Es ist eine Entscheidung, über die viele Menschen nicht gerne nachdenken wollen: Möchte ich, wenn es so weit kommt, meine Organe spenden? Natürlich, einerseits könnte man damit Leben retten, andererseits ist der Gedanke daran irgendwie unangenehm. Dass man sich diese Gedanken überhaupt macht, ist aber schon ein Schritt in die richtige Richtung, denn das Wichtigste ist, eine Entscheidung zu treffen.
Zahlen und Fakten
Im Jahr 2024 gaben in einer Umfrage des Bundesinstitutes für Öffentliche Gesundheit 62 % der befragten Personen an, eine Entscheidung in Bezug auf die Organspende getroffen zu haben, davon stimmten 74 % einer Spende zu. Aber: Nur 45 % haben diese Entscheidung aber auch dokumentiert, das heißt nur ein Bruchteil der Personen, die spenden würden, sind auch offiziell Organspender:innen.
Die Einstellung zur Organspende im Allgemeinen ist in Deutschland positiv: 85 % der Befragten gaben an, der Organspende grundsätzlich positiv gegenüber zu stehen (Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit [BIÖG], 2025a). Woher kommt diese große Abweichung zwischen Haltung und wirklicher Handlung? Fakt ist: es werden viel mehr Organe benötigt, als gespendet werden. 2024 wurden in Deutschland zum Beispiel 2.855 Organe postmortal entnommen, von denen ungefähr 2.478 auch an Empfänger:innen in Deutschland vermittelt wurden (Deutsche Stiftung Organtransplantation, 2025, S. 74). Insgesamt wurden 3.701 Organe transplantiert, das heißt einige kamen aus dem Ausland (Deutsche Stiftung Organtransplantation, 2025, S. 82). Aber dennoch: Stand Ende Dezember 2024 werden in Deutschland mehr als 8.500 Spenderorgane benötigt, deutlich mehr, als gespendet werden (Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, 2025).
Die aktuelle gesetzliche Lage in Deutschland
Aktuell gilt in Deutschland die Entscheidungslösung. Das heißt eine Organentnahme ist nur erlaubt, wenn man zu Lebzeiten ausdrücklich zugestimmt hat (z.B. in einem Organspendeausweis) oder wenn die Angehörigen nach dem Tod einwilligen. Wer keine Entscheidung trifft, ist nicht automatisch Spender (BIÖG, 2025b). Seit Jahren wird die sogenannte Widerspruchslösung in Deutschland diskutiert. Mit dieser wäre jede Person automatisch Spender:in, außer sie widerspricht dem aktiv. Das Ziel: mehr Spenden und eine Entlastung der Angehörigen (BIÖG, 2025b).
In Ländern wie Spanien oder Österreich, in denen die Widerspruchslösung gilt, sind die Zahlen der Organspenden tatsächlich höher. Das kann aber neben der Widerspruchslösung auch andere Gründe haben, zum Beispiel besser abgestimmte Abläufe (Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin, 2018, S. 697). Auch Befürworter:innen der Widerspruchslösung betonen, dass diese kein Wundermittel ist, sondern nur zusammen mit Aufklärung und Vertrauen funktionieren kann (Nadine Körner, 2025).
Egal, welches Gesetz am Ende gilt, liegt die Hürde vielleicht in uns selbst?
Warum treffen wir nicht einfach eine Entscheidung?
Bei vielen Menschen ist das Problem: sie denken nicht daran. Organspende ist kein Thema, das uns täglich im Alltag begegnet und taucht nur selten auf, zum Beispiel bei Kampagnen. Ohne akuten Anlass gerät das Thema bei den meisten schnell in Vergessenheit.
Andere vergessen das Thema nicht, sondern verdrängen es. Sich mit der Organspende zu beschäftigen, zwingt uns automatisch dazu, über den eigenen Tod nachzudenken. Das löst Unbehagen aus: die Mortalitätssalienz führt zu einem existentiellen Angstgefühl, das wir lieber vermeiden wollen (Kessler & Fritsche, 2018, S. 86).
Auch die Entscheidungsvermeidung an sich spielt eine Rolle: anstatt bei einer so emotionalen und belastenden Entscheidung die vermeintlich Falsche zu treffen, treffen wir lieber keine – vor allem wenn es keine Pflicht zur Entscheidung gibt. Das Phänomen wird auch als „decision avoidance“ bezeichnet (Anderson, 2003, S. 139–140).
Dazu kommt Unsicherheit: Wie genau funktioniert das mit der Spende? Kann ich auch Organe ausschließen? Oder auch Angst: Was, wenn ich als potenzieller Organspender anders behandelt werde? Obwohl diese Ängste faktisch unbegründet sind (BIÖG, 2023), sind sie dennoch verständlich, was eine gute Aufklärung der Allgemeinbevölkerung umso wichtiger macht. Zusätzlich zur Angst kann auch fehlendes Vertrauen die Entscheidung für eine Spende behindern.
Das Vertrauen wurde durch den Transplantationsskandal im Jahr 2012 nachhaltig geschädigt: damals wurden Patientendaten so gefälscht, dass sie in der Warteliste weiter oben waren und somit schneller ein Organ bekamen. Dadurch gingen die Spenden 2013 um über 16 % zurück und erreichten ihren Tiefststand seit 2002 (Handelskrankenkasse, 2025). Es muss also nicht nur dringend aufgeklärt, sondern auch wieder Vertrauen hergestellt werden.
Zwischen Verantwortung und Selbstbestimmung
Die Debatte um die Widerspruchslösung ist sehr komplex und berührt ein ethisches Dilemma: wie weit darf die gesellschaftliche Verantwortung gehen, wenn es um den eigenen Körper geht? Wäre diese gesetzliche Änderung eine Einschränkung der persönlichen Freiheit, oder ein nötiger Schritt, um das Leben vieler Menschen zu retten?
Befürworter:innen der Widerspruchslösung argumentieren, dass das Recht auf Leben den Eingriff in die Freiheit überwiege. Außerdem passe die Widerspruchslösung besser zum Willen der Mehrheit in Deutschland, die eine grundsätzliche Bereitschaft zum Spenden angibt und Angehörige würden entlastet werden (BIÖG, 2025a). Zudem: die meisten Menschen würden ein Spenderorgan annehmen, wenn sie eins bräuchten. Sollten sie dann nicht auch bereit sein, selbst zu spenden? Wer das nicht sei, könne ohne großen Aufwand widersprechen (Nadine Bader, Jan Zimmermann und Ulrike Nikola, 2024).
Kritiker:innen argumentieren, dass die Widerspruchslösung ein zu starker Eingriff in den Körper des Einzelnen sei und die persönliche Freiheit einschränke. Dazu gehört zum Beispiel die im Jahr 2024 amtierende Vorsitzende des Gesundheitsausschusses Kirsten Kappert-Gonther die sagt, dass Schweigen nicht als Zustimmung aufgefasst werden dürfe, vor allem bei einer so elementaren Entscheidung (Nadine Bader, Jan Zimmermann und Ulrike Nikola, 2024). Zuletzt könne die Einführung der Widerspruchslösung allein noch keine höheren Spenderzahlen garantieren, entscheidender sei eine gezieltere Aufklärung, eine Verbesserung der allgemeinen Strukturen und eine Wiederherstellung des Vertrauens (Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin, 2018, S. 697).
Und jetzt? Fazit und mein Appell
Die Debatte um die Widerspruchslösung ist ein Dauerthema und wird uns wahrscheinlich noch eine Weile begleiten. Die Diskussion ist eine Abwägung zwischen einer vollkommenen individuellen Freiheit und einer Struktur, die die rettende Nächstenliebe erleichtern würde. Die Widerspruchslösung wäre kein Allheilmittel, weil die Gründe für unsere Entscheidungsvermeidung sehr komplex sein können: von Vertrauen, über Angst bis hin zu Misstrauen.
Aber unabhängig vom gesetzlichen Rahmen steht fest: es muss sich dringend etwas ändern. Es darf nicht sein, dass so viele Menschen auf ein Organ warten und die Hoffnung verlieren weiterzuleben, obwohl viele Mitmenschen grundsätzlich bereit wären, zu spenden. Vielleicht wäre auch ein drittes Modell neben der Widerspruchs- und Entscheidungslösung das Richtige, zum Beispiel eines, bei der jeder Mensch verpflichtend eine Entscheidung treffen müsste, egal welche. Letzten Endes liegt die Lösung nicht allein in der Regierung und Gesetzgebung, sondern bei uns allen.
Ich persönlich habe mir mit sechzehn einen Organspendeausweis besorgt und der Spende zugestimmt, ich trage den Ausweis auch immer bei mir. Wenn sich jemand dagegen entscheidet, kann ich das genauso nachvollziehen, denn es ist und bleibt eine zutiefst persönliche Entscheidung. Aber was ich mir wünsche, ist dass sich jeder Mensch mit dem Thema beschäftigt und sich vielleicht sogar mal vorstellt, wie es wäre, wenn man selbst auf ein Organ warten würde. Eine Entscheidung zu treffen, egal ob dafür oder dagegen, ist meiner Meinung nach ein großer Akt der Selbstbestimmung. Und: vielleicht sogar der Beginn eines neuen Lebens für andere Menschen.

Beitragsbild (Quelle: pixabay, 2020)
Literaturverzeichnis
Anderson, C. J. (2003). The psychology of doing nothing: forms of decision avoidance result from reason and emotion. Psychological Bulletin, 129(1), 139–167. https://doi.org/10.1037/0033-2909.129.1.139
Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit. (2023). Weniger medizinische Hilfe für Organspenderinnen und Organspender? Was passiert im Ernstfall? Verfügbar unter: https://www.organspende-info.de/blog/medizinische-hilfe-fuer-organspender/
Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit. (2025a). „Wissen, Einstellung und Verhalten der Allgemeinbevölkerung (14 bis 75 Jahre) zur Organ- und Gewebespende“.
Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit. (2025b). Die Entscheidungslösung in Deutschland und gesetzliche Regelungen in anderen europäischen Ländern. Verfügbar unter: https://www.organspende-info.de/gesetzliche-grundlagen/entscheidungsloesung/
Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin. (2018). Widerspruchslösung kann Zahl der Organspenden erhöhen – Einbindung in gesellschaftliche Debatte wichtig. Medizinische Klinik – Intensivmedizin und Notfallmedizin, 113(8), 696–698. https://doi.org/10.1007/s00063-018-0506-y
Deutsche Stiftung Organtransplantation (Hrsg.). (2025). Jahresbericht Organspende und Transplantation in Deutschland 2024. Verfügbar unter: https://dso.de/SiteCollectionDocuments/DSO-Jahresbericht%202024.pdf
Handelskrankenkasse. (2025, 31. Oktober). Der Transplantationsskandal. Verfügbar unter: https://www.hkk.de/leistungen-und-services/medizinische-beratung/organspende/der-transplantationsskandal
Kessler, T. & Fritsche, I. (2018). Sozialpsychologie. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-93436-5
Nadine Bader, Jan Zimmermann und Ulrike Nikola. (2024). Regelung zur Organspende: Neuer Anlauf für die Widerspruchslösung, tagesschau.de. Verfügbar unter: https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/organspende-gesetz-100.html
Nadine Körner. (2025, 29. Oktober). Organspendezahlen 2024 weiterhin auf niedrigem Niveau. Deutsche Stiftung Organtransplantation sieht wenig Veränderungen gegenüber 2023 und hält weitere Anstrengungen für unabdingbar. Verfügbar unter: https://www.dso.de/Lists/Pressemitteilungen/DispForm.aspx?ID=136
Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. (2025). Fragen und Antworten zur Organspende. Verfügbar unter: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/faq-organspende-2194126
Bildquellen
Titelbild: https://pixabay.com/photos/organ-donation-id-organ-donor-card-4107610/ (Jasmin777, 2019)
Beitragsbild: https://pixabay.com/photos/a-tree-nature-heart-cherry-flowers-5255288/ (miroslavkaclik, 2020)






