Besonders seit der Covid-Pandemie findet die Situation der deutschen Schulen immer wieder Eingang in die Berichterstattung der Medien. Schlagwörter wie „Bildungskrise“, „Bildungskollaps“ und „Schulen am Limit“ finden sich aktuell regelmäßig in allen möglichen Medien wieder. Auch mir als Lehrerin an einer baden-württembergischen Realschule drängt sich der Eindruck einer Krise auf. Viele Kolleg*innen sprechen davon, den Bedürfnissen ihrer Schüler*innen und den Forderungen und Wünschen von Eltern und Erziehungsberechtigten nicht mehr gerecht werden zu können, von immer mehr angeblich „schwierigen“ Schüler*innen und von einer massiven Überforderung, die in Lehrerzimmern zu Verzweiflung, Resignation und großen Krankheitsausfällen führt.
Der Begriff der „Krise“ ist diffus. Er ist einerseits im Hinblick auf den Bildungsbereich seit mehreren Jahren allgegenwärtig und doch mangelt es an konkreten und nachhaltigen politischen Programmen zur Bekämpfung ebendieser Krise. Der vorliegende Artikel hat zum Ziel, den Begriff der Krise in Zahlen und Fakten greifbar zu machen und die Veränderungen der letzten Jahre zu beschreiben. In einem zweiten Teil werden mithilfe von Erkenntnissen aus der Bildungs- und Sozialforschung Ansatzpunkte zur Verbesserung dargestellt.
Die Krise in Zahlen
Der Begriff der „Bildungskrise“ lässt sich bei einem Blick auf die Ergebnisse nationaler und internationaler Studien und Berichte zementieren und zeigt sich in mehreren Bereichen.
Kompetenzrückgang in nationalen und internationalen Schulleistungsuntersuchungen
In den Medien werden in Bezug auf die Deutsche Bildungskrise häufig internationale Schulleistungsstudien wie PISA und TIMMSS zitiert. Solche Studien machen die Schulleistungen der Schüler*innen sichtbar und ermöglichen eine Betrachtung der zeitlichen Entwicklung. Anfang der 2020er Jahre zeigen sich im Vergleich zu den Werten während des sog. „PISA-Schocks“ im Jahr 2001 kaum oder keine Verbesserung. Vor allem im Primarbereich gehen die Kompetenzen im Lesen und in Mathematik massiv zurück, 19% der Schüler*innen gehören im Bereich Lesen, 25% im Bereich Mathematik dem leistungsschwachen Bereich an. Auch im Sekundarbereich zeigt sich ein Leistungsrückgang, z.B. bei den 15-jährigen Schüler*innen. In Mathematik und beim Lesen zählen 21% der Schüler*innen zur leistungsschwachen Vergleichsgruppe. Die Betrachtung der erbrachten Schulleistung von Schüler*innen kann nur ein erster Schritt in der Analyse der deutschen Bildungskrise darstellen. Die Krise des deutschen Bildungssystems wird durch Probleme in mehreren Einflussbereichen bedingt, die ebenfalls statistisch nachweisbar und durch zahlreiche Studien belegt sind (Klein, 2023).
Familiäre Risikolagen und der sozioökonomische Status manifestieren den Bildungserfolg
Artikel 3 Absatz 3 im Grundgesetz zum Schutz vor Benachteiligung aufgrund ethnischer und sozialer Herkunft wird in Deutschland im pädagogischen Bereich mitnichten eingehalten. Die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft ist in Deutschland im internationalen Vergleich hoch und wächst sogar noch weiter. Die internationalen Schulleistungsuntersuchungen IGLU und TIMMS sowie die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends zeigen, dass dies nicht allein auf die pandemiebedingten Schulschließungen zurückzuführen ist, sondern einem längerfristigen Trend entspricht. Der Zusammenhang zeigt sich vor allem in den Kompetenzbereichen „Zuhören“, „Lesen“ und in Mathematik. Die erreichten Schulabschlüsse spiegeln die Abhängigkeit von der sozialen Herkunft final wider: 79% der Kinder aus Familien mit hohem sozioökonomischem Status erreichen die Hochschulreife im Vergleich zu 31% der Kinder aus Elternhäusern mit einem niedrigen sozioökonomischem Status (Klein, 2023). Der Bericht „Bildung in Deutschland 2022“ unterscheidet für Kinder und Jugendliche drei Risikolagen: soziale, bildungsbezogene und finanzielle. Mit 29% ist fast jedes Dritte Kind von mindestens einer der drei Risikolagen betroffen, dabei erweist sich die Armutsgefährdung als die häufigste (Autor*innengruppe Bildungsberichterstattung, 2022). Die Zielsetzung von Bund und Ländern nach dem Pisa-Schock 2001, für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen wurde insgesamt eindeutig verfehlt.
Steigender Personalbedarf bei zurückgehendem Angebot
Die hier beschriebenen Herausforderungen und weitere sich ändernde Rahmen-bedingungen wie z.B. steigende Schüler*innenzahlen durch Kriege, der Ganztagesausbau sowie die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention implizieren einen wachsenden Personalbedarf im Bildungsbereich. Gleichzeitig zeigen aktuelle Berechnungen eine wachsende Kluft zwischen vorhandenem und zukünftigem Personalbedarf, ohne die zuvor genannten Faktoren überhaupt zu berücksichtigen. Durch den Geburtenanstieg der vergangenen Jahre und die bis dato nicht erfüllten Elternbedarfe ergibt sich ein steigender Bedarf an Kita-Plätzen. Konservative Schätzungen sprechen von einem Mangel an 21 000, andere von einem Mangel von 70 000 Fachkräften im Kita-Bereich. Auch im Grund- und Sekundarschulbereich ergeben Modellrechnungen der Kultusministerkonferenz einen Mangel von über 20 000 Lehrkräften. Gleichzeitig stellt sich die Frage, inwiefern es angesichts der pädagogischen Herausforderungen an Schulen angemessen ist, diese Mängel mit nicht ausreichend ausgebildeten Quer- und Seiteneinsteiger*innen zu beheben (Klein, 2023).
Große Unterschiede im Bildungsstand der Gesamtbevölkerung
Ein Blick auf die Bildungsabschlüsse in der deutschen Bevölkerung zeigt u.a. laut dem Bericht „Bildung in Deutschland 2022“ ein starkes Gefälle zwischen Stadt und Land vor allem in Ostdeutschland und ein massives Gefälle zwischen Personen mit und ohne Migrationshintergrund. In Großstädten liegt der Anteil der 30-35-jährigen mit Hochschulabschluss bei 49% im Vergleich zu ostdeutschen Landkreisen und kreisfreien Städten mit 17%. Ein großes Gefälle im Bildungsstand zeigt sich auch bei Personen mit Migrationshintergrund, die in 32% keinen beruflichen Abschluss und keine Hochschul-reife vorweisen können als Menschen ohne Migrationshintergrund mit 8%. Gleichzeitig zeigt die Statistik der Kultusministerkonferenz, dass die Anzahl der Schüler*innen ohne Schulabschluss steigt. Insgesamt betraf dies im Jahr 2021 47 000 Schüler*innen, was 6,2% der Gleichaltrigen Wohnbevölkerung entspricht. Jungen sind hierbei häufiger betroffen als Mädchen (Klein, 2023).
Zielverfehlungen in der Frühkindlichen Bildung
Um den Unterschiedseffekten, die durch den sozioökonomischen Status und den Migrationshintergrund der Familie bedingt werden entgegenzuwirken und gleichzeitig günstige Lernphasen im frühkindlichen Alter zu nutzen, wurde 2013 der Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung in der Kita verabschiedet. Dieser Rechtsanspruch wird bisher nur unzureichend erfüllt. Bei einem Bedarf von 44% in Westdeutschland lag die tatsächliche Beteiligungsquote von unter 3-Jährigen an frühkindlichen Bildungs-angeboten bei 31%. Gleichzeitig werden die Bildungsangebote von Familien mit höheren Bildungsabschlüssen stärker in Anspruch genommen. Kinder von Eltern mit einem niedrigen Schulabschluss oder einem Migrationshintergrund besuchen im Alter von 3-6 Jahren deutlich weniger häufig eine Kita. Bei Familien mit einem Migrationshintergrund liegt der Anteil bei 80% im Verhältnis zu Familien ohne Migrationshintergrund mit 91%. Besonders das Ziel durch einen frühen Kita-Einstieg ein Sprachbad zu ermöglichen, die Sprachkompetenz zu steigern und dadurch späteren Nachteilen entgegenzuwirken wird damit verfehlt (Klein, 2023).
Psychische Gesundheit von Kindern, Jugendlichen
Die HBSC-Studie, mit 51 Teilnahmeländern die größte Studie zu Kinder- und Jugendgesundheit, verzeichnet in Deutschland eine besorgniserregende Entwicklung im Bereich der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Zwischen 1994 und 2022 hat sich der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit psychischen Beschwerden nahezu verdoppelt: 23% der Jungen und 56% der Mädchen berichten von multiplen psychosomatischen Beschwerden wie Niedergeschlagenheit, Gereiztheit und Einschlafproblemen. Die HBSC-Studie betrachtet u.a. das schulische Wohlbefinden genauer und berichtet, dass 57,8% der Schüler*innen sich durch die Schule stark bzw. sehr stark belastet fühlen. 67,2% empfinden ein nicht gutes bzw. überhaupt nicht gutes schulisches Wohlbefinden und 56,4% fühlen sich durch ihre Lehrer*innen nur in geringem Maße unterstützt. Die psychische Gesundheit von Schüler*innen wird von den Forschenden als insgesamt besorgniserregend eingeordnet und sollte ebenfalls als Indikator der Krise und gleichzeitig als Ansatzpunkt für die Verbesserung des deutschen Schulsystems verstanden werden (Kongress Armut und Gesundheit, 2025).
Wahrnehmung des Bildungssystems in der Bevölkerung
Die oben beschriebene Krise wird laut einer Erhebung des Meinungsforschungsunternehmens Ipsos aus dem Jahr 2023 in der Bevölkerung auch als solche wahrgenommen. Nur 23% der Deutschen bewerten das deutsche Bildungssystem als gut, 44% sehen es als ziemlich oder sehr schlecht an. Somit steht Deutschland im Vergleich zu den anderen 28 Teilnahmeländern schlecht da. In Großbritannien ist das Verhältnis von Zufriedenen und Unzufriedenen beispielsweise genau umgekehrt. Als größte Herausforderungen sehen die befragten Personen v.a. veraltete Lehrpläne (41%) und überfüllte Klassenzimmer (40%). Als besonders bemerkenswert hebt der Leiter der Politik- und Sozialforschung bei Ipsos, Robert Grimm hervor, dass 52% der Befragten aussagen, dass das Bildungswesen nicht zur sozialen Gerechtigkeit im Land beiträgt. Eine zentrale Aufgabe des Bildungssystems, nämlich Chancengleichheit zu gewährleisten werde somit aus Sicht der Befragten nicht erfüllt, was insgesamt auf einen zunehmenden Vertrauensverlust in demokratische Institutionen hinweist (Grimm, 2023).
In Teil 2 folgt eine Darstellung möglicher Lösungsansätze aus der Bildungs- und Sozialforschung.
Quellen
Grimm, R. (2023), Bildung in der Krise: Nicht einmal jeder vierte Deutsche sieht das Bildungssystem positiv, https://www.presseportal.de/pm/7522/5611720, abgerufen am 28.08.2025.
Klein, W. (2023), Das Deutsche Bildungssystem befindet sich in einer tiefen Krise, https://deutsches-schulportal.de/expertenstimmen/das-deutsche-bildungssystem-befindet-sich-in-einer-tiefen-krise/, abgerufen am 28.08.2025.
Kongress Armut und Gesundheit(2025), HBSC Factsheet: Die internationale Kinder -und Jugendgesundheitsstudie „Health Behaviour in School-aged Children (HBSC)“. https://www.armut-und-gesundheit.de/fileadmin/user_upload/Kongress/Kongress_2025 /Presse/Factsheets_HBSC.pdf, abgerufen am 28.08.2025.
Titelbildquelle
NEOSiAM (21.10.2017), Person, Die Weiße Kreide Hält. Abgerufen am 28.08.2025 von Pexels: https://www.pexels.com/de-de/foto/person-die-weisse-kreide-halt-625219/
Nutzungsbedingungen unter: https://www.pexels.com/de-de/lizenz/