Jeden Tag verschluckt das Meer weitere Teile der Insel, bis sie irgendwann ganz verschwunden ist. Für die Einwohner:innen von Tuvalu ist das zur traurigen Realität geworden: innerhalb der nächsten Jahrzehnte könnte ihre Heimat komplett im Meer versunken sein. Der Umgang damit ist sehr schwer.
Das Phänomen der Solastalgie
Der Klimawandel verändert unsere natürliche Umwelt immer mehr, und mit ihr die Heimat von Millionen Menschen. Neben ökologischen und ökonomischen Schäden tragen immer mehr Menschen durch den Klimawandel aber auch psychische Belastungen davon. Die Solastalgie ist eine davon: sie beschreibt die psychische Belastung, die durch die negative Veränderung oder den Verlust der natürlichen Umwelt infolge des Klimawandels entsteht. Ein großes Problem dabei: meist muss man Veränderungen der eigenen Umgebung einfach hinnehmen, ohne etwas dagegen tun zu können (Brandt & Heinz, 2024, S. 1008).
Wichtig zu sagen ist: die Solastalgie ist keine Krankheit oder psychische Störung im engeren Sinne, sondern eine Reaktion auf eine begründete Sorge, deshalb gibt es für sie auch keine Klassifizierung in der ICD-11 oder der DSM-5 (Brandt & Heinz, 2024, S. 1008).
Das Wort „Solastalgie“ wurde von dem australischen Naturphilosophen Glenn Albrecht geprägt und ist ein Neologismus bestehend aus dem lateinischen Begriff sōlācium (Trost) und dem griechischen -algia (Schmerz, Leiden). Auch die Ähnlichkeit zum Wort „Nostalgie“ ist beabsichtigt, ursprünglich bedeutete Nostalgie Heimweh. Solastalgie ist eine Art Heimweh, die man hat, obwohl man eigentlich zuhause ist (Albrecht, 2005, S. 45). Greifbar wird dieses Konzept am Inselstaat Tuvalu.
Das verschwindende Paradies: Tuvalu
Tuvalu ist ein Inselstaat im Pazifischen Ozean, zu dem neun einzelne Inseln gehören, die zusammen eine Fläche von etwa 26 km2 bilden. Dadurch, dass Tuvalu durchschnittlich nur einen Meter über dem Meeresspiegel liegt, ist es weltweit eines der am stärksten vom Klimawandel bedrohten Länder. Aber nicht nur der Anstieg des Meeresspiegels stellt eine große Gefahr dar, auch Veränderungen der Wassertemperatur und des pH-Wertes haben bereits stark spürbare negative Folgen (SPREP, 2022, S. 5). Die folgende Tabelle zeigt einige weitere Aspekte davon, wie sich der Klimawandel auf Tuvalu auswirkt.
| Klimarisiken | Auswirkungen auf Tuvalu |
|---|---|
| Anstieg des Meeresspiegels | – Sehr niedrige Inseln, deshalb anfällig für Überflutungen – Erwarteter Anstieg bei mittlerem Emissionsszenario: 13-29 cm bis 2050 und 29-68 cm bis 2090 |
| Niederschlag | – Unsicher, extreme Regenfälle könnten häufiger und noch intensiver werden – Bei längeren Trockenperioden Gefahr der Wasserknappheit |
| Temperaturanstieg | – Bis 2030 Temperaturanstieg um 0,4-1,0°C (mittleres Emissionsszenario) – Extreme Hitze führt zu gesundheitlichen Problemen |
| Auswirkungen auf den Ozean | – Wirtschaft und Ernährung hängen stark von Meeresressourcen ab – Meeresversauerung schädigt Korallen, natürlicher Wellenbrecher wird schwächer |
(Eigene Darstellung in Anlehnung an SPREP, 2022, S. 35)
Die Prognose ist schlimm: Tuvalu könnte innerhalb der nächsten 50 bis 100 Jahre vollständig versunken sein, vermutlich aber schon deutlich früher unbewohnbar werden (Gallinat & Schmidt, 2025, S. 26–27).
Wie reagieren die Einwohner:innen?
Aktuell leben auf dem Inselstaat ungefähr 10.500 Menschen, das wird aber höchstwahrscheinlich nicht mehr lange so bleiben (Ifland, 2025). Die Einwohner:innen Tuvalus stehen vor einer schweren Entscheidung: Was tut man, wenn man weiß, dass die eigene Heimat in Zukunft nicht mehr bewohnbar sein wird? Viele Möglichkeiten gibt es nicht – entweder bleiben und versuchen, den Untergang zu verhindern, oder die Heimat verlassen. 80 % der Einwohner:innen von Tuvalu, 8.750 Personen inklusive Familienmitgliedern, haben sich bereits entschieden, dass sie gehen wollen, und „Klima-Asyl“ in Australien beantragt.
Dafür werden von Australien innerhalb eines Zufallsverfahrens jedes Jahr 280 Sondervisa an Personen verlost, die sich anmelden. Das heißt wenn die Anzahl der Visa jedes Jahr gleichbliebe, würde es theoretisch etwa 40 Jahre dauern, bis alle Einwohner:innen in Australien wären (der Spiegel, 2025). Ob das ausreicht, um alle rechtzeitig zu retten, ist unklar.
Aber nicht alle wollen Tuvalu verlassen. Einige wenige der Einwohner:innen wollen versuchen, den Untergang zu verhindern: zum Beispiel durch Deiche und Sandaufschüttungen. An der Hauptinsel Tuvalus, Funafuti, wird aktuell neues Land mit einer Fläche von etwa sechs Fußballfeldern aufgeschüttet und durch einen fünf Meter hohen Deich abgesichert. Einige Menschen hoffen, dass das den Inselstaat retten und eine neue Zukunft ermöglichen kann (Deutsche Welle, 2025). Aber egal wie die Einwohner:innen entscheiden, die psychischen Folgen können immens sein.
Solastalgie bei den Einwohner:innen
Für die Einwohner:innen von Tuvalu ist der Klimawandel keine abstrakte Bedrohung mehr wie für viele Menschen aus anderen Teilen der Welt, er ist Teil ihrer Realität. Der Premierminister des Staates, Feleti Teo, betont, dass die Mehrheit der Bevölkerung eigentlich in Tuvalu bleiben möchte. Er hofft, dass die Menschen, die auswandern, irgendwann wieder in ihre Heimat zurückkehren.
Der Fischer Christopher Tefoto sagt „Mich macht das ganz schön traurig. Die Situation macht mich fertig, es ist nichts, was irgendwann passiert, es passiert jetzt, wir erleben es genau jetzt. Und für die kommende Generation wird das noch schlimmer“ und zum Visum: „Wenn uns die Folgen des Klimawandels wirklich treffen, dann gibt es für uns keinen anderen Ausweg“ (Deutsche Welle, 2025). Die Aussagen dieser Bewohner verdeutlichen, wie real die psychische Belastung ist, und weitere Interviews zeigen, dass es fast allen so geht. Sie haben Angst, fühlen sich hilflos und haben das Gefühl, nicht nur ihre Heimat, sondern gleichzeitig auch sich selbst zu verlieren. Auch wenn der Umgang mit der Situation – fliehen oder für die Insel kämpfen – bei den Menschen unterschiedlich ist, haben sie eines gemeinsam: die Solastalgie.
Sondergesandter des Staates Tuvalu, Samuelu Laloniu gibt an, dass das Land aktuell ein digitales Archiv aufbaut, um das kulturelle Erbe zu sichern. Damit soll erreicht werden, dass die Gemeinschaft fortbestehen kann – auch ohne Land. Offen bleibt für ihn aber trotzdem die Frage, was mit einem Volk geschieht, das kein Territorium mehr besitzt. Das zeigt umso deutlicher die tiefgreifende Trauer (Wehler-Schöck, 2023).
Handlungsansätze und Fazit
Das Beispiel Tuvalu zeigt, dass die negativen psychischen Auswirkungen des Klimawandels längst spürbar sind. Gleichzeitig erinnert uns die Solastalgie daran, was auf dem Spiel steht, denn wären uns unsere Heimat und unsere Umwelt egal, dann gäbe es keinen Grund, sie zu schützen. Und genau das ist jetzt wichtig: aus der Angst, Hilflosigkeit und Trauer können Handlungen resultieren.
Wenn allerdings die Belastung für Betroffene so groß ist, dass sie nicht mehr allein damit umgehen können, kann psychologische Unterstützung hilfreich sein, um die Gefühle von Trauer, Wut oder Hilflosigkeit zu verarbeiten und einen Weg für einen aktiveren Umgang zu finden (Klein, 2024, S. 50–51). Wenn das gelingt, können aus der Solastalgie kollektives Handeln und Verantwortung entstehen – und vielleicht sogar zukünftige Solastalgie verhindert werden.
Literaturverzeichnis
Albrecht, G. (2005). ‘Solastalgia’. A New Concept in Health and Identity. Philosophy activism nature, (3), 41–55.
Brandt, L. & Heinz, A. (2024). Klimakrise und Psychiatrie. Der Nervenarzt [Climate crisis and psychiatry], 95(11), 1005–1012. https://doi.org/10.1007/s00115-024-01735-0
Deutsche Welle. (2025). Tuvalu: Warum viele Bewohner auswandern wollen. Verfügbar unter: https://www.dw.com/de/tuvalu-warum-viele-bewohner-auswandern-wollen/video-74002253
Klein, F. (2024). Klimaangst: Kollektives Anliegen erreicht Psychotherapie. InFo Neurologie + Psychiatrie, 26(1), 50–51. https://doi.org/10.1007/s15005-024-3831-0
Der Spiegel. (2025). Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung von Tuvalu beantragen Klima-Visum für Australien. Verfügbar unter: https://www.spiegel.de/ausland/tuvalu-ueber-80-prozent-der-bevoelkerung-von-tuvalu-beantragt-klima-visum-fuer-australien-a-f30b8f55-915a-4c57-9ca5-0b08e3a202ed
SPREP. (2022). Tuvalu State of Environment Report 2022.
Bildquellen
Titelbild: https://pixabay.com/photos/beach-clouds-fishing-man-ocean-1838354/ (Pexels, 2016)






