Wenn die grundlegenden Kernbedürfnisse (Kontakt, Einstimmung, Vertrauen, Autonomie, Liebe/Sexualität) in der Kindheit nicht erfüllt werden und der Versuch, diese Bedürfnisse durch Protest durchzusetzen, scheitert, kann das dazu führen, dass Kinder glauben, mit ihren eigenen Bedürfnissen würde etwas nicht stimmen. Sie sind oft nicht in der Lage zu erkennen, dass das wahre Problem in der unzureichenden Reaktion ihrer Bezugspersonen liegt und beginnen, die Mängel ihrer Umgebung als eigene Fehler zu betrachten. Um zu überleben, entwickeln sie Anpassungsstrategien, die zunächst als Schutzmechanismen fungieren, sich jedoch im Erwachsenenalter als einengende Einschränkungen erweisen, die den Zugang zu den eigenen echten Erfahrungen blockieren – sie werden „zum selbst gewählten Gefängnis“. In diesem Teil der Serie wird erläutert, wie das NARM-Modell dabei hilft, diese Überlebensstrategien zu erkennen und deren Einfluss auf Verhalten und Erleben zu verstehen (Heller & LaPierre, 2012b).
Kontakt-Überlebensstrategie
Die Kontakt-Überlebensstrategie entwickelt sich in der frühen Kindheit als Reaktion auf Schock- und Bindungstraumata (Ablehnung, Isolation, Misshandlung etc.). Diese frühen Erfahrungen führen zu einem bleibenden Zustand hoher Erregung und einem ständigen Gefühl drohender Gefahr. Die Betroffenen erleben eine unaufgelöste Furcht, die sich auf ihre gesamte Lebensführung auswirkt. Im Erwachsenenalter äußert sich diese Überlebensstrategie in Schwierigkeiten mit der physiologischen Regulierung und psychologischen Identitätsverzerrungen. Oft dissoziieren sie, um den Kontakt zu ihrem verzweifelten Inneren zu vermeiden, was zu systemischer Dysregulation und erhöhter Anfälligkeit für weitere Traumata führt (Heller & LaPierre, 2012a).
Es gibt zwei Untertypen, die beide auf unterschiedliche Weise von ihrem Körper abgeschnitten sind (Heller & LaPierre, 2012a; Heller & LaPierre, 2023, S.58):
- Der verstandsbetonte Untertyp: Menschen mit diesem Untertyp neigen dazu, Berufe zu wählen, die wenig emotionale Interaktion erfordern, wie technische oder wissenschaftliche Berufe. Sie nutzen ihre Intelligenz, um eine emotionale Distanz aufrechtzuerhalten und meiden intensive zwischenmenschliche Beziehungen.
- Der spiritualisierende Untertyp: Dieser Untertyp sucht Verbundenheit auf einer spirituellen Ebene. Durch frühe Traumata empfinden sie die Welt als lieblos und suchen daher Trost in der Natur oder im Spirituellen. Ihre hohe Sensibilität kann zu außergewöhnlichen spirituellen Erfahrungen führen, doch sie sind oft übermäßig empfänglich für Umweltreize und emotionale Belastungen.
Identität und Isoliertheit:
Die Kontaktstruktur zeigt sich oft in einer unscharfen Identität und einem ambivalenten Verhältnis zu zwischenmenschlichen Beziehungen: „Es besteht ein intensives Bedürfnis nach Kontakt und gleichzeitig extreme Angst davor“. Betroffene fühlen sich oft wie ein verängstigtes Kind und finden Halt in festen Rollen, fühlen sich aber außerhalb dieser Rollen unsicher und bedroht. Dies führt häufig zu Rückzug oder Kontaktabbruch (Heller & LaPierre, 2012a).
Wachstumsstrategien:
Die therapeutische Arbeit mit der Kontakt-Überlebensstruktur zielt darauf ab, Klienten behutsam mit ihrem Körper und ihren Emotionen zu verbinden. Der Fokus liegt auf positiven Erfahrungen und Ressourcen, um die Selbstberuhigung und Nervensystemorganisation zu fördern. Der Therapeut muss sensibel auf den Rhythmus des Klienten eingehen und den Kontaktaufbau sowie -abbruch sorgfältig begleiten, um eine gesunde Beziehung zu ermöglichen und innere Konflikte zu bearbeiten. Mit der Zeit können Klienten andere Menschen zunehmend als Unterstützung wahrnehmen statt als Bedrohung (Heller & LaPierre, 2012a).
Einstimmungs-Überlebensstrategie
Die Einstimmungs-Überlebensstrategie entwickelt sich in der frühen Kindheit als Antwort auf unzureichende emotionale und physische Fürsorge. Kinder, die diese Strategie entwickeln, geben ihre eigenen Bedürfnisse auf und passen sich an das Minimum an Fürsorge an. Dies prägt ihr Verhalten und ihre Identität tiefgehend, sodass sie Schwierigkeiten haben, ihre Bedürfnisse zu erkennen und auszudrücken, aus Angst vor Ablehnung und Demütigung. Stattdessen passen sie sich den Bedürfnissen anderer an und vernachlässigen ihre eigenen (Heller & LaPierre, 2012b, S.47).
Die Einstimmungs-Überlebensstruktur beim Erwachsenen:
Im Erwachsenenalter äußert sich diese Strategie oft in Betreuungsberufen und co-abhängigen Beziehungen. Ihre Neigung, andere zu umsorgen, dient oft dazu, ihre eigene Bedürftigkeit zu kaschieren und in den Hintergrund zu stellen. Dies führt jedoch häufig zu einem Gefühl der Leere und Frustration, da ihre eigenen Bedürfnisse nicht angemessen berücksichtigt werden (Heller & LaPierre, 2012a; Sheehan-Nutz, 2023).
Es entwickeln sich zwei Untertypen (Heller & LaPierre, 2023, S.76-77):
- der gehemmte Typ zeigt sich stolz auf seine Bedürfnislosigkeit und neigt zu extremer Zurückhaltung
- der unzufriedene Typ hat ständig das Gefühl, zu kurz zu kommen und tritt häufig fordernd auf
Wachstumsstrategien:
Therapeutische Ansätze konzentrieren sich darauf, den Klienten zu helfen, ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen und zuzulassen. Anstatt sich auf vergangene Erfahrungen der Entbehrung zu konzentrieren, fördert die NARM-Therapie die Entwicklung von Bewusstsein und Erfüllung. Klienten lernen, positive Emotionen zuzulassen und ihre Bedürfnisse auf gesunde Weise auszudrücken. Ziel ist es, ein Gleichgewicht zwischen der Fürsorge für andere und der eigenen Selbstfürsorge herzustellen und ein erfüllteres Leben zu ermöglichen (Heller & LaPierre, 2012a).
Die Vertrauens-Überlebensstrategie
Diese Überlebensstruktur entwickelt sich in einem Umfeld, wo die Bedürfnisse nach Bindung und Sicherheit ausgenutzt oder missachtet werden. Kinder, die unter solchen Bedingungen aufwachsen, erfahren oft Manipulation und Druck, sich den Erwartungen ihrer Bezugspersonen anzupassen. Sie lernen, dass Liebe und Anerkennung an Leistung und Konformität geknüpft sind. Diese Erlebnisse prägen die spätere Haltung des Kindes gegenüber Vertrauen und Abhängigkeit: Vertrauen wird mit Verrat und Manipulation verknüpft (Doerne & Heller, 2020; Sheehan-Nutz, 2023).
Die Vertrauens-Überlebensstruktur beim Erwachsenen:
Erwachsene, die diese Vertrauens-Überlebensstruktur entwickelt haben, kompensieren ein Gefühl von Ohnmacht und Kontrollverlust durch den Versuch, andere zu dominieren. Dies kann sich in charmanter Manipulation oder aggressiver Machtausübung äußern. Der Verführer-Typ verwendet Täuschung, um seinen Vorteil zu sichern, während der brachiale Typ Gewalt und Einschüchterung einsetzt, um seine Macht zu behaupten. Beide Strategien haben gemeinsam, dass sie eine Fassade aufrechterhalten, um ihre Unsicherheit zu verbergen, echte emotionale Nähe zuzulassen, aus Angst, die Kontrolle zu verlieren, oder zu versagen (Heller & LaPierre, 2012a).
In Beziehungen zeigen sich diese Dynamiken oft durch Machtspiele und Manipulation. Authentische und liebevolle Beziehungen aufrechtzuerhalten ist für sie schwierig, da sie eher nach Kontrolle und Dominanz streben (Doerne & Heller, 2020; Heller & LaPierre, 2023, S.94).
Wachstumsstrategien:
In der Therapie kann es besonders herausfordernd sein, mit diesen Klienten zu arbeiten, da sie dazu neigen, ihre Dominanz zu behaupten und die Therapie als Bedrohung wahrzunehmen. Der therapeutische Ansatz sollte klar und direkt sein, mit festen Grenzen und gleichzeitigem Verständnis für den tiefen Leidensdruck der Klienten. In der Therapie ist es wichtig, diesen Menschen zu helfen, ihre Verletzlichkeit zu erkennen und zu akzeptieren. Die Herausforderung liegt darin, ihnen zu zeigen, dass wahre Stärke im Vertrauen und nicht in der Kontrolle über andere liegt (Heller & LaPierre, 2012a; Sheehan-Nutz, 2023).
Fazit
Paradoxically, the more we try to change ourselves, the more we prevent change from occuring. On the other hand, the more we allow ourselves to fully experience who we are, the greater the possibility of change
~ Heller & LaPierre, 2012b
In unserem Leben pendeln wir ständig zwischen der Verbindung zu unserem innersten Kern und dem Gefühl der Abgeschnittenheit. Die Wiederherstellung seelisch-körperlicher Gesundheit erfordert nicht nur das Verständnis unserer persönlichen Lebensgeschichte, sondern auch die Stärkung des Zugangs zu unserer inneren Lebensquelle. Es ist entscheidend, das Leiden in jeder Überlebensstruktur zu erkennen und ihm mit Mitgefühl zu begegnen. Während dieser Beitrag lediglich drei von fünf adaptiven Überlebensstrategien aufgrund ihrer Komplexität komprimiert darstellt, bietet Laurence Hellers Buch umfassende und detaillierte Einblicke in diese Themen (Heller & LaPierre, 2012b).
Abbildung:
Abbildung 1: eigene Darstellung in Anlehnung an Heller & LaPierre, 2023, S. 62-63
Abbildung 2: eigene Darstellung in Anlehnung an Heller & LaPierre, 2023, S. 78-79
Abbildung 3: eigene Darstellung in Anlehnung an Heller & LaPierre, 2023, S. 96-97
Titelbild: eigene Grafik, erstellt mit Microsoft Copilot
Quellen:
Doerne, A. & Heller, L. (2020). Befreiung von Scham und Schuld- alte Überlebensstrategien auflösen und Lebenskraft gewinnen. München: Kösel-Verlag.
Sheehan-Nutz, A. (2023). Ein Überblick über die NeuroAffective Relational Model (NARM)- Therapie. Impakt Coaching & Consulting. Zugriff am 31.07.2024. Verfügbar unter https://www.impaktcoaching.com/an-overview-of-neuroaffective-relational-model-narm-therapy/
Heller, L. & LaPierre, A. (2012a). Entwicklungstrauma heilen: Alte Überlebensstrategien lösen, Selbstregulierung und Beziehungsfähigkeit stärken (1. Aufl.). München: Kösel-Verlag.
Heller, L. & LaPierre, A. (2012b). Healing Developmental Trauma: How early Trauma affects Self-Regulation, Self-Image, and the Capacity for Relationship. Berkeley, California: North Atlantic Books.
Heller, L. & LaPierre, A. (2023). Entwicklungstrauma heilen: Alte Überlebensstrategien lösen, Selbstregulierung und Beziehungsfähigkeit stärken (9.Aufl.). München: Kösel-Verlag.