Vor einigen Jahren war ich auf der Suche nach einer Beraterin oder einem Berater, der oder die mich für einige Wochen bei der Lösung von beruflichen und privaten Herausforderungen unterstützen könnte. Durch Zufall stieß ich auf eine Beraterin, die entsprechend des Personzentrierten Beratungsansatzes ausgebildet war und auf dessen Grundprinzipien basierend arbeitete. Von diesem Beratungsansatz hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht gehört und wurde im Laufe des Beratungsprozesses positiv überrascht. Die wertschätzende und echte Art der beraterischen Beziehung hat mich nachhaltig beeindruckt und könnte meines Erachtens viele Beziehungen und Kommunikationsprozesse im beruflichen und privaten Kontext positiv beeinflussen. In den nachfolgenden Abschnitten folgt eine kurze Beschreibung des Personzentrierten Therapieansatzes und dessen Anwendungsbereiche in Deutschland.
Humanistische Psychologie
Die Personzentrierte Therapie, auch bekannt als Gesprächspsychotherapie oder klientenzentrierte Therapie, gehört zu den einflussreichsten psychotherapeutischen Ansätzen der Humanistischen Psychologie. Entwickelt vom amerikanischen Psychologen Carl Rogers (1902-1987) in den 1940er Jahren, stellt dieser Ansatz die Person und ihre Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt des therapeutischen Prozesses. Die Personzentrierte Therapie ist fest in der Humanistischen Psychologie verwurzelt, die sich als „dritte Kraft“ in der Psychologie neben Psychoanalyse und Behaviorismus etablierte. Die Humanistische Psychologie entwickelte sich in den 1950er und 1960er Jahren als Reaktion auf die als reduktionistisch empfundenen Menschenbilder der beiden dominierenden Schulen. Während die Psychoanalyse den Menschen als von unbewussten Trieben gesteuert sah und der Behaviorismus ihn als konditioniertes Wesen betrachtete, postulierte die Humanistische Psychologie ein grundlegend positives Menschenbild. Das humanistische Menschenbild impliziert, dass der Mensch alles zu seiner Heilung Notwendige bereits in sich trägt und so am besten in der Lage ist, seine persönliche Situation zu analysieren und zu verbessern. Dieses optimistische Grundverständnis steht im direkten Gegensatz zu pathologieorientierten Ansätzen, die Defizite und Störungen in den Vordergrund stellen (Rogers, 1961 und Helle, 2024a).
Grundprinzipien der Personzentrierten Therapie
Aktualisierungstendenz
Rogers entwickelte das Konzept der Aktualisierungstendenz als zentrale Triebkraft menschlichen Verhaltens. Diese wird definiert als die angeborene Tendenz des Organismus, sich in Richtung Wachstum, Reifung und Verwirklichung der eigenen Potentiale zu entwickeln. Die Aktualisierungstendenz ist die Haupttriebfeder des Lebens und umfasst sowohl das grundlegende Bedürfnis nach Selbsterhaltung als auch das Streben nach Selbstverwirklichung.
Selbstkonzept
Ein weiteres zentrales Element von Rogers‘ Theorie ist das Selbstkonzept. Das Selbstkonzept entwickelt sich nach Rogers erst im Laufe des Lebens und entsteht durch die verschiedenen Erfahrungen, die ein Mensch über sich selbst macht. Es spiegelt wider, was man selbst über sich zu wissen glaubt, und beschreibt nur die subjektive Wirklichkeit der Person. Das Selbstkonzept besteht aus verschiedenen Komponenten:
Das reale Selbst: Wie sich die Person tatsächlich erlebt
Das ideale Selbst: Wie sich die Person gerne erleben möchte
Selbstwertgefühl: Die Bewertung der eigenen Person
Psychische Probleme entstehen laut Rogers, wenn eine zu große Diskrepanz zwischen dem realen und dem idealen Selbst besteht oder wenn das Selbstkonzept starr und unrealistisch ist.
Kongruenz und Inkongruenz
Rogers unterscheidet zwischen Kongruenz (Übereinstimmung) und Inkongruenz (Nicht-Übereinstimmung) zwischen der Erfahrung einer Person und ihrem Selbstkonzept. Bei Kongruenz stimmen die tatsächlichen Erfahrungen mit dem Selbstbild überein, was zu psychischem Wohlbefinden führt. Inkongruenz entsteht, wenn Erfahrungen nicht mit dem Selbstkonzept vereinbar sind, was zu Angst, Abwehr und psychischen Problemen führen kann (Rogers, 1981 und Helle, 2024b).
Die drei therapeutischen Grundhaltungen
Rogers formulierte drei grundlegende therapeutische Haltungen, die für eine erfolgreiche Therapie notwendig sind:
1. Kongruenz (Echtheit)
Kongruenz steht für die Echtheit, die der Therapeut seinem Klienten entgegenbringt. Rogers beschreibt diese Grundhaltung als Unverfälschtheit oder Transparenz seitens des Therapeuten. Hiermit macht Rogers klar, dass es dem Klienten in einer Beziehung nur möglich ist zu wachsen, wenn ihm der Therapeut so gegenübertritt, wie er wirklich ist. Der Therapeut ist in dieser Beziehung selbst auch Mensch, kann also auch über seine Gefühle und Einstellungen offen reden und stellt sich nicht als jemanden dar, der nur aufgrund seiner professionellen Rolle agiert. Der Therapeut versteckt sich nicht hinter einer professionellen Maske, sondern begegnet dem Klienten als authentische Person.
2. Bedingungslose positive Wertschätzung
Rogers beschreibt diese Grundhaltung als „das Akzeptieren, die Anteilnahme oder Wertschätzung“ des Therapeuten gegenüber den Gefühlen und Äußerungen seines Klienten. „Wenn der Therapeut eine positive, akzeptierende Einstellung gegenüber dem erlebt, was der Klient in diesem Augenblick ist, dann wird es mit größerer Wahrscheinlichkeit zu therapeutischer Bewegung oder Veränderung kommen. Der Therapeut ist gewillt, den Patienten sein jeweiliges momentanes Gefühl ausleben zu lassen – Verwirrung, Groll, Furcht, Zorn, Mut, Liebe und Stolz.“ Diese bedingungslose positive Wertschätzung ist eine elementare Grundhaltung dem Klienten gegenüber. Die Andersartigkeit des Klienten wird akzeptiert und daran geglaubt, dass der Klient seinen individuellen Lösungsweg bereits in sich trägt.
3. Empathie (Einfühlsames Verstehen)
Wenn der Therapeut kongruent ist, ist es möglich, sich auf den Gegenüber einzulassen und so die Welt mit dessen Augen zu sehen. Der Therapeut ist darum bemüht, den Klienten ganz zu verstehen: sein Erleben, sowie die zugrundeliegenden Werthaltungen, Motive, Wünsche und Ängste. Rogers beschreibt dieses einfühlsame Verstehen als einen Vorgang im Gespräch, in dem der Therapeut „genau die Gefühle und persönlichen Bedeutungen spürt, die der Klient erlebt, und dass er dieses Verstehen dem Klienten mitteilt. Unter optimalen Umständen ist der Therapeut so sehr in der privaten Welt des anderen drinnen, dass er oder sie nicht nur die Bedeutung klären kann, deren sich der Patient bewusst ist, sondern auch jene knapp unterhalb der Bewusstseinsschwelle.“ Hierbei soll ausdrücklich nicht eine interpretative Haltung vom hohen Ross eines medizinisch-therapeutisch-diagnostischen Standpunktes herab eingenommen werden, sondern sich dem Klienten einfühlend als neugieriger, aber nicht fordernder Mensch zu nähern und sich so in dessen innere Welt hineinzuversetzen (Rogers, 1981 und Helle, 2024b).
Beratungs- und Therapiemöglichkeiten
Die moderne Forschung bestätigt die Wirksamkeit der Personzentrierten Therapie. Eine systematische Übersichtsarbeit der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2024 mit über 129 berücksichtigten Studien zeigte positive Zusammenhänge zwischen dem Personzentrierten Ansatz und verbesserten Behandlungsergebnissen bei Substanzgebrauchsstörungen, aber auch die Wirksamkeit bei verschiedenen anderen Krankheitsbildern, insbesondere bei affektiven Störungen wie Depressionen konnte die Wirksamkeit bestätigt werden (Right Choice Recovery, 2024). In zahlreichen Ländern, darunter USA und die Schweiz ist der Personzentrierte Ansatz als Psychotherapeutisches Verfahren anerkannt und die Behandlung kann entsprechend von der Krankenkasse übernommen werden. In Deutschland ist der Personzentrierte Ansatz durch den Wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie (für Erwachsene) anerkannt, wird jedoch derzeit nicht von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt. Die hierfür notwendige sozialrechtliche Anerkennung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen, welche Voraussetzung für die Kostenerstattung ist, steht noch aus. Dennoch wird der Personzentrierte Ansatz bereits ständig in verschiedenen Settings angewandt, so z.B. in psychosozialen Bereichen wie Beratungsstellen der Telefonseelsorge, der Erziehungs-, Paar-, Ehe- und Lebensberatung (GWG, 2022).
Fazit
Die Personzentrierte Therapie nach Carl Rogers ist ein wissenschaftlich fundierter und international anerkannter Beratungs- und Therapieansatz. Er basiert auf den Grundprinzipien der Humanistischen Psychologie und beinhaltet drei therapeutische Grundhaltungen: Kongruenz bzw. Echtheit, bedingungslose positive Wertschätzung und Empathie. Während der Personzentrierte Ansatz in einigen Ländern wie z.B. den USA und der Schweiz als psychotherapeutisches Behandlungsverfahren anerkannt ist, wird die Behandlung in Deutschland nicht von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen.
Quellen
Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie (GWG) (2022). Der Personzentrierte Ansatz. https://www.gwg-ev.org/wissen/personzentrierter-ansatz, abgerufen am 1.9.2025.
Helle, M. (2024a). Humanistische Psychologie. https://www.socialnet.de/lexikon/Humanistische-Psychologie, abgerufen am 1.9.2025.
Helle, M. (2024b). Humanistische Psychotherapie. In T. Teismann, P. Thoma, S. Taubner, A. Wannemüller, & K. v. Sydow (Hrsg.), Master Klinische Psychologie und Psychotherapie – ein verfahrensübergreifendes Lehr- und Lernbuch (S. 66-79). Göttingen: Hogrefe.
Right Choice Recovery (2024). Person-Centered Therapy in Addiction Treatment. https://rightchoicerecoverynj.com/addiction/therapy/person-centered/, abgerufen am 1.9.2025.
Rogers, C. R. (1981). Der neue Mensch. Stuttgart: Klett-Cotta.
Titelbildquelle
Manske, M. (22.11.2007). Carl Ransom Rogers, abgerufen am 1.9.2025 von Wikipedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Carl_Ransom_Rogers.jpg.
Lizenzbedingungen unter https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Carl_Ransom_Rogers.jpg