Der Hashtag #ADHD (englisch für ADHS) umfasst auf TikTok über 3,8 Millionen Beiträge, #Autism (Autismus) ist in 2,8 Millionen Beiträgen enthalten, und der Hashtag #Depression (Depressionen) erreicht 3,5 Millionen Beiträge (TikTok, 2025). Diese Zahlen zeigen, wie stark psychische Erkrankungen auf der Plattform thematisiert werden – ein Thema, das noch vor wenigen Jahren oft als Tabu galt. Doch ist diese gesteigerte Sichtbarkeit ausschließlich positiv, oder birgt sie auch Risiken? Könnte TikTok, ähnlich wie „Dr. Google“, mit seinen kurzen, oft vereinfachten Videos eher Fehldiagnosen fördern als echte Aufklärung bieten?
Social comparison theory und Confirmation Bias
Um zu verstehen, wie Selbstdiagnosen auf sozialen Medien entstehen, ist es wichtig, die psychologischen Mechanismen dahinter zu beleuchten. Eine zentrale Theorie ist die Theorie des sozialen Vergleichs (Social Comparison Theory) von Leon Festinger (1954). Diese Theorie beschreibt das menschliche Bedürfnis, sich mit anderen zu vergleichen, um die eigene Identität, Fähigkeiten oder Zustände besser einordnen und verstehen zu können (Kessler & Fritsche, 2018, S. 76).
Im Kontext von sozialen Medien wie TikTok, wo persönliche Erfahrungen und Symptome oft in kurzen, vereinfachten Videos dargestellt werden, kann dieser Vergleich besonders ausgeprägt sein. Personen, die nach Erklärungen für ihre Symptome suchen, orientieren sich an den Inhalten anderer. Wenn beispielsweise TikTok-Videos über Symptome von psychischen Störungen wie ADHS oder Depressionen gesehen werden, könnte dies dazu führen, dass Menschen ihre eigenen Anzeichen in einem ähnlichen Licht interpretieren – unabhängig davon, ob eine tatsächliche Diagnose vorliegt.
Ein weiterer Prozess im Zusammenhang mit Selbstdiagnosen ist der Bestätigungsfehler (Confirmation Bias). Diese kognitive Verzerrung führt dazu, dass wir dazu neigen, unser eigenes Wissen und unsere Überzeugungen zu bestätigen, während wir widersprüchliche Informationen ausblenden. TikTok verstärkt diesen Effekt, indem der Algorithmus gezielt ähnliche Inhalte vorschlägt, die unsere bestehende Meinung stützen. Dies führt dazu, dass wir uns in unserer Wahrnehmung noch stärker bestätigt fühlen (BARMER, 2023).
TikTok als Plattform für Gesundheitsaufklärung?
Eine kanadische Studie untersuchte die Qualität von TikTok-Videos über ADHS und zeigte, dass viele Inhalte irreführend waren. Die Analyse der 100 beliebtesten Videos ergab, dass einige falsche Informationen verbreiten, was Fehldiagnosen und Missverständnisse fördern kann. Die Forscher betonten hierbei, dass genauere, evidenzbasierte Inhalte auf sozialen Medien geteilt werden sollten, um die öffentliche Wahrnehmung von ADHS zu verbessern (Yeung et al., 2022).
Bei der Recherche nach TikTok-Videos zum Thema ADHS fiel ein Video auf, das 3,9 Millionen Aufrufe hatte. Darin wurden Beispiele wie die Fähigkeit, Filmhandlungen vorherzusagen, das ständige Hören desselben Liedes oder eine Abneigung gegen Nachmittagstermine genannt. In den über 260.000 Kommentaren wird schnell deutlich, dass sich viele Menschen mit diesen Punkten identifizieren. Ob der Creator bewusst Punkte auswählt, die auf eine große Anzahl von Menschen zutreffen, um dadurch mehr Reichweite zu generieren, kann nur er selbst beantworten. Manche der Kommentare sprechen jedoch genau diese fragwürdige Intention an (@pearl.dock, 2024).
Dies zeigt, dass die kurzen Videos zu vereinfacht und unvollständig sind, um einem Individuum eine fundierte Diagnose zu ermöglichen. Zwar haben einige Creator möglicherweise die Intention, aufzuklären und zu helfen, doch dies kann leicht missverstanden werden und im schlimmsten Fall ernstzunehmende psychische Erkrankungen verharmlosen.
Handlungsempfehlung
Es ist entscheidend, wie wir mit den Informationen umgehen, die wir beispielsweise über die Plattform TikTok aufnehmen. Die folgenden Ansätze können helfen, mehr Klarheit über die Inhalte und die eigene Situation zu gewinnen:
- Es ist wichtig, echte Fakten von Fehlinformationen zu unterscheiden. Vertrauenswürdige Quellen, wie medizinische Fachliteratur und wissenschaftliche Publikationen, können hier aufschlussreich sein.
- Stark vereinfachte oder unseriöse Informationen sollten direkt weitergescrollt werden, um zu verhindern, dass sie in den Algorithmus aufgenommen werden. Schnelles Weiterscrollen gibt Ihnen mehr Kontrolle über Ihren Feed (Adobe Express, 2024).
- Besteht der Verdacht auf eine psychische Erkrankung, sollte man sich grundsätzlich an Fachpersonen wenden. Die erste Anlaufstelle ist in der Regel der Hausarzt.
- Soziale Medien können eine sinnvolle Ergänzung sein, sollten jedoch niemals fundierte medizinische Beratung ersetzen.
Fazit
Die Theorien der Social Comparison Theory und des Confirmation Bias verdeutlichen, wie leicht man in einen Informationsfluss geraten kann, der überwältigend und beängstigend sein kann. Daher sollte TikTok niemals die einzige Informationsquelle sein. Wenn jedoch bereits eine ärztliche Diagnose oder die Vermutung durch einen Facharzt vorliegt, kann TikTok als nützliches Tool für den Austausch mit anderen Betroffenen dienen. Früherkennung ist zwar wichtig, dennoch sollten hierfür zuverlässige und umfassendere Ressourcen als TikTok genutzt werden.
Literaturverzeichnis
Adobe Express. (2024). TikTok Algorithmus: So funktioniert er wirklich. https://www.adobe.com/de/express/learn/blog/tiktok-algorithmus
BARMER. (2023, Oktober 12). Confirmation Bias: Warum wir Informationen filtern. https://www.barmer.de/magazin/gehirn-und-psychologie/confirmation-bias-warum-wir-informationen-filtern-1134560
Kessler, T., & Fritsche, I. (2018). Sozialpsychologie. Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-531-93436-5
@pearl.dock (Regisseur). (2024, November 24). [Video recording]. https://vm.tiktok.com/ZNeExGxDn/
TikTok. (2025). Hashtag-Statistiken zu #ADHD, #Autism und #Depression. https://www.tiktok.com
Yeung, M., Han, J., & Malhotra, A. (2022). Accuracy of ADHD-related content on TikTok: An analysis of popular videos. Canadian Journal of Psychiatry, 67(8), 574–581. https://doi.org/10.1177/07067437221096589
Titelbildquelle
Cottonbro Studio. (2020). https://www.pexels.com/de-de/foto/hande–iphone-technologie-display-5081930
Nutzungsbedingung unter https://www.pexels.com/de-DE/lizenz/, abgerufen am 26.02.2025.