Parentifizierung ist ein schädliches Phänomen in familiären Strukturen unter welchen Kinder und Jugendliche sehr leiden können. Was genau Parentifizierung ist, was sie auslöst und was für Folgen sie haben kann, wird im Folgenden erläutert. Doch wie wird damit umgegangen und gibt es Unterstützung für Betroffene?
Parentifizierung
Parentifizierung ist die Übernahme der Elternrolle durch die Kinder. Dabei steht das Kind einem oder beiden Elternteilen zur Verfügung und wird verpflichtet eine zentrale Rolle zu übernehmen. Bei der Parentifizierung werden Aufgaben von Kindern übernommen, welche eigentlich von den Eltern getragen werden sollten. Dabei ist kein Mithelfen im Haushalt gemeint, sondern eher eine Rollenumkehr, bei welcher sich das Kind verhält wie eine Mutter oder ein Vater. Es fungiert als Dienstleister*in, Pfleger*in, Mediator*in, „Ersatzpartner*in“ oder setzt die Lebens- und Karrierewünsche der Elternteile um (Fegert et al., 2023, S. 411; Faupel, 2024).
Es wird zwischen instrumenteller und emotionaler Parentifizierung unterschieden. Bei ersterer übernimmt das Kind Aufgaben wie die Versorgung, Erziehung und Pflege von Geschwisterkindern und Angehörigen, dabei findet meist keine Begleitung statt. Beispielsweise ein nicht altersgemäßes Führen des Haushalts. Emotionale Parentifizierung meint, dass Kinder für die emotionale Stabilität der Eltern oder deren Beziehung verantwortlich sind und als Berater*in der Familie fungieren (Faupel, 2024; Barth, 2023)
Ursachen der Parentifizierung
Parentifizierung ist meist keine bewusste Entscheidung (Faupel, 2024). Sie hat viele verschiedene Ursachen, im Folgenden werden die Risikogruppen erläutert:
Einkommensschwäche: Einige Kinder betreiben Kinderarbeit. Außerdem übernehmen sie oft viele Haushaltsaufgaben, da viele Eltern überdurchschnittlich lange und viel Arbeiten müssen (Ellmer, 2020, S. 24).
Kranke Eltern: Aufgrund von psychischen und physischen Schwierigkeiten übernehmen Kinder mehr Aufgaben im Haushalt und versorgen sich und ihre Eltern im Alltag. Durch die Tabuisierung psychischer Krankheiten, wird es erschwert Hilfe von außen zu erhalten. Kinder psychisch kranker Eltern fühlen sich oft für das Wohlbefinden ihrer Eltern verantwortlich (Ellmer, 2020, S: 25; Barth, 2023, Fegert et al., 2023, S. 410f.).
Eheprobleme und Trennung: Kinder werden oft als Streitschlichter*innen herangezogen. Bei Trennungen müssen Kinder oft Vermitteln und befinden sich in einer toxischen Dreiecksbeziehung. Die Instabilität und Rollenveränderung führt dazu, dass Kinder neue und mehr Rollen übernehmen müssen, emotionale sowie den Haushalt und die Geschwisterkinderbetreuung betreffende (Ellmer, 2020, S. 25f.; Barth, 2023).
Familien mit Migrationshintergrund: Kinder fungieren oft als Dolmetscher*innen oder Vermittler*innen in gesundheitlichen, rechtlichen, finanziellen, sozialen und behördlichen Fragen (Ellmer, 2020, S. 27).
Trauma der Eltern: Traumatisierte Eltern (vor allem Mütter) suchen oft Zuneigung zu ihrem Kind für sich selbst und nicht um vorwiegend fürsorgend für das Kind da zu sein (Ellmer, 2020, S. 27).
Auch Kinder können durch ihr Verhalten Generationsgrenzen überschreiten. Empathische, schüchterne, sensible, kontaktarme, als sehr kompetent bewertete Kinder sind diejenigen, welche am ehesten parentifiziert werden. Auch eine hohe Füsorgefähigkeit von Kindern, sowie Kinder von Eltern mit desorganisierten Bindungsstilen zeigen ein höheres Risiko auf. Ebenso Kinder mit Missbrauchserfahrungen, da diese ausgeprägt sensibel auf Konflikte reagieren und helfen wollen (Ellmer, 2020, S. 28).
Folgen von Parentifizierung
Die dysfunktionalen Verhaltensweisen der Eltern können dazu führen, dass die emotionale Sicherheit der Kinder nicht gegeben ist. Viele Kinder weisen folglich Probleme bei der Emotions- und Verhaltensregulation auf, diese wiederum steigern das Risiko für Erlebens- und Verhaltensauffälligkeiten, sowie Bindungsstörungen (Fegert et al., 2023, S. 410f.). Kinder die parentifiziert werden, sind meistens überfordert, leiden oft unter Stress, haben ein geringes Selbstwertgefühl, können an Angststörungen oder Depressionen erkranken und können durch die Parentifizierung Traumata erleiden. Parentifizierung kann die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hindern. Entweder leiden sie unter jahrelanger Erwartungshaltungen ohne Anerkennung oder sie stellen sich gegen die Eltern und haben mit den Folgen eines schlechten Gewissens und Schuldgefühlen zu kämpfen (Faupel, 2024). Durch Parentifizierung kann außerdem die schulische Leistung nachlassen, da weniger Zeit und Energie für die Schule bleiben. Auch Leistungsverweigerung bis hin zu Perfektionismus werden beobachtet. Außerdem weisen parentifizierte Kinder ein höheres Risiko auf, Opfer von Missbrauch zu werden, Jugendschwangerschaften zu durchleben und ihre eigenen Kinder später selbst zu parentifizieren. Auch ungesunde Coping-Strategien wie das Unterdrücken und Verdrängen von Gefühlen, sowie eine erhöhte Suchtanfälligkeit können Folgen von Parentifizierung sein (Barth, 2023, Faupel, 2024; Ellmer, 2020, S. 30-34).
Betroffenen helfen
Wenn Kinder und Jugendliche wegen Folgen von Parentifizierung therapiert werden, ist damit auch immer Arbeit mit deren Umfeld verbunden, da sie stark abhängig davon sind. Der*die Therapeut*in kann dem Kind helfen, seine Kontaktfunktion auszubauen und an seinem Selbstbild zu arbeiten. Dabei wird das Erleben der eigenen Sinneserlebnisse, Gefühle und Körpererfahrungen gefördert (Ellmer, 2020, S. 82). Es wird am und mit dem Erleben der Kinder gearbeitet und gemeinsam Möglichkeiten gesucht, die aktuelle Situation so angenehm wie möglich zu gestalten. Gleichzeitig ist es wichtig, herauszuarbeiten, wie sich die Kinder in ihrem Umfeld verhalten können, damit sie ihre eigenen Bedürfnisse erfüllen können, aber trotzdem keine Abwertung erfahren. Sie brauchen in der Therapie das Gefühl, ernstgenommen zu werden und ein Begegnen auf Augenhöhe, wie bei Erwachsenen (Ellmer, 2020, S. 83f.). Das Ziel einer Therapie bei Parentifizierung ist es, ein Gleichgewicht in dem Beziehungsleben herzustellen (Ellmer, 2020, S. 82). Betroffene Kinder werden meist von Ärzt*innen, Jugendhilfemitarbeiter*innen, Lehrerkräften oder Eltern aufgrund einer Verhaltensauffälligkeit für die Therapie vorgestellt. Meistens ist den Kindern und Eltern die Parentifizierung gar nicht bewusst. Wenn die Eltern kooperativ und bemüht sind, an den familiären Problemen zu arbeiten und dies hilfreich für das Kind ist, ist es sehr wichtig, diese einzubeziehen (Ellmer, 2020, S. 85f.). Ziel der Elternarbeit ist es, Bewusstsein für die Parentifizierung zu schaffen und Kind sowie Elternteil aufzuklären und Veränderungen zu schaffen. Die Kooperation mit den Eltern ist nicht immer einfach, oft trifft man auf Unverständnis oder Widerstand. Wenn Eltern Persönlichkeitsstörungen aufweisen, ist ein besonders behutsamer, empathischer Umgang wichtig und oft zusätzliche Maßnahmen notwendig (Ellmer, 2020, S. 88f.).
Fazit
Parentifizierung ist ein komplexes Phänomen, welches meist unbewusst in Familien stattfindet. Die Rollenumkehr von Eltern mit Kindern und Jugendlichen passiert aufgrund verschiedener Ursachen. Risikogruppen sind Eltern die mit psychischer/physischer Krankheit, Einkommensschwäche, Migration oder Eheproblemen zu kämpfen haben. Kinder und Jugendliche sind die Opfer der Parentifizierung und leiden unter Überforderung, Verhaltensauffälligkeiten, Emotionsregulation-Schwierigkeiten und potenziellen psychischen Problemen. Gezielte therapeutische Behandlung kann den Kindern mit Einbindung des familiären Umfelds helfen und Veränderung schaffen.
Literaturverzeichnis
Barth, S. (2023). Parentifizierung – 11 bemerkenswerte Spätfolgen des frühen Rollentauschs zwischen Eltern und Kind. Abgerufen am 15.05.2025 auf https://susanne-barth.com/kriegsenkel/parentifizierung-spaetfolgen/
Ellmer, P. (2020). In: Parentifizierung bei Kindern und Jugendlichen – Gestalttherapeutische Behandlungsansätze, 1. Auflage, Gosau
Faupel, J. (2024). Parentifizierung – Kinder werden zu Elternteilen erklärt | Scheidung | Trennung | Krankheit. Abgerufen am 15.05.2025 auf https://parentifizierung.de/
Fegert, J. M.; Meysen, T.; Kindler, H.; Chauviré-Geib, K.; Hoffmann, U.; Schuhmann, E. (2023). In: Gute Kinderschutzverfahren Tatsachenwissenschaftliche Grundlagen, rechtlicher Rahmen und Kooperation im familiengerichtlichen Verfahren, 1. Auflage, Ulm
Titelbildquelle:
Titelbild von Camellia Yang veröffentlicht am 3. Juli 2020 auf https://unsplash.com/de/fotos/graustufenfoto-der-babypuppe-auf-holzbank-3Gu4mAhm7hs
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