By Published On: 28. Mai 2016Categories: Psychologie, Wirtschaft

Vermutlich hat es jeder von uns schon getan – und keiner von uns dachte dabei daran, welche negativen Auswirkungen und Folgen dieses Handeln haben könnte. Im Gegenteil, wir dachten bisher vermutlich, dass es ehrenhaft ist, wenn wir unserer Pflichterfüllung nachgehen. Die Rede ist vom „krank zur Arbeit gehen“ oder auch Präsentismus genannt. Im folgenden Beitrag möchte ich über dieses Phänomen informieren, die Folgen für Arbeitnehmer und Unternehmen aufzeigen sowie Handlungsempfehlungen zur Prävention darstellen.

Definition und Fakten

Eine einheitliche Begriffsdefinition oder ein allgemein gültiges Konzept für Präsentismus gibt es bislang nicht. Man spricht davon, „wenn Mitarbeiter trotz Erkrankung zur Arbeit gehen, obwohl es legitim und ratsam gewesen wäre, sich krank zu melden oder vom Arzt krankschreiben zu lassen.“[1] Das Gegenteil ist der Absentismus, das krankheitsbedingte Fernbleiben vom Arbeitsplatz. Wie häufig kommt Präsentismus überhaupt vor und lässt sich das Phänomen in Zahlen ausdrücken? Eine Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK zeigt sehr deutlich die Ausmaße des ‚krank zur Arbeit gehens’:

Kam es in den letzten 12 Monaten vor,
dass Sie...
Anteil der Befragten,
die mit „ja“ geantwortet haben
... krank zur Arbeit gegangen sind?71,2 %
... trotz ärztlichem Rat auf eine Kur verzichtet haben?8,6 %
... zur Genesung Urlaub genommen haben?12,8 %
... zur Genesung bis zum Wochenende gewartet haben?70,2 %
... gegen den Rat des Arztes zur Arbeit gegangen sind?29,9 %

Tabelle 1         Präsentismus-Verhalten in Deutschland

(Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Schmidt, J./Schröder, H., 2010, S. 96)

Danach sind über 70 % der Befragten in den letzten 12 Monaten krank zur Arbeit gegangen. Im nächsten Abschnitt zeige ich die Gründe und verschiedenen Einflussfaktoren auf, die dazu führen können.

Einflussfaktoren und Gründe

Gehen Arbeitnehmer krank zur Arbeit, stellen sie eine Gefahr für sich selbst (akute Gesundheitsgefährdung, Verschleppung, Chronifizierung, höheres Unfallrisiko, etc.) und andere (z. B. Ansteckungsgefahr, Unfallgefahr, Mehrarbeit) dar. Warum legt eine so hohe Zahl von Arbeitnehmern dieses Verhalten an den Tag? Es gibt mehrere Ursachen, denn Präsentismus ist das Resultat eines individuellen Entscheidungsprozesses, der von verschiedenen Faktoren beeinflusst wird:[2]

Persönliche Einflussfaktoren

Unterschiede im Präsentismus-Verhalten von Männern und Frauen bestehen nicht. Allerdings lassen sich diese beim Alter, der Bildung und dem Beruf ausmachen. Es zeigt sich, dass mit zunehmendem Alter die Häufigkeit und Länge des Präsentismus-Verhaltens im Durchschnitt steigt. Der Bildungsabschluss hat Einfluss auf die Dauer, wie lange Beschäftigte krank zur Arbeit gehen. Vermutlich lässt sich dies durch die unterschiedlichen Tätigkeitsprofile (verschiedene Belastungsprofile und mehr Ressourcen) erklären. Zu den Berufsgruppen mit besonders häufigem Präsentismus gehören Gesundheitsberufe, Sozial- und Erziehungsberufe, die durch einen starken Personenbezug gekennzeichnet sind, aber auch Berufe in der Landwirtschaft und in der Baubranche, in denen häufig Termin- und Zeitdruck herrscht. Die Vermutung drängt sich auf, dass Arbeitnehmer mit Führungsverantwortung häufiger betroffen sind, allerdings wurden hier überraschenderweise keine Unterschiede zu Beschäftigten ohne Führungsverantwortung festgestellt.[3]

Arbeits- und organisationsbedingte Einflussfaktoren

Je häufiger Beschäftigte an der Grenze der Leistungsfähigkeit arbeiten oder etwas von ihnen verlangt wird, was sie bisher nicht erlernt haben oder beherrschen, desto öfter und länger ist das Präsentismus-Verhalten. Auch physische Belastungsfaktoren spielen hier eine Rolle. Besonders hohe Angaben zu Präsentismus-Tagen und -Häufigkeiten wurden bei Beschäftigten ermittelt, die häufig mit mikrobiologischen Stoffen (Gesundheitswesen), unter starken Erschütterungen, bei schlechtem Licht und in Zwangshaltung (statische Körperhaltung) arbeiten. Darüber hinaus gehen Arbeitnehmer besonders oft krank zur Arbeit, deren Tätigkeit sie häufig in Situationen bringt, die sie emotional belasten. Beschäftigte, die mehr als 48 Stunden pro Woche arbeiten, gehen am häufigsten und am längsten krank zur Arbeit.[4]

Strukturelle, gesellschaftliche bzw. Umweltfaktoren

Wird die wirtschaftliche Lage des Unternehmens von den Arbeitnehmern als schlecht eingeschätzt, wird häufiger von Präsentismus berichtet, als bei einer guten Einschätzung. Stellenabbau im Rahmen einer Umstrukturierung führt ebenfalls zu einer Zunahme des Präsentismus-Verhaltens. Bei der Betriebsgröße, Einführung neuer Technologien oder Computerprogrammen konnte kein Einfluss festgestellt werden.[5]

Die genannten Faktoren bündeln sich in verschiedenen Gründen, die von Beschäftigten angeführt werden bei der Frage nach dem ‚Warum?’:

(Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Kramer, I./Oster, S./Fiedler, M.: 2013, S. 7.)

Für die arbeits- und organisationsbezogenen Einflussfaktoren gibt es erste Hinweise, dass diese im Vergleich zu den beiden anderen leicht bedeutsamer sind.[6] Diese Erkenntnis und die genannten Gründe sind relevant für die Präventionsarbeit in den Unternehmen.

Effekte und Handlungsempfehlungen für Unternehmen

Neben den individuellen gesundheitsbezogenen Aspekten ist das Phänomen Präsentismus auch mit negativen betriebswirtschaftlichen Effekten für Unternehmen verbunden. Arbeitnehmer, die trotz psychischer und/oder physischer Erkrankung zur Arbeit gehen, sind weniger leistungsfähig, fehleranfälliger und erleiden und verursachen unter Umständen mehr Unfälle. Kurz gesagt kostet Präsentismus Unternehmen und Organisationen Geld.[7] Nicht nur durch die verminderte Produktivität sondern vielmehr auch durch verzögerte Entscheidungen, Fehlentscheidungen und Beeinträchtigungen von Kundenbeziehungen. Einige Untersuchungsergebnisse weisen darauf hin, dass die Kosten von Präsentismus deutlich, teilweise um ein Mehrfaches höher ausfallen können, als die, die als Folge von Krankmeldungen entstehen.[8]

Was können Unternehmen und Organisationen im Bereich Prävention und Intervention nun konkret unternehmen, um den gesundheitsgefährdenden Präsentismus zu vermindern? Einige der möglichen Maßnahmen werden nachfolgend erläutert:[9]

  • Unterstützung der Beschäftigten, gesundheitsbewusste Entscheidungen treffen zu können durch die Vermittlung von Gesundheitswissen in Form von Gesundheitscoachings, Achtsamkeits- und Stressbewältigungsseminaren.
  • Gewährleistung materieller Sicherheit, um Präsentismus aus wirtschaftlichen Motiven zu verhindern. Das kann z. B. dadurch geschehen, dass Bonuszahlungen nicht durch krankheitsbedingte Abwesenheiten beeinträchtigt werden.
  • Unterstützung der Beschäftigten, die Aufgaben stressfrei und eigenverantwortlich erfüllen zu können durch das Bereitstellen von entsprechenden Ressourcen wie Personal, Informationen, Kompetenzen etc.
  • Eine Unternehmenskultur der Fairness und des Vertrauens anstreben. Sensibler Umgang mit Fehlzeitenmanagement und Vorgesetztengesprächen. Eine mitarbeiterorientierte Führungskultur aufbauen, um einen nachhaltigen Umgang mit der Mitarbeitergesundheit zu garantieren.[10]

Präsentismus ist ein komplexes Phänomen, was die Formulierung von eindeutigen Empfehlungen erschwert. Die Bedeutung und Wirkung des Präsentismus sowie die Frage, wie man ihn erkennen und seinem Entstehen entgegenwirken kann, sollten schließlich Gegenstand der Ausbildung von Führungskräften sein. Nur so können Unternehmen pro-aktiv handeln und rechtzeitig einschreiten, bevor durch chronische und langwierige Erkrankungen negative Folgen für alle Beteiligten entstehen.

Und jeder von uns sollte beim nächsten Mal darüber nachdenken, ob es nicht sinnvoller wäre, besser für ein paar Tage im Bett zu bleiben als sich gesundheitlich angeschlagen und ohne Energie in die Arbeit zu schleppen. Wir wissen ja nun, welche weitreichenden Folgen das haben kann.

Literaturnachweis

Kramer, I./Oster, S./Fiedler, M.: Präsentismus: Verlust von Gesundheit und Produktivität. In Initiative Gesundheit und Arbeit – iga-Fakten Nr. 6. 1. Auflage 07/2013. Berlin/Essen 2013. S. 1 – 12

Oldenburg, C.: Präsentismus – die zweite Seite der Gesundheitsmünze. In Lohmann-Haislah, A. (Hrsg.): Stressreport Deutschland 2012. Psychische Anforderungen, Ressourcen und Befinden. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Dortmund/Berlin/Dresden 2012, S. 134 – 142

Schmidt, J./Schröder, H.: Präsentismus – Krank zur Arbeit aus Angst vor Arbeitsplatzverlust. In Badura, B./Schröder, H./Klose, J./Macco, K. (Hrsg.): Fehlzeiten-Report 2009. Arbeit und Psyche: Belastungen reduzieren – Wohlbefinden fördern. Berlin/Heidelberg 2010. S. 93 – 100

Ulich, E./Strasser, P.: Präsentismus. In Journal Psychologie des Alltagshandelns/Psychology of Everyday Activity. Vol. 3/No. 1. Innsbruck. 2010. S. 51 – 55. ISSN 1998-9970

[1] Oldenburg, C.: 2012, S. 134.

[2] Vgl. Kramer, I./Oster, S./Fiedler, M.: 2013, S. 7.

[3] Oldenburg, C.: 2012, S. 138.

[4] Oldenburg, C.: 2012, S. 139f.

[5] Oldenburg, C.: 2012, S. 140.

[6] Vgl. Kramer, I./Oster, S./Fiedler, M.: 2013, S. 7.

[7] Vgl. Kramer, I./Oster, S./Fiedler, M.: 2013, S. 3.

[8] Vgl. Ulich, E./Strasser, P.: 2010, S. 53.

[9] Vgl. Kramer, I./Oster, S./Fiedler, M.: 2013, S. 10ff.

[10] Vgl. Kramer, I./Oster, S./Fiedler, M.: 2013, S. 10ff.

Bildquellen

Titelbild: Gesundheit/Krankheit/Finanzen

URL: https://pixabay.com/de/krankheit-gesundheit-kosten-292571/ (16.04.16)

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