Mit Veröffentlichung und stufenweisem Inkrafttreten der elften Revision der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-11) im Januar 2022 wurde die sog. Binge Eating Störung neu als Diagnose in die Klassifikation mit aufgenommen (Gradl-Dietsch/Föcker/Hebebrand, 2022 und World Health Organization, 2022.). Dies bedeutet eine Erleichterung für Betroffene und kann zur besseren Prävention und Behandlung beitragen.
Was ist die Binge-Eating-Störung?
Kernmerkmal der Binge-Eating-Störung (BES) sind wiederkehrende Essanfälle, die durch den unkontrollierbaren Verzehr sehr großer Nahrungsmengen innerhalb von kurzer Zeit gekennzeichnet sind. Zu unterscheiden ist die BES von objektivem Überessen, wo ebenfalls große Mengen in kurzer Zeit, einem Essanfall ähnlich, verzehrt werden. Dies geht jedoch nicht mit dem Gefühl eines Kontrollverlusts einher. Begleitet werden die Essanfälle im Rahmen einer BES von Scham-, Schuld- und Ekelgefühlen und sind von einem hohen Leidensdruck gekennzeichnet. Im Gegensatz zur Bulimia nervosa und Anorexia nervosa werden keine kompensatorische Verhaltensweisen wie z.B. Erbrechen oder exzessivem Sport ausgeführt. Der Schweregrad der BES wird anhand der wöchentlichen Essanfälle eingeschätzt: bis zu drei Essanfälle pro Woche gelten als leichte, vier bis sieben als moderate, acht bis 13 als schwere und 14 oder mehr als extreme Form der BES. Es liegt eine hohe Komorbidität mit anderen psychischen Störungen vor, v.a. affektive Störungen, Angststörungen und Substanzmissbrauch und -abhängigkeit. Zur Ätiologie liegt aufgrund der geringen Anzahl prospektiver Studien noch keine ausreichende Datengrundlage vor. Es werden v.a. essens- und körperbezogene Variablen, negative Affekte und Vorbilder für riskantes Essverhalten diskutiert (Svaldi/Naumann, 2014 und de Zwaan/Mühlhans, 2015).
Hohe Verbreitung – schlechte Versorgung
Mit einer Prävalenz von 6,1% bei Jugendlichen, 1,8% bei erwachsenen Frauen und bis zu 0,7% für erwachsene Männer ist die BES die häufigste Essstörung in der Allgemein-bevölkerung. Gleichzeitig zeigen Studien zur Versorgungssituation, dass die BES oft unentdeckt bleibt und Betroffene unversorgt sind. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich viele Personen mit BES einer Essstörung nicht bewusst sind, und primär Gewichtsreduktionsprogramme aufsuchen. Nur ein Teil erhält von Ärzt*innen und Therapeut*innen die richtige Diagnose und Therapie. Viele werden von erlebter oder befürchteter Stigmatisierung, Scham und Schuldgefühlen davon abgehalten, sich in Behandlung zu begeben (Giel/Zipfel/Schag, 2025).
Späte klinische Berücksichtigung
Das Konzept Binge-Eating wurde bereits 1932 im Rahmen eines Kongresses der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft von klinischen Wissenschaftler*innen vorgestellt. Obwohl bereits damals klar definierte Kriterien vorlagen, wurde die Störung erst 1994 im amerikanischen Klassifikationssystem DSM-5 in der Kategorie „Essstörung nicht näher bezeichnet“ berücksichtigt. Im Jahr 2013 folgte die Codierung als eigenständige Diagnose unter 307.51. Seit 2010 gibt es eine Empfehlung für die Behandlung der Erkrankung mit der S3-Leitlinie „Diagnostik und Therapie der Essstörungen“. In der ICD-10 war die Binge-Eating-Störung lediglich als unspezifische Diagnose den sonstigen Essstörungen zugeordnet. Erst mit der Umstellung auf ICD-11 wird es möglich, eine eigene und abgrenzbare Diagnose zu stellen (Richard/Obermayr/Voderholzer, 2025).
Therapie
Die Berücksichtigung in der ICD-11 bedeutet für Betroffene in Zukunft einen besseren Zugang zu Behandlungsmöglichkeiten. Durch die eigenständige Klassifikation fällt es Ärzt*innen ggf. leichter, eine BES hinter Symptomen wie Übergewicht und Adipositas zu erkennen und entsprechende therapeutische Maßnahmen einzuleiten. Zur Therapie gehören Gewichts- und Ernährungsmanagement, aber auch Arbeit an Körperbild und erhöhung der Selbstakzeptanz. Darüber hinaus wird darauf abgezielt, Zusammenhänge zwischen Emotionen und Essverhalten zu verstehen, diese zu entkoppelt und alternative Strategien zur Emotionsregulation zu entwickeln. Hierbei konnten positive Effekte durch Achtsamkeitspraktiken im Alltag sowie Bewegungsinterventionen wie z.B. Yoga und leichtes Ergometer- und Krafttraining nachgewiesen werden. Aufgrund von mangelnden Therapieplätzen, langen Wartezeiten und persönlichen Barrieren wie z.B. Scham -und Schuldgefühle finden bisher nur wenige Betroffene Zugang zu Psychotherapie. Als mögliche Alternative wurde eine leichte Wirksamkeit einer Anwendung von strukturierter, manualisierter Selbsthilfe mit Behandlungselementen der kognitiven Verhaltenstherapie berichtet. Ein Medikament zur Behandlung der BES ist in Deutschland bisher nicht offiziell zugelassen (Richard/Obermayr/Voderholzer, 2025).
Fazit
Obwohl die Binge-Eating-Störung in Deutschland die am weitesten verbreitete Essstörung ist, erhalten nur wenige Betroffene Zugang zu therapeutischer Behandlung. Scham und Angst vor Stigmatisierung angesichts der Essanfälle sowie die Vergesellschaftung von Übergewicht und Adipositas trugen dazu bei, dass Betroffene, aber auch Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen die BES nicht als solche erkennen und diagnostizieren konnten. Die Berücksichtigung als eigene Diagnose in der ICD-11 kann dazu beitragen, dass die Diagnostik und somit die Versorgungssituation in Deutschland verbessert wird.
Quellen
De Zwaan, M./Mühlhans, B. (2015), Atypische Essstörungen und Binge-Eating-Störung. In: Herpertz, S./de Zwaan, M./Zipfel, S. (Hrsg.), Handbuch Esstörungen und Adipositas, Berlin Heidelberg, S.21-26.
Giel, K./Zipfel, S./Schag, K. (2025), Binge-Eating-Störung – State of the Art, Nervenarzt Nr.96/2025, S.238-246.
Gradl-Dietsch, G./Föcker, M./Hebebrand, J. (2022), Essstörungen im ICD-11 und DSM-5. In: Herpertz, S./de Zwaan, M./Zipfel, S. (Hrsg.), Handbuch Essstörungen und Adipositas. Berlin Heidelberg, S.17-28.
Richard, A./Obermayr, A./Voderholzer, U. (2025), Mehr als nur Hunger: Diagnostik und Therapie der Binge-Eating-Störung, Die Neurologie & Psychiatrie Nr. 26/2025, S.52-57.
Svaldi, J./Naumann, E. (2014), Binge-Eating-Störung, Neurologie & Psychiatrie Nr.16/2014, S.
World Health Organization (2022), ICD-11: International classification of diseases (11th revision), https://icd.who.int/, abgerufen am 11.07.2025.
Titelbildquelle
Nilov, M. (8.7.2021), Lebensmittel – essen – zucker – suss, abgerufen am 7.8.2025 von Pexels: https://www.pexels.com/de-de/foto/lebensmittel-essen-zucker-suss-8670033/
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