By Published On: 12. September 2025Categories: Inklusion, Pädagogik, Technologie

Lernstörungen rücken heutzutage verstärkt ins Visier – und das zurecht.  Das gesellschaftliche Bewusstsein ist gewachsen und immer mehr Eltern und Lehrkräfte erkennen: Wenn ein Kind in einem Fach ständig scheitert, steckt oft mehr dahinter als fehlende Übung oder Motivation.

Dieses gewachsene Bewusstsein ist enorm wichtig, denn eine unerkannte Lernstörung kann nicht nur den Schulalltag zur Qual werden lassen – sie hat auch enorme Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl von diesen Kindern.

Nehmen wir als Beispiel Paul: Paul ist klug, kreativ und sensibel mit grundlegenden mathematischen Fähigkeiten ausgestattet. Er kämpft dennoch tagtäglich, wie ein unermüdlicher Ritter, mit der Welt der Zahlen. Seine Geschichte soll zeigen, wie wichtig gezielte Beobachtung, Diagnostik und individuelle Förderung in der Schule sind.

Wenn Zahlen zur Hürde werden

Paul ist 12 Jahre alt, besucht ein Gymnasium und musste noch keine Klasse wiederholen. Er gilt als engagierter Schüler und fällt durch seine Kreativität und sein Einfühlungsvermögen auf. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass es ihm nicht gut geht. Er kann sich am Nachmittag nicht mehr konzentrieren, fühlt sich überfordert – insbesondere in der Mathematik. In diesen Momenten hat er in der Klasse Probleme zuzuhören und gleichzeitig zu schreiben. Alle anderen Schüler bekommen dies – seiner Meinung nach – hin, nur er halt nicht. Sein Selbstbewusstsein sinkt und er zieht sich zurück. Seine Mutter macht sich Sorgen, da er oft Bauchschmerzen hat und dann nicht zur Schule möchte. Besonders an Tagen, wo zwei Stunden Mathematik auf dem Stundenplan stehen.

Bereits im Alter von 9 Jahren wurden erste Tests bei ihm durchgeführt. Seine visuelle Wahrnehmung war unauffällig, aber in anderen Bereichen zeigten sich Lücken: besonders im Bereich der exekutiven Funktionen, etwa bei der Impulskontrolle und dem auditiv-verbalen Arbeitsgedächtnis. Dies zeigt sich im Schulalltag dadurch, dass Paul oft impulsiv und ungeduldig ist und Aufgaben meidet, die er als schwierig empfindet. Bei komplexen Aufgabenstellungen gerät er schnell unter Druck und schaltet ab.

Lernstörungen sind keine Frage der Intelligenz

Pauls Gesamtintelligenz liegt mit einem Gesamt-IQ von 101 im normalen Bereich, allerdings zeigt sich bei ihm im Bereich des fluiden Schlussfolgerns eine signifikante Schwäche mit einem IQ von 76.

Weitere Untersuchungen der Schulpsychologen auf Basis des Eggenberger Rechentest für Jugendliche und Erwachsene zeigen jedoch keine ausgeprägten Störungen im Bereich der mathematischen Ordnungsstrukturen, arithmetischen Fertigkeiten, Größenbeziehungen und angewandter Mathematik, wie sie für eine klassische Dyskalkulie typisch wären. (Holzert Norbert et al., 2017)

Die Rechenstörung, auch Dyskalkulie genannt, ist eine von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) anerkannte schulische Entwicklungsstörung. Nach ICD-10, dem Internationalen Diagnostischen Manual der WHO, spricht man von einer Rechenstörung, wenn die Rechenleistung eines Kindes deutlich unter dem Niveau liegt, welches aufgrund des Alters, der allgemeinen Intelligenz und der Beschulung zu erwarten ist. Vor allem die Grundrechenarten sind beeinträchtigt und weniger die höheren mathematischen Fertigkeiten, die für Trigonometrie, Geometrie und Differential- sowie Integralrechnung benötigt werden. (Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V., 2013)

In Pauls Fall reden wir also nicht von einer Dyskalkulie, sondern von einer Rechenschwäche. Es handelt sich also nicht um eine klinische Rechenstörung nach F81.2 des ICD-10 (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, 2025), sondern ‚nur‘ um einen Förderbedarf. Bei Paul liegt aktuell eine Diskrepanz vor zwischen seiner allgemeinen Intelligenz, die im Normbereich liegt und seiner Leistung in Mathematik.

Individuelle Beobachtung und Förderung: Der Schlüssel zum Lernerfolg

Paul ist oft impulsiv und ungeduldig, besonders wenn er an Matheaufgaben sitzt, die er nicht sofort lösen kann. Er versucht deshalb, jede Übung zu vermeiden, die ihm schwierig erscheint. Er ist dann schnell überfordert. Angesichts dieser diagnostizierten Schwierigkeiten wurde für Paul eine individuelle Förderung vorgeschlagen, die nicht nur fachliche Inhalte, sondern auch seine emotionalen Bedürfnisse berücksichtigt.

In der Praxis heißt das: Komplexe Aufgaben werden in kleine, überschaubare Schritte zerlegt. Das hilft Paul, den Überblick zu behalten und nicht gleich die Nerven zu verlieren. Mit Wiederholungen und Geduld kann er Stück für Stück Abläufe automatisieren – das gibt Sicherheit. Wichtig dabei: Es geht nicht darum, stumpf auswendig zu lernen, sondern die Zusammenhänge zu verstehen. Adaptierte Applikationen auf seinem Tablet helfen ihm dabei spielerisch eine Lösung zu finden. Nur so wird Mathe für ihn weniger zum Feind, sondern zu einem Fach, mit dem er schrittweise umzugehen lernt.

Schulische Maßnahmen: Anpassung statt Ausgrenzung

Trotzdem bleibt es ein harter Weg. Manche Tage sind frustrierend, die Motivation schwankt. Das Gymnasium hat schnell reagiert und sich an Pauls Bedürfnisse angepasst: die Lehrer wurden informiert, so dass er nun auch während den Prüfungen einen Taschenrechner nutzen darf und auch seine Prüfungsblätter sind jetzt klarer strukturiert. Außerdem erhält er mehr Zeit während den Prüfungen – weil er länger zum Überlegen braucht – und von seinem Mathelehrer zusätzliche Erklärungen. Diese angemessenen Vorkehrungen helfen ihm dabei, seine diagnostizierten Schwächen zu kompensieren.

Taschnerechner und Abakus

Fazit: Lernstörungen brauchen mehr als Nachteilsausgleich

Paul ist kein Einzelfall. Viele Schüler mit Lernstörungen durchlaufen ähnliche Prozesse, geprägt von Frustration, niedrigem Selbstbewusstsein und dem Gefühl zu versagen. Doch mit gezielter Diagnostik, individueller Förderung und einem empathischen Umfeld können diese Schüler ihr Potential entfalten. Leider kommt es – trotz wachsender Sensibilisierung – noch vor, dass Lernstörungen als solche nicht erkannt werden und betroffene Schüler vorschnell als ‚faul‘ oder ‚unaufmerksam‘ abgestempelt werden. Dies liegt – meiner Meinung nach – nicht an mangelndem Engagement, sondern oft an fehlender Kenntnis im Umgang mit Lernstörungen. Hier wären verpflichtende Schulungen hilfreich, um ein flächendeckendes Verständnis zu schaffen. Ein fundiertes Wissen über Lernstörungen ist die zentrale Voraussetzung dafür, Schwierigkeiten richtig einzuordnen und gezielt Förderung umzusetzen. Nur wenn alle pädagogischen Fachkräfte gut informiert sind, kann Schule ein Ort werden, an dem jedes Kind – unabhängig von seinen individuellen Herausforderungen – seine Stärken entfalten darf.

Literaturverzeichnis

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. (2025). ICD-10-GM: Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. https://klassifikationen.bfarm.de/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2025/index.htm

Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie e.V. (04/2013). Empfehlungen zur Diagnostik und Förderung von Kindern und Jugendlichen mit einer Rechenstörung in der Schule: Aktueller Wissensstand zum Thema Dyskalkulie.

Holzer Norbert, Lenart Friederike & Schaupp Hubert. (2017). Eggenberger Rechentest für Jugendliche und Erwachsene.

Bildquelle

Titelbild von PublicDomainPictures, Titel: Menschen, Kind, Schule. Veröffentlicht am 5. April 2014. Abgerufen am 05.08.2025. Auf pixabay unter: https://pixabay.com/de/photos/menschen-kind-schule-genie-tafel-316506/ Lizenzzusammenfassung: https://pixabay.com/de/service/license-summary/.

Textbild von Elf-Monndance. Titel: Children, Education, Mathematics royalty-free stock illustration. Veröffentlicht am 28. Oktober 2021. Abgerufen am 11.08.2025. Auf pixabay unter: https://pixabay.com/illustrations/children-education-mathematics-6744948/Lizenzzusammenfassung: https://pixabay.com/de/service/license-summary/.

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