By Published On: 27. Januar 2023Categories: Psychologie

Eine Influencerin plädiert neuerdings dafür, sich komplett von Scham zu befreien, um Sexualität lustvoll und selbstbestimmt erleben zu können. Der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller hingegen empfiehlt in seiner Kolumne für das Spektrum-Magazin, auf Schamgefühle so gut zu achten wie auf Stoppschilder im Straßenverkehr (Müller 2023). Was ist der richtige Weg?

Scham durch Defizite in der Selbstwahrnehmung

Wenn wir von Scham sprechen, müssen wir uns darüber im Klaren sein, was wir meinen. Laut Blumenthal (2014) handelt es sich bei der Scham um eine „komplexe“ Emotion, da das charakteristische Erleben beim Empfinden von Scham darauf beruht, dass wir uns selbst in eine Perspektive versetzen, in der wir uns von außen beobachten und Defizite an uns selbst wahrnehmen (S. 17). Was kann die Ursache dafür sein, dass wir in manchen Situationen primär unsere Defizite wahrnehmen?

Das Lexikon der Psychologie nennt als Grund dafür bestehende Werte, Normen, Regeln oder Ansprüche, denen wir ausgesetzt sind. Scham wird als eine negative Emotion definiert, die durch das Gefühl entsteht, diversen Ansprüchen nicht gerecht geworden zu sein (Puca 2021). Laut den Einschätzungstheorien von Arnold und Lazarus (siehe Abbildung) gehen der Entstehung von Emotionen immer faktische und evaluative Kognitionen voraus (Reisenzein 2022). Durch kulturspezifische Einschätzungsprozesse können Habitualisierungen unbewusst ablaufen, wodurch z. B. Körperscham als quasi „natürlich“ erscheinen kann (Blumenthal 2014, S. 19).

Als Reaktion errötet der Mensch, schlägt die Augen nieder, senkt den Kopf oder bedeckt das Gesicht mit den Händen. Das damit verbundene Bedürfnis, unsichtbar zu werden oder sprichwörtlich im Boden zu versinken (Puca 2021) scheint auf den ersten Blick für ein erfülltes Sexleben eher hinderlich zu sein.

Abbildung: Psychologische Mechanismen, Konzepte und Theorien um die sexuelle Scham. Quelle: Eigene Darstellung (2023).

Wie kann es gelingen, unser Selbst in ein gesundes, schambefreites Licht zu rücken?

Sex und Scham sind große Themen in queeren Communities. In unserer Gesellschaft ist es laut Jugendarbeiterin Sandra Schäfer leider immer noch so, dass alles, was von Heteronormativität oder der Binarität der Geschlechter abweicht, schambehaftet ist. Ihr Ratschlag ist, der Scham den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem man über die jeweiligen Themen redet. Über Begehren und Emotionen sollte also immer offen gesprochen werden (Duttweiler 2022, S. 16). Über „bestimmte Dinge“ können laut Schumacher (2018) aus Angst und Scham jedoch nicht einmal heterosexuelle Männer mit ihren Partnerinnen reden. Sie haben Angst vor ihren eigenen Bedürfnissen, davor nicht zu genügen, nicht männlich zu sein, vor mangelnder Erektionshärte, eine Kränkung oder Unlust bzw. Ekel zuzugeben. Mannsein klafft in dieser Hinsicht oft weit vom dargestellten leistungsbezogenen Mannsein auseinander (S. 75). Demzufolge empfinden Männer beim Sex oft leistungsbezogene Scham, wobei Kausalattribution (siehe Abbildung) eine Rolle spielt: Die Leistungsmotivationsforschung geht davon aus, dass Scham vor allem dann entsteht, wenn Misserfolg auf internale Faktoren wie mangelnde Fähigkeit zurückgeführt wird (Puca 2021). Und wie sieht es bei den Frauen aus? Sie schämen sich für ihre Fantasien oder ihre Lust, denn die Gesellschaft erwartet häufig noch immer, dass Frauen sich zügeln (Müller 2023). Interessant ist, dass der Heidelberger Fragebogen zu Schamgefühlen – ein Instrument zur Messung von Scham – genau diese beiden Unterschiede in zwei Subskalen differenziert: Eine Subskala erfasst Schamgefühle in Bezug auf den eigenen Körper und die eigene Sexualität, die zweite in Bezug auf Leistung und soziale Anerkennung (Hennig-Fast et al. 2015, S. 355).

Scham als moralisch wertvolles Gefühl

Thomason (2018) bezeichnet Scham als einen weit gefassten Begriff, der folgende vier Bereiche umfasst: Schamgefühle, Schamaufforderungen, Beschämung und Stigmatisierung. Er fasst Scham als moralisch wertvolles Gefühl auf und grenzt dieses Argument in seiner Bedeutung klar von beschämenden Verhaltensweisen ab (S. 178). Wenn die Sexualität zwanghaft jeglicher Schuld und Scham entledigt werden soll, so Wettstein (2017), tauchen diese beiden Gefühle in anderen Lebenszusammenhängen wieder auf und belagern die Psyche. Eine Studie zeigt, dass die Gefühle der Scham und der Beschämung bei Jugendlichen gerade auch im Sexualunterricht zentral sind (S. 93–94).

Dass ein Gefühl moralisch wertvoll ist, bedeutet nicht, dass andere versuchen sollten, jemanden diese Emotion fühlen zu lassen (Thomason 2018, S. 178). Dieser beschämende Aspekt der Scham ist ein dominanter Mechanismus in der Kontrolle des Weiblichen (siehe Abbildung), sei es in Form von offener Gewalt und Erniedrigung durch Vergewaltigung und Missbrauch, in der Pornografie und „Unterhaltung“ oder in Form von Cyber-Mobbing und Trolling. Auch auf viel subtilere Weise kann Scham bei Frauen wirken, z. B. durch den unvermeidlichen Vergleich mit stark geschminkten, Photoshop-bearbeiteten Models in den Medien, oder durch die Ermutigung zu chirurgischen Eingriffen, wenn Frauen suggeriert wird, Teile ihres Körpers seien zu groß oder zu klein bzw. zu schlaff oder zu alt, um einer seltsam willkürlichen männlichen Auffassung davon zu entsprechen, wie eine Frau auszusehen hat (Clough 2017, S. 69).

Schamgefühle sind in Abgrenzung zur Beschämung also wertvoll und zeigen uns, wo mögliche Grenzen liegen. Sie sorgen dafür, dass wir in manchen Situationen kurz innehalten und überlegen können, ob wir unsere Grenzen erweitern möchten (Müller 2023). Kommen wir an dieser Stelle noch einmal zurück zur Kausalattribution (siehe Abbildung), bei der u. a. zwei Dimensionen wirken: Die Lokation (Liegt die Ursache innerhalb oder außerhalb unserer Person – internal vs. external?) und die Kontrollierbarkeit. Eine Kombination dieser beiden Dimensionen beeinflusst Emotionen wie die Scham (Schöne und Tandler 2021). Eine Kausalattribution auf internal-kontrollierbare Ursachen ist beim Thema Sex und Scham aufgrund ihrer Steuerbarkeit durch die Person sehr günstig. Das funktioniert, wenn die Rahmenbedingungen gut sind. Wenn wir einen Partner haben, dem wir vertrauen und dem gegenüber wir alles aussprechen können, können wir Neues wagen, wenn wir es wollen. Am Ende geht es immer darum, für sich den richtigen Weg zu finden (Müller 2023).

Fazit

Die Frage, ob wir uns komplett von Scham befreien oder sie als Stoppschild wahrnehmen und gut darauf achten sollten, setzt eine Differenzierung voraus: Handelt es sich um Beschämung, die z. B. eine dominante Kontrolle der Frau zum Ziel hat, ist sie als moralisch nicht wertvoll einzustufen. Ist die Scham ein Hinweis wie ein Stoppschild im Straßenverkehr, sollten wir eine mögliche Grenze wahrnehmen, kurz innehalten und überlegen, welchen Weg wir einschlagen möchten. Die Einschätzungstheorie besagt, dass Emotionen immer ein Produkt von faktischen und evaluativen Kognitionen sind. Wenn die Scham von außen induziert ist, wie z. B. die kulturspezifisch habitualisierte Körperscham, kann sie für ein erfülltes Sexleben eher hinderlich sein. Eine Kausalattribution auf internal-kontrollierbare Ursachen ist aufgrund ihrer Steuerbarkeit günstig. Wichtig ist, dass wir eine vertrauensvolle Beziehung mit unserem Partner führen, in der wir unsere Bedürfnisse aussprechen können und gemeinsam den richtigen Weg finden.

Literatur:

Blumenthal, Sara-Friederike (2014): Scham in der schulischen Sexualaufklärung. Eine pädagogische Ethnographie des Gymnasialunterrichts. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden; Imprint: Springer VS.

Clough (2017): Shame, the Church and the Regulation of Female Sexuality. Milton: Taylor and Francis (20).

Duttweiler, Stefanie (2022): Liebe, Sex und Anders-sein. In: Sozial extra 46 (1), S. 14–19.

Hennig-Fast, Kristina; Michl, Petra; Müller, Johann; Niedermeier, Nico; Coates, Ute; Müller, Norbert et al. (2015): Obsessive-compulsive disorder – A question of conscience? An fMRI study of behavioural and neurofunctional correlates of shame and guilt. In: J PSYCHIATR RES 68, S. 362. DOI: 10.1016/j.jpsychires.2015.05.001.

Müller, Carsten (2023): Sollten wir uns beim Sex weniger schämen? Hg. v. Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH. Heidelberg. Online verfügbar unter https://www.spektrum.de/kolumne/scham-sollten-wir-uns-beim-sex-weniger-schaemen/2091816.

Puca, Rosa Maria (2021): Scham im Dorsch Lexikon der Psychologie. Online verfügbar unter https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/scham.

Reisenzein, Rainer (2022): Emotionstheorien, kognitive im Dorsch Lexikon der Psychologie. Online verfügbar unter https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/emotionstheorien-kognitive.

Schöne, Claudia; Tandler, Sarah (2021): Kausalattribution im Dorsch Lexikon der Psychologie. Online verfügbar unter https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/kausalattribution.

Schumacher, Hajo (2018): Männerspagat : Wie wir mit Offenheit, Respekt und Leidenschaft die alten Rollen überwinden. Unter Mitarbeit von Eichborn Verlag. 1. Auflage 2018. Köln: Bastei Entertainment. Online verfügbar unter http://search.ebscohost.com/login.aspx?direct=true&scope=site&db=nlebk&AN=1942100.

Thomason, Krista K. (2018): Naked. The dark side of shame and moral life. New York, NY: Oxford University Press.

Wettstein, Harri (2017): Sexualaufklärung und Herausforderung Pornographie : Zur digitalen Wirklichkeit des Porno-Konsums bei Jugendlichen. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden Imprint: Springer. Online verfügbar unter https://ubdata.univie.ac.at/AC12322379.

Quellenangabe:

Adobe Stock, #403094751, Closeup of pensive unhappy man in the bedroom with a woman in underwear at the background, Von PKpix

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