By Published On: 7. April 2022Categories: Psychologie

Einfach mal „Fünfe gerade sein lassen“? Für Menschen mit zwanghafter (anankastischer) Persönlichkeitsstörung ist das schwer vorstellbar. Sie sind überdurchschnittlich perfektionistisch, pedantisch und gewissenhaft. Doch was unterscheidet „normale“ Ordnungsliebe oder Genauigkeit von einer pathologischen Störung? Und: Wie lässt sich eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung von einer Zwangsstörung abgrenzen? Ein Überblick.

Was ist eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung?

Persönlichkeitsstörungen sind sozusagen die „Extremvarianten“ unter den Persönlichkeitstypen. Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung (kurz: PS) weisen tief verwurzelte, weitgehend stabile und starre Denk- und Verhaltensmuster auf, die deutlich von der Norm abweichen.[1] Je nachdem, welche Muster im Vordergrund stehen, unterscheiden Fachleute zwischen verschiedenen Formen von PS. Die anankastische PS ist eine davon.[2]

Bei einer zwanghaften PS stehen Denk- und Verhaltensmuster im Vordergrund, die von Perfektionismus, Selbstdisziplin, hohen Moralvorstellungen und Starrheit geprägt sind. Betroffene beschäftigen sich im Übermaß mit Regeln, Gesetzen und Formalitäten. Für Spontaneität ist kein Raum, alles muss detailliert geplant sein. Aus Furcht vor Fehlern schieben zwanghafte Persönlichkeiten Entscheidungen vor sich her, sodass es ihnen schwerfällt, ein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Auf Mitmenschen machen sie einen „steifen“, ernsten Eindruck.[3]

Innere und äußere Konflikte möglich

Das Streben nach Perfektion führt nicht selten zu einem inneren Konflikt, denn die (selbst gesetzten) strengen Wertmaßstäbe sind nahezu unerreichbar. Die eigene Leistung reicht also praktisch nie für ein Gefühl der Zufriedenheit.[4]

Konflikte können aber auch im zwischenmenschlichen Bereich entstehen. Arbeit und Effizienz scheinen zwanghaften Persönlichkeiten wichtiger zu sein als eine gute zwischenmenschliche Basis. Andere vermissen an ihnen häufig Lebensfreude und Vergnügen, eine gewisse Flexibilität oder Leichtigkeit. Hinzu kommt, dass zwanghafte Persönlichkeiten auch von ihren Mitmenschen erwarten, dass diese ihre hohen Ansprüche erfüllen.[5]

Ihre emotionale Seite zeigen Menschen mit zwanghafter PS nur selten. Sie sind jedoch sehr sensibel und reagieren auf Kritik schnell verletzt – vor allem, wenn sie von Autoritäten beurteilt werden.[6]

Die Diagnose „zwanghafte Persönlichkeitsstörung“ stellen Fachleute erst bei Personen im jungen Erwachsenenalter, da sich die Persönlichkeit bis dahin noch in der Entwicklung befindet.[7] Schätzungen zufolge erfüllen etwa 2 % der Bevölkerung die Kriterien für eine zwanghafte PS (siehe Tab. 1).[8]

Diagnose der zwanghaften PS (nach DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders 5) der American Psychiatric Association
Mindestens 4 der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:
Die Person
  • befasst sich übermäßig mit Details, Regeln, Listen, Ordnung, Organisation oder Plänen; dabei geht die eigentliche Absicht der Aktivität verloren.
  • ist so perfektionistisch, dass sie ihre Aufgaben nur eingeschränkt erfüllen kann.
  • widmet sich im Übermaß ihrer Arbeit/Aspekten der Produktivität und stellt sie über Freundschaften/Aktivitäten im Privatleben.
  • ist bzgl. Ethik/Werten/Moral im Übermaß gewissenhaft, rigide oder peinlich genau.
  • kann auch Dinge, die für sie bedeutungslos und/oder die wertlos sind, nicht wegwerfen/entsorgen.
  • kann Aufgaben nur schwer an andere abgeben oder arbeitet nicht gern mit Menschen zusammen, die ihre eigene Arbeitsweise nicht teilen.
  • ist sich und anderen gegenüber geizig.
  • ist halsstarrig und rigide.
Tab. 1: Diagnosekriterien nach DSM-5
(Quelle: eigene Darstellung, in Anlehnung an Falkai (2015, S. 931))

Was ist der Unterschied zu einer Zwangsstörung?

Zwischen der zwanghaften PS und der Zwangsstörung gibt es erhebliche Unterschiede (vgl. Tab. 2). Eine Zwangsstörung zeichnet sich durch sich immer wieder aufdrängende Zwangsgedanken, -handlungen und/oder -impulse aus.[9] Beim Versuch, diese zu unterbinden, erleben Betroffene starke Anspannung. Menschen mit anankastischer PS haben zwar ebenfalls gern alles unter Kontrolle. Zwangsgedanken oder -handlungen sind für die Störung jedoch nicht typisch.[10]

Zwanghafte PersönlichkeitsstörungZwangsstörung
Ich-SyntonieIch-Dystonie
überdauernde, stabile Denk- und Verhaltensmuster seit Jugend/Adoleszenz, die nur in Grenzen veränderbar sindBeschwerdebild kann auch nach der Adoleszenz noch einsetzen; Symptome überdauern nicht zwingend, sondern sind veränderbar
Zwangshandlungen und -gedanken sind nicht typisch MerkmaleZwangshandlungen und -gedanken sind typische Merkmale
Tab. 2: Unterschiede zwischen zwanghafter PS und Zwangsstörung
(Quelle: eigene Darstellung, in Anlehnung an Deister (2015b), S. 147; Morschitzky (2009), S. 114; Gaebel/Falkai (2008), S. 22; Reinecker (2009), S. 10)

Eine Zwangsstörung setzt meist im Alter zwischen 20 und 25 Jahren ein, kann aber auch später in Erscheinung treten. Eine (zwanghafte) PS ist hingegen durch überdauernde Muster charakterisiert, die bereits in der Jugend oder Adoleszenz erkennbar sind. Sie bleiben zeitlebens relativ beständig und sind nur in engen Grenzen veränderbar.[11]

Ein weiterer Unterschied: Menschen mit zwanghafter PS erleben ihre Handlungen, Gedanken oder Einstellungen als zu ihrem ICH zugehörig (ICH-synton) und suchen daher auch nur dann Hilfe, wenn es aufgrund ihrer Persönlichkeitsmerkmale zu Konflikten kommt. Bei einer Zwangsstörung hingegen distanzieren sich die Betroffenen von ihren Zwängen und erleben sie als nicht zu ihrem ICH gehörig (ICH-Dystonie). Sie sind sich bewusst, dass die Zwänge übertrieben oder unsinnig sind.[12]

Zwar treten Zwangserkrankungen bei Menschen mit anankastischer PS etwas häufiger auf; ein Zusammenhang zwischen beiden Störungsbildern lässt sich daraus jedoch nicht ableiten.[13]

Wie lässt sich eine zwanghafte PS behandeln?

Eine zwanghafte PS ist nicht unbedingt behandlungsbedürftig, solange die Betroffenen nicht darunter leiden.[14] Eine Psychotherapie kann jedoch helfen, wenn es aufgrund der Persönlichkeitsmerkmale zu Problemen kommt – etwa, wenn sie Aufgaben am Arbeitsplatz aufgrund ihrer hohen Ansprüche nicht schnell genug erledigen.[15] Auch kann es sein, dass zwanghafte Persönlichkeiten aufgrund einer anderen Störung in die Praxis kommen. Bestimmte psychische Erkrankungen kommen bei zwanghaften Persönlichkeiten häufiger vor. Dazu gehören etwa Essstörungen, Depressionen oder Angsterkrankungen.[16]

Persönlichkeitsstörungen sind therapeutisch nur in Maßen beeinflussbar. Die Psychotherapie zielt nicht darauf ab, den Charakter grundlegend zu verändern. Vielmehr geht es darum, die Persönlichkeitsmerkmale im Kontext der individuellen Lebensbedingungen zu beleuchten – und zu lernen, mit Konflikten besser umzugehen.[17] Bislang ist empirisch nicht ausreichend untersucht, welche Behandlungsmaßnahmen bei einer zwanghaften PS geeignet sind. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die Kognitive Therapie nach Beck und die Supportiv-Expressive Dynamische Psychotherapie wirksam sein könnten.[18]

Fazit

Eine zwanghafte Persönlichkeitsstörung bedeutet nicht automatisch, dass die Betroffenen oder die Mitmenschen darunter leiden. Viele Menschen mit zwanghafter Persönlichkeit werden aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften, etwa Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit, bei anderen geschätzt.

Problematisch wird eine zwanghafte PS erst, wenn sie zu inneren oder äußeren Konflikten führt. Dann kann eine Psychotherapie hilfreich sein.


[1] Vgl. Deister (2015a), S. 383; vgl. Asendorpf (2019), S. 75.

[2] Vgl. Deister (2015a), S. 383.

[3] Vgl. Deister (2015a), S. 396-397; vgl. Herpertz/Bronisch (2017), S. 2395.

[4] Vgl. Deister (2015a), S. 396.

[5] Vgl. Deister (2015a), S. 396-397; vgl. Herpertz/Bronisch (2017), S. 2395.

[6] Vgl. Deister (2015a), S. 396.

[7] Vgl. Gaebel/Falkai (2008), S. 5.

[8] Vgl. Herpertz/Bronisch (2017), S. 2395.

[9] Vgl. Deister (2015b), S. 148.

[10] Vgl. Gaebel/Falkai (2008), S. 33; vgl. Morschitzky (2009), S. 114.

[11] Vgl. Deister (2015b), S. 147; vgl. Morschitzky (2009), S. 114.

[12] Vgl. Reinecker (2009), S. 10.

[13] Vgl. Deister (2015a), S. 397.

[14] Vgl. Fiedler/Herpertz (2016), S. 377.

[15] Vgl. Fiedler/Herpertz (2016), S. 377.

[16] Vgl. Costa et al. (2005); vgl. Gaebel/Falkai (2008), S. 112.

[17] Vgl. Asendorpf (2019), S. 75; vgl. Fiedler/Herpertz (2016), S. 387.

[18] Vgl. Gaebel/Falkai (2008), S. 116.


Literaturverzeichnis

Asendorpf, J. B. (2019), Persönlichkeitspsychologie für Bachelor, Berlin, Heidelberg.

Costa, P./Samuels, J./Bagby, M./Daffin, L./Norton, H. (2005), Obsessive-Compulsive Personality Disorder: A Review. In: Maj, M./Akiskal, H. S./Mezzich, J. E./Okasha, A. (Hrsg.), Personality disorders, Hoboken, NJ, S. 405-477.

Deister, A. (2015a), Persönlichkeitsstörungen. In: Möller, H.-J./Laux, G./Deister, A. (Hrsg.), Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Stuttgart, S. 383-404.

Deister, A. (2015b), Zwangsstörungen. In: Möller, H.-J./Laux, G./Deister, A. (Hrsg.), Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Stuttgart.

Falkai, P. (Hrsg.) (2015), Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – DSM-5 ®, Göttingen, Bern, Wien.

Fiedler, P./Herpertz, S. (2016), Persönlichkeitsstörungen, Weinheim.

Gaebel, W./Falkai, P. (2008), S2-Leitlinien für Persönlichkeitsstörungen (S2 Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie) (German Edition).

Herpertz, S. C./Bronisch, T. (2017), Persönlichkeitsstörungen. In: Möller, H.-J./Laux, G./Kapfhammer, H.-P. (Hrsg.), Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie, Berlin, Heidelberg, S. 2361-2428.

Morschitzky, H. (2009), Angststörungen, Wien.

Reinecker, H. (2009), Zwangshandlungen und Zwangsgedanken, Göttingen, Bern, Wien, Paris.

Beitragsbild:

https://www.pexels.com/de-de/foto/schwarze-kopfhorer-auf-braunem-holzschrank-6334883/

Credit: cottonbro

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