Wo ansetzen?
Ein Blick auf die der Bildungskrise zugrundeliegenden Zahlen zeigt, dass eigentlich nicht nur von einer Krise sondern gleich von mehreren Krisen gesprochen werden kann, die in verschiedensten Bereichen des Bildungssystems zu finden sind. Angesichts dieser Herausforderungen wird nachvollziehbarer, warum die Krise an sich in Politik und Medien zwar allgegenwärtig ist, sich gleichzeitig aber kaum konkrete und zielgerichtete Lösungsansätze finden. Ein Blick in die Bildungs- und Sozialforschung zeigt jedoch viele Ansatzpunkte auf, mit der die Herausforderungen angegangen werden können. Diese sind zwar häufig finanzintensiv, jedoch argumentiert der Leiter des ifo Zentrums für Bildungsökonomik Ludger Wößmann, dass Investitionen in die Bildung gleichzeitig als Lösungsansätze für fundamentale wirtschaftliche Probleme zu betrachten sind. Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik sind langfristig eng miteinander verwoben. Eine gute Bildung trägt zu wirtschaftlichem Wohlstand und Teilhabe bei, wodurch sich Bildungsinvestitionen sogar dreifach lohnten (Wößmann, 2025).
Fokussierung auf Basiskompetenzen
Ein Ansatzpunkt, der sich z.B. im Bundesland Hamburg bereits ausgezahlt hat, ist die Fokussierung auf die Vermittlung von Basiskompetenzen. Zu diesen gehören z.B. Lesen und Schreiben. Anhand regelmäßiger Tests wird erhoben, ob diese Basiskompetenzen vorhanden sind und mit entsprechenden Förderprogrammen sofort auf etwaige Mängel reagiert. Andere Themen werden für den Fokus auf Basiskompetenzen zurückgestellt. Von dieser verstärkten Vermittlung von Basiskompetenzen profitieren auch und vor allem Schüler*innen mit Schwierigkeiten im Sprachverständnis. Wird diesem Problem nicht frühzeitig begegnet werden betroffene Schüler*innen massiv abgehängt. Wenn Lese- und Schreibkompetenz in den Mittelpunkt gestellt werden, können Förderbedarfe schnell entdeckt und entsprechend behoben werden. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat auf den offensichtlichen Erfolg dieser Herangehensweise bereits reagiert und im Frühjahr 2024 neue Richtlinien für die Fokussierung auf Basiskompetenzen in der Grundschule veröffentlicht. Ob diese eine Verbesserung in Lesen, Schreiben und Mathematik zur Folge haben, wird sich erst nach einiger Zeit sagen lassen (Anders/Kuhn, 2024).
Verbindliche Lernziele bei größerer interner Handlungsfreiheit
Einheitliche deutschlandweite Zwischen- und Abschlussprüfungen können dabei helfen, Schülerleistungen transparent zu machen und dort anzusetzen, wo Handlungsbedarf besteht. So kann die Bildungsqualität regelmäßig gemessen und verbessert und nationale Bildungsstandards eingehalten werden. Ein gemeinsames Kernabitur in den Fächern Mathematik, Deutsch und Englisch könnte gleichzeitig den Hochschulzugang fairer gestalten. Wenn Bildungsziele klar vorgegeben sind und durch externe Prüfungen regelmäßig überprüft werden, kann innerhalb der Schulen mehr Autonomie zum Erfolg führen. Ein Paradebeispiel hierfür sind wiederum Hamburg, aber auch England: Dort hat eine Reform, die einerseits systematische einheitliche Leistungsüberprüfungen bei gleichzeitiger höherer Autonomie und Entscheidungsfreiheit der einzelnen Schulen zu positiven Entwicklungen geführt. Vor allem mehr Freiheit in Personalfragen und in der Bewältigung des schulinternen Tagesgeschäfts konnten Schulen selbstverantwortlich bessere Lösungen finden. Eine engere Rahmengebung kann also erfolgreich mit einer Autonomisierung im Inneren einhergehen. Voraussetzung hierfür ist eine Strukturreform, die die Verwaltungsstrukturen und -abläufe vereinfacht und Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden eindeutig klärt (Wößmann, 2025).
Förderinfrastruktur ausbauen
Um mehr Chancengleichheit zu ermöglichen, muss die Förderinfrastruktur weiter ausgebaut werden. V.a. die Sprachkenntnisse der Eltern, migrationsbezogene Herausforderungen und sozioökonomisch bedingte Ungleichheiten manifestieren bisher den Bildungserfolg der Schüler*innen. Breite Sprachförderangebote, qualitativ hochwertige Ganztagsangebote und die Schaffung von Familienzentren können betroffenen Familien frühzeitig Unterstützung bieten und das Schulsystem durchlässiger machen. Wichtig ist, dass solche Angebote niedrigschwellig zugänglich sind, indem sie räumlich nah, leicht in den Alltag integrierbar und formal voraussetzungsfrei sind. Eine solche Infrastruktur muss bevorzugt dort aufgebaut werden, wo sie besonders gebraucht wird. Hierbei kann eine Bewertung der Bedarfe in Form eines Sozialindex eine faire Priorisierung der Schulen ermöglichen (Anger/Betz, 2022).
Kinderrechtstaugliche Schulen schaffen
Der letzte und mit Abstand wichtigste Punkt umfasst viele Teilaspekte, nämlich Schulen zu einem Ort zu machen, der Artikel 29 der UN-Kinderrechtskonvention entspricht: Schule als Ort, der ganzheitliche Bildung, die Entfaltung der Persönlichkeit und der Talente, der geistigen und körperlichen Fähigkeiten ermöglicht und Kinder auf ein verantwortungsbewusstes Leben in einer freien, friedlichen, toleranten, gleichberechtigten und demokratischen Gesellschaft vorbereitet. Schüler*innen verbringen in der Schule einen großen Anteil ihrer Zeit, haben dort aber kaum Möglichkeit zur Mitgestaltung. Demokratisierung und Partizipation in der Schule bleibt bisher häufig ein Lippenbekenntnis. Der Lernort Schule muss zu einem Lebensort Schule werden, an dem nicht die Vermittlung von Inhalten an erster Stelle steht, sondern das gemeinsame Erarbeiten derselben. Ein Lebensort Schule beinhaltet gemeinsame fächerübergreifende Projekte, Begegnung mit Mensch, Tier und Natur, stabile und wertschätzende Beziehungen zu Mitschüler*innen und Lehrer*innen, ein ressourcen-orientierter Blick auf jede*n einzelne*n und ein sicherer Ort für gemeinsames Wachstum. Hierfür müssen sowohl räumliche als auch personelle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Schulen, die ausschließlich aus Klassenzimmern mit Tisch- und Bankreihen bestehen, sind kein Lebensort. Und Lehrer*innen können nicht auch noch Sozialarbeiter*in, Psycholog*in, Krankenpfleger*in und Freizeitgestalter*in sein. Schule als Lebensort bedeutet auch, Gesellschaft in die Schule zu integrieren und diese dort abzubilden, durch eine kluge Standortwahl, eine flexible räumliche Gestaltung und die Miteingliederung möglichst vieler gesellschaftlicher Teilelemente. (Holz-Dahrenstaedt, 2023).
Ein Blick nach vorn
Vor allem der letzte Aspekt der kinderrechtstauglichen Schule erscheint für mich als Lehrerin der komplexeste und gleichzeitig wichtigste zu sein. Verbindliche Lernziele sind schnell geschaffen, die Priorisierung von Basiskompetenzen ist bereits in die Wege geleitet. Schule aber insgesamt neu zu denken und aus alten, bequemen und vielleicht auf den ersten Blick bewährt erscheinenden Strukturen auszubrechen und Lehrer*innen zu motivieren, neue Wege zu gehen, wird keine leichte Aufgabe. Gleichzeitig ist die Not an den Schulen so groß, dass kaum ein Kollege, kaum eine Kollegin den Status quo beibehalten möchte. Wird der schulische Transformationsprozess in einem Klima der Motivation, der gegenseitigen Wertschätzung und des Respekts bestritten, kann daraus vielleicht ein Schulsystem der Zukunft erwachsen.
Quellen
Anders, F./Kuhn, A. (2024), Mehr Zeit für Basiskompetenzen in der Grundschule. https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/basiskompetenzen-gutachten-zur-grundschule-staendige-wissenschaftliche-kommission-der-kultusministerkonferenz/, abgerufen am 28.08.2025.
Anger, C./Betz, J. (2022), Bildungspolitische Impulse für mehr Chancengerechtigkeit an Schulen, https://www.iwkoeln.de/studien/christina-anger-julia-betz-bildungspolitische-impulse-fuer-mehr-chancengleichheit-an-schulen.html, abgerufen am 28.08.2025.
Holz-Dahrenstaedt, A. (2023), Eine kinderrechtstaugliche Schule, Pädiatrie & Podologie Nr. 1, Jg. 2023, S.72-77.
Wößmann, L. (2025), Bildungschancen verbessern, Chancengerechtigkeit erhöhen, ifo Schnelldienst, Ausg. 78, Jg. 2025, S.27-32.
Titelbildquelle
NEOSiAM (21.10.2017), Person, Die Weiße Kreide Hält. Abgerufen am 28.08.2025 von Pexels: https://www.pexels.com/de-de/foto/person-die-weisse-kreide-halt-625219/
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