By Published On: 14. Februar 2022Categories: Psychologie

Essen, Oktober 2016: Ein Rentner liegt regungslos im Vorraum einer Bankfiliale. Vier Kunden lassen ihn liegen, erst der fünfte ruft Hilfe. Der Rentner stirbt.[1] Immer wieder berichten Medien von Gewalttaten oder anderen Notfällen, in denen Augenzeugen helfen könnten – es aber nicht tun. Warum?

Diese Frage beschäftigte die Forscher Bibb Latané und John Darley schon vor über 50 Jahren. Ausgangspunkt ihrer Forschung ist ein Mord, der sich 1964 in New York ereignete. Catherine „Kitty“ Genovese wurde vor ihrer Wohnung niedergestochen und vergewaltigt. Einem Bericht der New York Times zufolge hatten mindestens 38 Personen über eine halbe Stunde lang zugesehen, aber keine von ihnen griff zunächst ein.[2] Neuere Erkenntnisse weisen zwar darauf hin, dass der Bericht übertrieben war (zum Beispiel hatten weitaus weniger Personen die Tat gesehen als angegeben).[3] Fest steht jedoch, dass es immer wieder passiert: Menschen, die helfen könnten, bleiben passiv.

Je mehr Augenzeugen, desto weniger Hilfe

Latané und Darley nahmen an, dass die Zahl der Umstehenden (Bystander) beeinflusst, ob Hilfe geleistet wird.[4] Um die These zu belegen, führten sie ein Experiment mit Studierenden durch. Über eine Sprechanlage konnten die Versuchspersonen mit anderen Studierenden in angrenzenden Zimmern sprechen – so war es ihnen jedenfalls gesagt worden. In Wahrheit war das, was die Teilnehmenden zu hören bekamen, fingiert: Es handelte sich um eine Aufnahme, in der ein Mitstudent einen vermeintlichen epileptischen Anfall bekam. Die Versuchspersonen konnte nicht hören, wie die anderen angeblichen Teilnehmenden reagieren.[5]

Das Ergebnis: Je größer die vermeintliche Gruppe, desto mehr Zeit verging, bis eine Person beim Versuchsleiter Alarm schlug. Auch stieg der Anteil derer, die gar nichts unternahmen, in einer größeren Gruppe an.[6]

Dieses Phänomen heißt Bystander-Effekt: Je mehr Personen in einer Notsituation anwesend sind, desto niedriger ist die Wahrscheinlichkeit, dass jemand hilft.[7]

Wie lässt sich der Bystander-Effekt erklären?

Latané und Darley nahmen an, dass fünf Stufen durchlaufen werden müssen, bis ein Bystander eingreift (vgl. Abb. 4): Die Person muss[8]

  1. die Situation wahrnehmen,
  2. sie als Notfall einschätzen,
  3. sich verantwortlich fühlen, einzugreifen,
  4. wissen, wie sie helfen kann und die Fähigkeiten dazu besitzen und
  5. die bewusste Entscheidung treffen, zu helfen.
Abb. 1: Modell zum Einschreiten in Hilfesituationen
(Quelle: Fischer et al. (2018), S. 60, nach Latané/Darley (1970))

Das Erreichen der jeweils nächsten Stufe wird durch verschiedene Einflüsse gestört. Einer davon ist die Anzahl der Bystander. Latané und Barley machen drei psychologische Prozesse für den Bystander-Effekt verantwortlich:[9]

  1. Pluristische Ignoranz
  2. Verantwortungsdiffusion
  3. Bewertungsangst

Ist eine Person unsicher, ob es sich wirklich um einen Notfall handelt – etwa, wenn jemand reglos am Boden liegt –, orientiert sie sich am Verhalten der anderen. Beachten diese die Situation nicht, schließt die Person daraus möglicherweise, dass kein Notfall vorliegt. Vor allem in Stufe 2 ist dieses Phänomen der Pluralistischen Ignoranz relevant.[10]

Verantwortungsdiffusion meint, dass sich die Bystander die Verantwortung „teilen“: In einer Notsituation glauben Menschen oft, dass einer der anderen eingreifen wird oder sollte.[11]

Schließlich spielt die Angst eine Rolle, sich zu blamieren oder von Bystandern negativ beurteilt zu werden. Diese Bewertungsangst kann noch verstärkt werden, wenn die Person nicht genau weiß, wie sie helfen könnte.[12]

Welche Faktoren beeinflussen den Bystander-Effekt?

Die Stärke des Bystander-Effekts wird nicht nur durch die Zahl der Anwesenden beeinflusst. So ist der Effekt stärker, wenn

  • die Umgebung städtisch ist: Möglicherweise führt eine Informationsüberlastung  durch viele Umgebungsreize dazu, dass ein Notfall gar nicht wahrgenommen wird („Urban Overload-Hypothese“).[13]
  • eine Situation nicht eindeutig zu bewerten/der Notfall nicht zu erkennen ist[14]

Schwächer wird er dagegen, wenn[15]

  • die Bystander befreundet sind
  • die Situation für das Opfer als sehr bedrohlich eingeschätzt wird 
  • die Person weiß, wie sie helfen kann

Was tun, wenn ich selbst Hilfe brauche?

Die Chance auf Hilfe lässt sich erhöhen. Personen, die durch Außenreize erregt werden, neigen eher zum Handeln.[16] Wichtig ist, ein Gefühl von Verantwortung zu erzeugen. Etwa, indem das Gegenüber gezielt angesprochen wird, zum Beispiel mit: „Sie da im roten Pullover! Helfen Sie mir!“ und/oder einem Fingerzeig.[17]

Ist eine helfende Person gefunden, könnte das Eis gebrochen sein. Dann sind unter Umständen auch weitere Bystander zur Hilfe bereit.[18]

Fazit

Wie wichtig Hilfe anderer Menschen ist, wird uns spätestens bewusst, wenn wir selbst welche benötigen. Und eine solche Situation kann jederzeit eintreten.

Ein Grund mehr, sich selbst zu reflektieren und innerlich vorzubereiten: Wie wäre es, wenn ich gerade Hilfe brauche? Ist es vertretbar, aus Angst vor einer Blamage untätig zu bleiben? Möglicherweise kann schon das Wissen um den Bystander-Effekt wachrütteln und dem Phänomen entgegenwirken.

Auch wenn der Bystander-Effekt immer wieder beobachtet wird, darf eines nicht vergessen werden: In vielen Fällen wird nicht weggeschaut, sondern geholfen. In einer neueren Studie zeigen Auswertungen öffentlicher Kameras, dass 9 von 10 Menschen, die Opfer von Gewalt und Aggression wurden, Hilfe bekamen.[19]


[1] Vgl. Wernicke (2017).

[2] Vgl. Urschler (2018), S. 18.

[3] Vgl. Manning et al. (2007).

[4] Vgl. Fischer et al. (2018), S. 59.

[5] Vgl. Darley/Latané (1968).

[6] Vgl. Darley/Latané (1968).

[7] Vgl. Fischer et al.; Vgl. Fischer et al. (2018), S. 59.

[8] Vgl. Fischer et al. (2018), S. 59-60; vgl. Latané/Darley; vgl. Urschler (2018), S. 18.

[9] Vgl. Fischer et al. (2018), S. 60-61; vgl. Latané/Darley.

[10] Vgl. Fischer et al. (2018), S. 60-61.

[11] Vgl. Fischer et al. (2018) (2018), S. 61.

[12] Vgl. Fischer et al. (2018), S. 61.

[13] Vgl. Fischer et al. (2018), S. 62; vgl. Merrens (1973); vgl. Milgram (1970).

[14] Vgl. Fischer et al. (2018), S. 62.

[15] Vgl. Fischer et al. (2011); vgl. Fischer et al. (2006); vgl. Fischer et al. (2018), S. 62.

[16] Vgl. Gasch/Lasogga (2011), S. 361.

[17] Vgl. Gerrig et al. (2018), S. 697; vgl. Gasch/Lasogga (2011), S. 361.

[18] Vgl. Gasch/Lasogga (2011), S. 361.

[19] Vgl. Levy et al. (1972).


Literaturverzeichnis

Darley, J. M./Latané, B. (1968), Bystander intervention in emergencies: diffusion of responsibility, Journal of Personality and Social Psychology, 8. Jg., Nr. 4, S. 377-383.

Fischer, P./Greitemeyer, T./Pollozek, F./Frey, D. (2006), The unresponsive bystander: are bystanders more responsive in dangerous emergencies?, European Journal of Social Psychology, 36. Jg., Nr. 2, S. 267-278.

Fischer, P./Jander, K./Krueger, J. (2018), Prosoziales Verhalten, Hilfeverhalten und Zivilcourage. In: Fischer, P./Jander, K./Krueger, J. I. (Hrsg.), Sozialpsychologie für Bachelor, Berlin, Heidelberg, S. 55-72.

Fischer, P./Krueger, J. I./Greitemeyer, T./Vogrincic, C./Kastenmüller, A./Frey, D./Heene, M./Wicher, M./Kainbacher, M. (2011), The bystander-effect: a meta-analytic review on bystander intervention in dangerous and non-dangerous emergencies, Psychological bulletin, 137. Jg., Nr. 4, S. 517-537.

Gasch, B./Lasogga, F. (2011), Zuschauer. In: Lasogga, F./Gasch, B. (Hrsg.), Notfallpsychologie, Berlin, Heidelberg, S. 357-361.

Gerrig, R. J./Dörfler, T./Roos, J. (Hrsg.) (2018), Psychologie, Hallbergmoos.

Latané, B./Darley, J. M. (1970), The unresponsive bystander. Why doesn’t he help?, Englewood Cliffs, NJ.

Levy, P./Diane, L./Marc, A./David, F./Betty, F./McGrath, J. E. (1972), Bystander effect in a demand-without-threat situation, Journal of Personality and Social Psychology, 24. Jg., Nr. 2, S. 166-171.

Manning, R./Levine, M./Collins, A. (2007), The Kitty Genovese murder and the social psychology of helping: the parable of the 38 witnesses, American Psychologist, 62. Jg., Nr. 6, S. 555-562.

Merrens, M. R. (1973), Nonemergency Helping Behavior in Various Sized Communities, The Journal of Social Psychology, 90. Jg., Nr. 2, S. 327-328.

Milgram, S. (1970), The experience of living in cities: A psychological analysis. In: Korten, F. F./Cook, S. W./Lacey, J. I. (Hrsg.), Psychology and the problems of society, Washington, S. 152-173.

Urschler, D. (2018), Menschen brauchen Hilfe, andere schauen nur zu? In: Blick in die Wissenschaft, Bd. 24 Nr. 31 (2015): Blick in die Wissenschaft, S. 18-20.

Wernicke, C. (2017), Prozess in Essen: Auf dem Herzen blind, in: https://​www.sueddeutsche.de​/​panorama/​prozess-in-essen-auf-dem-herzen-blind-1.3671985, abgerufen am 17.1.2022.

Beitragsbild:

https://www.pexels.com/de-de/foto/belebten-strasse-beschaftigt-burgersteig-business-373971/

Credit: Burst

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