Fast jeder kennt eine Person, die Nägel kaut oder hat es selbst schon mal getan. Das Verhalten wird bei Erwachsenen meistens mit Nervosität oder Stress assoziiert und als harmlose, aber lästige Angewohnheit abgetan. Aber steckt dahinter vielleicht mehr als das?
Mehr als eine schlechte Gewohnheit
Nägelkauen, oder medizinisch Onychophagie, gehört zu den sogenannten Body-Focused Repetitive Behaviors (BFRB), also körperbezogene, wiederkehrende Verhaltensweisen, zu denen zum Beispiel auch das Zupfen an der Haut oder das Ausreißen von Haaren gehört. In der neuen ICD-11 finden sich erstmals die Body-Focused Repetitive Behavior Disorders (BFRBD) als eigene Subkategorie im Zwangsspektrum, inklusive des Nägelkauens. Diese Veränderung ist aus therapeutischer und wissenschaftlicher Sicht bedeutend: damit werden Verhaltensweisen wie Nägelkauen, Lippenbeißen oder Nagelhautbeißen nicht mehr als Marotten abgetan, sondern als klinisch relevante Störungen betrachtet (Gallinat & Schmidt, 2025, S. 26).
Ab wann ist das Verhalten pathologisch?
Einige der Verhaltensweisen, die zu den BFRBD gehören, kommen in milder Form auch bei gesunden Personen vor, zum Beispiel das gelegentliche Kauen oder Reißen an einem eingerissenen Nagel. Ab wann spricht man dann von einer pathologischen Ausprägung? Das tut man, wenn das Verhalten…
- Trotz wiederholter Versuche nicht kontrolliert und gestoppt werden kann
- Physiologische/dermatologische Folgeerscheinungen auslöst
- Und deutliche psychosoziale Beeinträchtigungen entstehen
Bisher bestehen im Bereich der BFRBDs nur zwei eigenständige Diagnosen in der ICD-11: für das pathologische Skin-Picking (Dermatillomanie) und für das pathologische Haareausreißen (Trichotillomanie). Trotz dessen wird auch die Onychophagie zunehmend als klinisch relevantes Störungsbild betrachtet (Gallinat & Schmidt, 2025, S. 26–27).
Häufigkeit und Ursachen des Nägelkauens
Schätzungsweise 20-30 % aller Menschen kauen ihre Nägel, bei Kindern zwischen zehn Jahren und Pubertät wird ein Anteil von 45 % angenommen. Das heißt, die Häufigkeit nimmt mit steigendem Alter zwar eher ab, aber teilweise fangen Personen auch erst im Erwachsenenalter mit dem Nägelkauen an. Allerdings wird vermutet, dass die Prävalenz eher unterschätzt wird, weil Betroffene sich für das Nägelkauen schämen könnten und sich deshalb seltener Hilfe suchen.
Besonders anfällig für das Nägelkauen sind Personen mit übermäßigem Stress, vor allem Student:innen (Lee & Lipner, 2022, S. 3). Das passt auch zu der Beschreibung des Nägelkauens als eine Art Übersprungshandlung: wenn innere Anspannung, Langeweile oder Stress auftreten, dient das Kauen als eine Art Ventil, ähnlich wie stereotype Verhaltensweisen bei Tieren in Konfliktsituationen. Außerdem wird das Nägelkauen bei Kindern häufig von ihren Eltern übernommen, als Form des Modelllernens. Die genaue Ätiologie ist nicht bekannt, es werden aber multifaktorielle Gründe angenommen (Erdogan et al., 2021, S. 18).
Psychologische Mechanismen
Die Onychophagie wird im Erwachsenenalter meist unbewusst durch Stress, innere Anspannung oder Langeweile ausgelöst. Betroffene berichten, dass sie vor dem Kauen einen sehr starken Drang dazu und eine Anspannung fühlen, die sich nach dem Kauen in Erleichterung verwandelt. Das ist ein klassisches Beispiel für die negative Verstärkung der operanten Konditionierung. Zusätzlich besteht bei Personen, auf die das zutrifft, eine höhere Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie gleichzeitig an einer generalisierten Angststörung leiden (Lee & Lipner, 2022, S. 4).
Das Verhalten ist also nicht einfach nur Resultat mangelnder Disziplin, sondern steht oft im Zusammenhang mit einer gestörten Emotionsregulation. Kurzfristig baut es zwar die Anspannung ab und kann sich gut anfühlen – langfristig kann das Nägelkauen bei Betroffenen aber sehr deutliche negative Effekte haben. Dazu gehören ein erlebter Kontrollverlust, Schuldgefühle, Selbstvorwürfe und Scham, sogar bis hin zu sozialem Rückzug und Beeinträchtigungen im Berufsleben (Gallinat & Schmidt, 2024, S. 168). Das Ganze kann sich mit der Zeit zu einem Teufelskreis entwickeln, der in der folgenden Abbildung grafisch dargestellt wird.

Teufelskreis der Onychophagie (eigene Darstellung)
Körperliche Folgen
Neben den psychischen Aspekten hat das Nägelkauen auch negative körperliche Folgen. Durch das wiederholte Kauen können Verletzungen der Nägel und Nagelhaut entstehen, was wiederum zu Entzündungen, Infektionen und Störungen des Nagelwachstums führen kann. Aber nicht nur die Nägel leiden darunter, auch die Zähne können Schäden davontragen. Chronisches Nägelkauen kann dazu führen, dass Abrasionen, Fehlstellungen oder im schlimmsten Fall sogar Wurzelresorptionen entstehen, vor allem wenn gleichzeitig eine Zahnspange getragen wird. Zusätzlich besteht ein erhöhtes Risiko für Herpes- oder bakterielle Infektionen bei Wunden im Mundbereich (Lee & Lipner, 2022, S. 14).
Was kann man dagegen machen?
Bei einer leichten Ausprägung kann es schon helfen, sich die eigenen Auslöser bewusst zu machen und zum Beispiel bei erhöhtem Stress zu versuchen, diesen auf gesündere Weise abzubauen, zum Beispiel durch Entspannungsübungen. Dazu kann auch das Habit-Reversal-Training (HRT) sinnvoll sein, bei der konkrete Methoden zum Durchbrechen von Verhaltensketten gelernt werden. In schwereren Fällen kann eine kognitive Verhaltenstherapie sinnvoll sein, um die Impulskontrolle im Allgemeinen zu verbessern und eine gesunde Emotionsregulation zu entwickeln.
Zusätzlich können mechanische Barrieren wie Pflaster oder auch bitter schmeckende Schutzschichten auf den Nägeln helfen, um das Kauen zu unterbinden. Weil die Onychophagie in vielen Fällen mit anderen Belastungen oder psychischen Störungen einhergeht, ist vor allem bei starkem Leidensdruck eine Psychotherapie sinnvoll (Gallinat & Schmidt, 2024, S. 167).
Fazit
Nägelkauen ist in vielen Fällen mehr als eine harmlose Angewohnheit. Es kann ein Ausdruck von erhöhtem Stress oder einer starken (emotionalen) Anspannung sein (Moritz, Schmotz, Hoyer & Abramovitch, 2024, 1248). Wichtig ist, verharmlosende Vorurteile abzulegen und die Onychophagie ernst zu nehmen, und das, ohne bei Betroffenen Scham- oder Schuldgefühle auszulösen. Dazu ist es auch wichtig, dass die Onychophagie im medizinischen und psychologischen Kontext nicht bagatellisiert, sondern als ernsthaftes Krankheitsbild wahrgenommen und behandelt wird. Denn nicht nur das Nägelkauen an sich kann schon extrem belastend für Betroffene sein, es kann zusätzlich auf noch viel tieferliegende und behandlungsbedürftige Probleme hinweisen.
Literaturverzeichnis
Erdogan, H. K., Arslantas, D., Atay, E., Eyuboglu, D., Unsal, A., Dagtekin, G. et al. (2021). Prevalence of onychophagia and its relation to stress and quality of life. Acta Dermatovenerologica Alpina Pannonica et Adriatica, 30(1). https://doi.org/10.15570/actaapa.2021.4
Gallinat, C. & Schmidt, J. (2024). Trichotillomanie, Skin-Picking-Störung und andere körperbezogene repetitive Verhaltensstörungen in der ICD-11. Die Psychotherapie, 69(3), 165–171. https://doi.org/10.1007/s00278-024-00718-5
Gallinat, C. & Schmidt, J. (2025). Körperbezogene repetitive Verhaltensstörungen in der ICD-11. hautnah dermatologie, 41(4), 26–33. https://doi.org/10.1007/s15012-025-8796-2
Lee, D. K. & Lipner, S. R. (2022). Update on Diagnosis and Management of Onychophagia and Onychotillomania. International Journal of Environmental Research and Public Health, 19(6), 1–17. https://doi.org/10.3390/ijerph19063392
Moritz, S., Schmotz, S., Hoyer, L. & Abramovitch, A. (2024). Motives for Performing Body-Focused Repetitive Behaviors (BFRBs): Similarities to and Differences from Non-Suicidal Self-Injurious and Stereotypic Movement Behaviors. Cognitive Therapy and Research, 48(6), 1248–1254. https://doi.org/10.1007/s10608-024-10501-0
Bildquellen
Titelbild: https://pixabay.com/photos/woman-girl-afraid-frightened-933488/ (tookapic, 2015)






