By Published On: 8. September 2025Categories: Nachhaltigkeit, Soziales, Wirtschaft

Buen Vivir, wörtlich übersetzt „Gutes Leben“ (Merino, 2016, S. 271), ist ein – zumindest im westlichen Diskurs – relativ neuartiges Konzept eines alternativen Gesellschaftsentwurfs. Was unter dem Begriff genau zu verstehen ist und ob es sich dabei um einen innovativen Entwurf für moderne Gesellschaften handelt oder doch nur um eine illusorische Utopie, soll im Folgenden genauer erläutert werden.

Abbildung 1: Buen Vivir(Quelle: Eigene Darstellung)

Was ist Buen Vivir?

Der Begriff des Buen Vivir, auch unter anderen Bezeichnungen wie Vivir Bien bekannt (Malodnado-Mariscal & Hölsgens, 2024, S. 4-5; Soto Sebastian & Helfrich, 2014, S. 335), stammt aus dem globalen Süden und findet dort auch die größte Aufmerksamkeit, erregt allerdings auch im Globalen Norden zusehends Interesse und führte zu einem lebhaften wissenschaftlichen Diskurs (Maldonado-Mariscal & Hölsgens, 2024, S. 5). Es verwundert also nicht, dass unterschiedliche Begriffsansätze und Verständnisse bestehen. Während einige Autoren besonders die indigene Ausrichtung hervorheben, lautet eine Definition von Jimenez, Delgado, Mersno und Argumedo (2022, S. 1634) folgendermaßen: „[a] paradigm [that] advocates for renewing social and economic relations based on reciprocity, solidarity, and respect for non-humans as subjects of rights“.

Gleich ist dabei allen Ansätzen, dass Buen Vivir als radikal ökologische Alternative zur klassischen Development Theory zu sehen ist (Merino, 2016, S. 271). Die Idee, die laut zahlreichen Autoren auf die indigene Bevölkerung Südamerikas zurückzuführen ist (Maldonado Mariscal & Hölsgens, 2024, S. 4), besteht in einem partnerschaftlichen, gemeinschaftlichen Verhältnis der Menschen untereinander, aber auch gegenüber der Natur. Diese wird dabei nicht als auszubeutende Ressource betrachtet, sondern als Wesen, von dem die Menschheit in einem hohen Grad abhängig ist (Merino, 2016, S. 280). Vor diesem Hintergrund erscheint es wenig verwunderlich, dass die westliche „kapitalistische“ Sicht mit ihrem ständigen Streben nach Innovation und Wachstum strikt abgelehnt und Innovation nicht als notwendige Kraft des Fortschritts betrachtet wird (Maldonado-Mariscal & Hölsgens, 2024, S. 3). Entwicklung in diesem Sinne tritt im Ansatz von Buen Vivir hinter einer starken Nachhaltigkeitsausrichtung in den Hintergrund. Neben der Nachhaltigkeit und dem Naturbezug bilden Solidarität, Kollektivität und Gemeinschaftlichkeit das zweite zentrale Standbein des Buen Vivir (Maldonado-Mariscal, 2024, S. 14-15).

Diese Betrachtung zeigt bereits, dass es sich bei diesem Ansatz durchaus nicht um einen modernen, westlichen Ansatz für mehr Nachhaltigkeit handelt. Vielmehr basiert Buen Vivir auf indigenem, teils traditionellem Denken mit einem Wunsch nach sozialer Veränderung und Vermeidung der Ressourcenverschwendung und des schnellen Wandels (Maldonado-Mariscal & Hölsgens, 2024, S. 11). Im Grunde handelt es sich also mehr um eine beinahe utopische, positiv behaftete und häufig als erstrebenswert betrachtete Philosophie oder Weltanschauung (Maldonado-Mariscal & Hölsgens, 2024, S. 5/12). Merino (2016) versteht dabei Buen Vivir als politische Plattform, die unterschiedlichen sozialen Bewegungen auf Basis indigener Grundlagen die Möglichkeit gibt, Politik und Wirtschaft herauszufordern.

Herkunft und Entwicklung des Begriffs

Wie bereits erwähnt, gehen zahlreiche Autoren von einem indigenen Ursprung des Begriffs Buen Vivir aus (Maldonado-Mariscal & Hölsgens, 2024, S. 4). Fest steht dabei, dass der Ansatz auf indigene Anschauungen zurückzuführen ist und für diese Bevölkerungsgruppen in den letzten Jahrzehnten ein Mittel war, ihre Bedürfnisse zu artikulieren. Erste Erwähnungen des mit einer starken mündlichen Tradition verbundenen Begriffs finden sich im Ecuador der 1930er und -40er Jahre (Maldonado-Mariscal & Hölsgens, 2024, S. 5-7). In den 2000er Jahren erfuhr das Konzept dann eine weite Verbreitung über die Andenregion und fand sogar Eingang in die Verfassungen Ecuadors und Boliviens (Merino, 2016, S. 271). Obwohl die (wissenschaftliche) Diskussion über Buen Vivir vor allem in Lateinamerika stattfindet, erlangte der Ansatz zunehmend auch internationale Aufmerksamkeit (Maldonado-Mariscal & Hölsgens, 2024, S. 5/13). Die gesamte Debatte, sowohl im globalen Süden, wie auch im globalen Norden ist dabei auf die Einsicht zurückzuführen, dass die Grenzen des Wachstums im klassischen Sinne zunehmend erreicht sind: Umweltschäden, vor allem durch den globalen Norden verursacht, zeigen sich immer deutlicher. Außerdem zeichnet sich ein immer stärkeres Nord-Süd-Gefälle ab, was im globalen Süden den Wunsch des „Aufholens“ erstarken lässt. Hierbei wird allerdings genau die Entwicklung, die im globalen Norden die vorherrschenden Probleme hervorruft, als Weg aus der Armut popularisiert, was als eine Art „Wirtschaftskolonialismus“ zu verstehen ist (Maldonado-Mariscal & Hölsgens, 2024, S.1-2). Aufgrund dessen gewinnen weltweit Diskussionen über Kapitalismusalternativen oder auch nachhaltige Kapitalismusausprägungen zunehmend an Bedeutung. Somit steigt auch das Interesse an anderen Kulturen und deren Ansätze, wie beispielsweise Buen Vivir (Altmann, 2019, S. 1). In dieser Tatsache ist auch eine Abkehr von kolonialistischen Praktiken zu sehen.

Kritik

Die Kritik am Konzept des Buen Vivir lässt sich grundsätzlich in zwei Bereiche aufteilen: Zum einen an dessen tatsächlicher Umsetzung und Anpassung an die westliche Kultur und zum anderen an der Idee an sich.

In Bezug auf den ersten Aspekt lohnt sich ein Blick auf Ecuador und Bolivien, welche Buen Vivir, wie schon erwähnt, in ihrer Verfassung verankerten. Eine tatsächliche Umsetzung der Idee findet dort nicht statt, stattdessen werden umweltschädliche Praktiken immer noch gefördert und Buen Vivir dabei sogar, teils gegensätzlich zur ursprünglichen Intention instrumentalisiert. Deshalb wird die Anpassung und Verzerrung der ursprünglichen Ideale kritisch betrachtet und hitzig diskutiert, wobei die ursprünglichen Träger der Bewegung, wie indigene Gruppen, in den Hintergrund rücken (Altmann, 2019, S. 1; Soto Santiesteban & Helfrich, 2014, S. 338). Ein grundlegendes Problem besteht dabei in der Tatsache, dass besagte Länder unter einer ohnehin schon instabilen Wirtschaft leiden, die zu großen Teilen auf Naturausbeutung basiert. Somit gilt es kritisch zu hinterfragen, inwiefern Buen Vivir als indigene Anschauung in einer Entwicklungspolitik umzusetzen ist (Merino, 2014, S. 272). Merino warnt zudem vor der Gefahr der Modernisierung des Konzepts (2014, S. 282). Eine Vereinbarkeit zwischen der individualistischen, theoretischen, liberalen Perspektive des Westens und der traditionellen indigenen Sicht scheint nicht gegeben. Eine Übertagung auf den globalen Norden oder auch auf die Politik des Globalen Südens kann somit immer nur begrenzt sein (Merino, 2014, S. 282-283).

Andererseits stellt sich die Frage, inwiefern Buen Vivir überhaupt umsetzbar ist. Die Ideale erscheinen so weit von unserer heutigen Welt entfernt, dass das Konzept beinahe utopisch wirkt. Außerdem ist fraglich, inwiefern ein Modell ohne jeglichen Fortschritt aus unserer westlichen Sicht überhaupt erstrebenswert ist. Ein weiteres Problem, das sich unter Umständen bereits in der vorangegangenen Ausführung zeigte, ist die in Ansätzen idealistische und propagandaartige Färbung des Begriffs: Es besteht die Gefahr des Abdriftens in pseudoreligiöse Indoktrination.

Somit erscheint Buen Vivir nicht als tragfähiger Gesellschaftsentwurf in der westlichen Welt. Dennoch lohnt es sich, vor allem in Bezug auf die Notwendigkeit des Umdenkens, einen Blick auf andere Kulturen und deren Ideen zu werfen. Wenn auch das gesamte Konzept des Buen Vivir für unsere Gesellschaft zu weit entfernt scheint, könnten doch einzelne Elemente in Bezug auf Umweltschutz und gerechte Gesellschaften umsetzbar sein und zu einer entscheidenden Verbesserung beitragen.

Literaturverzeichnis

Altmann, P. (2019). The Commons as Colonisation – The Well-Intentioned Appropriation of Buen Vivir. Journal of the Society for Latin American Studies, 1, S. 83-97.doi:10.1111/blar.12941

Jimenez, A., Delgado, D., Merino, R. & Argumedo, A. (2022). A Decolonial Approach to Innovation? Building Paths Towards Buen Vivir. The Journal of Development Studies, 9, S. 1633-1650.doi:10.1080/00220388.2022.2043281

Maldonado-Mariscal, K. & Hölsgens, R. (2024). Reimagining innovation pathways: exnovation and Buen Vivir as Global North–South dialogues. Journal of Responsible Innovation,1, S. 1-23.doi:10.1080/23299460.2024.2414510

Merino, R. (2016). An alternative to ‘alternative development’?: Buen vivir and human development in Andean countries. Oxford Development Studies, 3, S. 271- 286.doi:10.1080/13600818.2016.1144733

Soto Santesteban, G. & Helfrich, S. (2014). Der Schaum dieser Tage Buen Vivir und Commons: ein Gespräch. In S. Helfrich & Heinrich-Böll-Stifung (Hrsg.), Commons (S. 335-343). Bielefeld: transcript Verlag.

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