneren und äußeren Faktoren beeinflusst. Dazu zählen genetische Einflüsse, erworbene Hirnschädigungen sowie Lern- und Integrationsprozesse in sozialen Kontexten. Auch kognitive, sensorische und motorische Fähigkeiten, die Umwelt und psychische Belastungen spielen eine Rolle. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen durchleben die gleichen Entwicklungsphasen wie nichtbehinderte Menschen, jedoch verläuft ihre Entwicklung oft langsamer oder bleibt unvollständig. (Sappok/ Zepperitz 2019, S.23). Die Erhebung der SEED kann eine Gegenüberstellung des (kognitiven) Referenzalters zum emotionalen Entwicklungsstand abbilden und eine mögliche Abweichung aufdecken.
Ein Praxisbeispiel
Als Beispiel sei eine Person mit einer leichten Beeinträchtigung in der Intelligenzentwicklung genannt, was einem Referenzalter von 9-12 Jahren entspricht (IQ von 50-69), die emotionale Entwicklung nach SEED wurde mit 4-7 Jahren (Phase 4) festgestellt. Die offensichtliche Abweichung ermöglicht neue Denk- und Handlungsoptionen in der Betreuung und kann Verhalten auf Basis der emotionalen Entwicklung begründen. Über- und Unterforderung werden erkannt und können gezielt vermieden werden, was im Umkehrschluss besondereVerhaltensweisen reduziert. Die Erhebung der SEED dient als Grundlage um innovative, individuelle Leistungsangebote zu gestalten, die bedarfsgerechte, personenzentrierte Teilhabe ermöglicht.
Anwendung
Mit der SEED/ SEED-2 wird der emotionale Entwicklungsstand in acht Teilbereichen der Emotionen systematisch dargestellt. Die Teilbereiche werden in der SEED als Domänen bezeichnet. Jeder Domäne werden 6 Entwicklungsphasen mit typischen Verhaltensweisen zugeordnet. Somit besteht die SEED-2 aus 8 Domänen und jeweils 6 Entwicklungsphasen (0-6 Monate, 7-18 Monate, 19-36 Monate, 4-7 Jahre, 8-12 Jahre, 13-18 Jahre) und deren typischen Verhaltensbeschreibungen (je 5 Items). Die Befragung findet durch eine Expertin/ Experten für Entwicklungspsychologie statt. Die Interviewfragen werden an nahestehende Personen gerichtet, von Vorteil sind multiprofessionelle Fallbesprechungen, um ein möglichst umfassendes Bild zu erhalten (Sappok/ Zepperitz, 2019 S. 62). Je nach Einschätzung der multiprofessionellen Teams werden die Items in den zutreffenden Bereichen angekreuzt. In der Auswertung ist die Phase leitend, in der die meisten Verhaltensbeobachtungen zugetroffen haben. Nach gewonnener Kenntnis des emotionalen Entwicklungsstand sind weitere Maßnahmen zu verfolgen, um die Assistenzleistung dem Ergebnis anzupassen.
Fazit
Die kritische Betrachtung der SEED/ SEED-2 zeigt auf, dass emotionale Entwicklung ein wichtiger Aspekt in der Assistenz für Menschen mit Beeinträchtigung in der Intelligenzentwicklung ist. Die Unwissenheit über die Gefühlswelt des Assistenznehmers führt zu Missverständnissen, Über- und Unterforderung, Fehlhandlungen, Machtverhältnissen und herausfordernden Verhaltensweisen, um nur einige Überbegriffe zu nennen. In Anbetracht der Tatsache, dass viele Menschen mit hohem Betreuungsbedarf keine verbale Sprache nutzen (können), sich Strukturen und Umgebungen ausgeliefert sehen und wenig Spielraum zur eigenen Entfaltung haben, halte ich es für umso wichtiger, deren Gefühle als Kommunikationsmittel wahrzunehmen, richtig zu deuten und entsprechend zu handeln. Verhalten als Handlungsspielraum und Kommunikationsoption des Einzelnen zu erkennen, die dahinterstehenden Bedürfnisse zu identifizieren und die Teilhabe danach zu gestalten, scheint mit dem SEED Modell umsetzbar. Dennoch sehe ich die Erhebung als Herausforderung für Expertinnen und Experten, als auch Betreuende, diese fachlich, sachlich durchzuführen. Das Sortieren in Schubladen wird sich nach der Erhebung meines Erachtens nicht gänzlich vermeiden lassen. Es liegt eine große Verantwortung bei den Durchführenden, hier eine wertschätzende und klare Haltung vorzuleben, nicht standardisiert nach Schubladen, sondern nach „Was braucht der Mensch“ (Zepperitz, S. 2022) zu arbeiten und individuelle entwicklungsgerechte Strukturen zu gestalten.
Literatutverzeichnis
Dosen, A., Gardner, W., Griffiths, D.M., King, R. &Lapointe, A. (2010). Praxisleitlinien und Prinzipien Assessment, Diagnostik, Behandlung und Unterstützung für Menschen mit geistiger Behinderung und Problemverhalten – Europäische Edition. Materialien der DGSGB, Bd. 21. Berlin: DGSGB. Verfügbar unter https://dgsgb.de/downloads/materialien/Band21.pdf, abgerufen am 07.04.2025
Flachsmeyer, M., Sterkenburg, P., Barret, T., Zaal, S., Vonk, J., Morisse, et al. (2021). Validation and Extensions of the Scale of Emotional Development – Short. EAMHID Cogress 2021 in Berlin. Journal of Intellectual Disability and Research, 65(8), 745.
Häßler, F. (2021). S2k Praxisleitlinien Intelligenzminderung, 2. Version (AMWF-Register Nr. 028-042) abgerufen am 07.02.2025 unter: https://register.awmf.org/assets/guidelines/028-042l_S2k_Intelligenzminderung_2021-09.pdf
Köller, W. & Hoffmann, K. (Hrsg.) (2021). Störungsspezifische Diagnostik und Therapie am Beispiel der Autismus-Spektrum-Störung. In: Materialien der DGSGB, Band 46 Dokumentation der Fachtagung der DGSGB, am 12. März 2021, abgerufen unter: https://dgsgb.de/downloads/materialien/Band46.pdf, am 30.03.2025
Sappok, T., Barret, B.F., Vandevelde, S. Heinrich, M., Poppe, L., Sterkenburg, P. , et. al. (2016). Scale of emotional development—Short. Research in Developmental Disabilities, 59, S. 166-175
Sappok. S, Dosen, A., Zepperitz, S., Barreet, B., Vonk, J., Schranzen, C., et al. (2020). Standardizing the assessment of emotional development in adults with intellectual and developmental disability. Journal of Applied Research in Intellectual Disabilities, 33 (3), 542-551
Sappok, T. Zepperitz, S. Morisse, F., Barrett, B.F., Dosen, A. (2023). SEED-2 Skala der Emotionalen Entwicklung Diagnostik. Ein Instrument zur Erhebung des emotionalen Entwicklungsstandes bei Personen mit Störung in der Intelligenzentwicklung, Bern: Hofgrefe Verlag
Sappok, T./ Zepperitz, S. (2019). Das Alter der Gefühle: über die Bedeutung der emotionalen Entwicklung bei geistiger Behinderung, 2. überarbeitete Auflage, Bern: Hofgrefe Verlag
Sterkenburg, P. S., Kempelmann, G.M.E., Hentrich, J. Vonk, J. Zaal, S., Erlewein, R. & Hudson, M. (2021). Scale of emotional development–short: Reliability and validity in two samples of children with an intellectual disability. Research in Developmental Disabilities, 108, 103821
Zepperitz, S. (Hrsg) (2022). Was braucht der Mensch? Entwicklungsgerechtes Arbeiten in Pädagogik und Therapie bei Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen, Bern: Hofgrefe Verlag:
Titelbildquelle
Titelbild von alanajordan, durch künstliche Intelligenz generiert, Titel: Gernig , Mädchen Kleinkind Veröffentlicht am 27. Februar 2024, auf pixabay, abgerufen am 07.04.2025 unter:
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