Achtsamkeit ist die ausbaubare Fähigkeit des Menschen, die Aufmerksamkeit auf die bewusste Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks zu lenken (Meibert, Michalak & Heidenreich, 2013, S. 166). Prinzipien der Achtsamkeit erweisen sich auch in psychotherapeutischen Verfahren als wirksam (Klein, 2012, S. 15). Die Mindfulness-Based Cognitive Therapy (MBCT) wirkt beispielsweise sehr gut im Rahmen der Rückfallprophylaxe bei Depressionen (Michalak, Heidenreich & Williams, 2022, S. 23). Anhand dieser Anwendung lässt sich auch die Wirkungsweise der achtsamkeitsbasierten Therapie darstellen.
MBCT
Die „Mindfullness-Based Cognitive Therapy“ (MBCT) von Segal, Williams und Teasdale ist eine Weiterentwicklung der „Mindfulness-Based Stress Reduction“ (MBSR) von Jon Kabat-Zinn. MBSR war zunächst für die Behandlung von Patienten mit körperlichen Erkrankungen gedacht, wurde jedoch schon bald auch für die Anwendung auf psychische Störungsbilder untersucht (Kabat-Zinn, 2013, S. LXII; Michalak et al., 2022, S. 10).
Die MBCT ergänzt die Grundstruktur des MBSR-Programms um kognitiv-verhaltenstherapeutische Elemente und ist auf die Behandlung von ehemals Depressiven zugeschnitten (Michalak et al., 2022, S. 10). MBCT kann zwar bei diversen Störungsbildern eingesetzt werden, doch die stärkste Wirksamkeit wurde bei der Rückfallprophylaxe von Depressionen nachgewiesen (Michalak et al., 2022, S. 11+24).
Wirkung
In mehreren randomisiert-kontrollierten Studien konnte empirisch nachgewiesen werden, dass die MBCT depressive Patienten mit häufigen Rückfällen wirksamer vor weiteren depressiven Episoden schützt als eine medikamentöse Erhaltungstherapie (Kuyken et al., 2016, S. 9; Teasdale et al., 2000, S. 615).
Von der Wirkung zu unterscheiden ist die Wirkungsweise (Caspar, Pjanic & Westermann, 2018, S. 12). Die Wirkungsweise von MBCT wird vor dem theoretischen Hintergrund von Rückfällen in depressive Episoden verständlich.
Theoretischer Hintergrund
Aktuelle kognitive Depressionsmodelle machen vor allem einen dynamischen Teufelskreis für das erhöhte Rückfallrisiko verantwortlich: Dysfunktionale Gedankenmuster (negative Selbsturteile, Hoffnungslosigkeit u. ä.) werden bei ehemals depressiven Personen bereits durch moderate dysphorische Stimmungen aktiviert. Diese negativen Gedankenmuster verschlechtern wiederum die Stimmung, so dass ein Aufschaukeln in Gang kommt, das in einer erneuten depressiven Episode enden kann (Segal et al., 2006, S. 749-750).
Gleichzeitig führen die negativen Kognitionen zu ungünstigen Versuchen, den derzeitigen Zustand zu ändern. Diese Versuche sind Ausdruck eines bestimmten mentalen Modus: eines Problemlösemodus, der einen Ist-Zustand kontinuierlich mit einem Soll-Zustand vergleicht, um Handlungen zu initiieren. Dieser „Modus des Tuns“ abstrahiert von der konkreten Erfahrung im Hier und Jetzt (z. B. „Vor einem halben Jahr ging es mir viel besser als heute“). Dies kann zu einem Grübeln und Sich-Sorgen führen und die Problemlösefähigkeit weiter verringern (Michalak et al., 2022, S. 16-17).
Wirkungsweise
Vor diesem theoretischen Hintergrund wird deutlich, wie MBCT wirkt und wie insbesondere die Prinzipien der Achtsamkeit innerhalb des Verfahrens wirken. Die Wirkungsweise kann in fünf Aspekte untergliedert werden (Michalak et al., 2022, S. 17-23):
- Schulung der Aufmerksamkeit: Eine gesteigerte Konzentration auf das Hier und Jetzt (z. B. in Form einer Atemmeditation) kann darin unterstützen, sich gezielt aus dysfunktionalen kognitiven Prozessen wie Grübeln und Gedankenkreisen zu lösen und Prozesse des Aufschaukelns zu unterbrechen. Ein Grübeln oder Sich-Sorgen wird nicht „angepackt“, um es zu stoppen (im Sinn eines Gedankenstopps), sondern „losgelassen“.
- Die Steigerung des Kontakts mit dem Hier und Jetzt ermöglicht zum einen, den „Reichtum“ der gegenwärtigen Situation inklusive seiner positiven Aspekte wieder wahrzunehmen. Zum anderen unterbindet es übertriebene Vergleiche („vor einem halben Jahr ging es mir viel besser“) und führt eher zu einem mentalen Modus, bei dem Erfahrungen nicht durchdacht, sondern unmittelbar erlebt werden (z. B. „ich spüre ganz konkret – auch körperlich – das Gefühl der Trauer in der aktuellen äußeren Situation“).
- Veränderung des mentalen Modus: Statt einen „Modus des Tuns“ zu pflegen, der in bestimmten Fällen ungünstig ist, kann ein „Modus des Seins“ trainiert werden, der Gedanken, Gefühle, Körperwahrnehmungen etc. wahrnimmt und erfährt. Es ist allerdings festzuhalten, dass diese Haltung nicht den „Modus des Tuns“ ersetzt, der oft genug auch sinnvoll ist, sondern die Basis für diesen bilden soll.
- „Disidentification“: Gedanken werden als mentale Repräsentationen erkannt, die immer Abstraktionen von der konkreten Situation darstellen. Menschen mit Depressionen neigen dazu, sich mit negativen Gedanken wie „Ich bin ein Versager“ oder „Das schaffe ich nie“ zu identifizieren und sie für valide Beschreibungen des Selbst oder der Zukunft zu halten. Ähnliches gilt im Übrigen auch für Reaktionen auf Panik- oder Angstattacken (Wengenroth, 2016, S. 263-279).
- Frühzeitiges Erkennen von ungünstigen Prozessen des Aufschaukelns: Im Unterschied zur klassischen Kognitiven Verhaltenstherapie wird in der MBCT keine direkte Veränderung von Gedanken angestrebt. Die Patienten lernen vielmehr im Rahmen von Achtsamkeitsübungen, Gedanken schon sehr frühzeitig zu erkennen und loszulassen. Auf diese Weise können mit fortschreitender Übung Prozesse des Aufschaukelns nicht nur durchbrochen, sondern von vornherein vermieden werden.
Fazit und Ausblick
Für das achtsamkeitsbasierte Psychotherapieverfahren „Mindfulness-Based Cognitive Therapy“ (MBCT) existieren starke Wirkungsnachweise für die Rückfallprophylaxe ehemals Depressiver. Anhand des theoretischen Hintergrunds lässt sich auch die Wirkungsweise der MBCT darstellen. Wie die einzelnen achtsamkeitsbezogenen Aspekte konkret auf andere Störungsbilder übertragen werden können, ist dazu aber noch genauer zu untersuchen.
Bislang war die Entwicklung achtsamkeitsbasierter Verfahren leider oft durch Franchising-ähnliche Systeme geprägt (Caspar et al., 2018, S. 52). Die Erforschung der Wirkungsweisen könnte dazu beitragen, dass der Trend zukünftig stärker in Richtung einer integrativen Allgemeinen Psychotherapie geht.
Literaturverzeichnis
Caspar, F., Pjanic, I. & Westermann, S. (2018). Klinische Psychologie (Basiswissen Psychologie) (1. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.
Kabat-Zinn, J. (2013). Full Catastrophe Living: Using the Wisdom of Your Body and Mind to Face Stress, Pain, and Illness (revised and updated edition). New York: Random House Publishing Group.
Klein, F. (2012). Potenziale von Religion und Spiritualität nutzen! Der Neurologe und Psychiater, 13, S. 15. DOI: 10.1007/s15202-012-0006-5
Kuyken, K., Warren, F. C., Taylor, R. S., Whalley, B., Crane, C., Bondolfi, G. et al. (2016). Efficacy of Mindfulness-Based Cognitive Therapy in Prevention of Depressive Relapse: An Individual Patient Data Meta-analysis From Randomized Trials. JAMA Psychiatry, 73(6). DOI: 10.1001/jamapsychiatry.2016.0076
Meibert, P., Michalak, J. & Heidenreich, T. (2013). Stressbewältigung durch Achtsamkeit: MBSR. In: Heidenreich, T. & Michalak, J. (Hrsg.). Die „dritte Welle“ der Verhaltenstherapie (1. Aufl.) (S. 165-177). Weinheim Basel: Beltz.
Michalak, J., Heidenreich, T. & Williams, J. M. G. (2022). Achtsamkeit (Fortschritte der Psychotherapie, Band 48) (2., überarbeitete Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Segal, Z. V., Kennedy, S., Gemar, M., Hood, K., Pedersen, R. & Buis, T. (2006). Cognitive Reactivity to Sad Mood Provocation and the Prediction of Depressive Relapse. Archives of General Psychiatry. 63(7), S. 749-755. DOI: 10.1001/archpsyc.63.7.749
Teasdale, J. D., Segal, Z. V., Williams, J. M. G., Ridgeway, V. A., Soulsby, J. M. & Lau, M. A. (2000). Prevention of relapse/recurrence in major depression by mindfulness-based cognitive therapy. Journal of Consulting and Clinical Psychology, 68(4), S. 615-623. DOI: 10.1037/0022-006X.68.4.615
Wengenroth, M. (2016). Das Leben annehmen: So hilft die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) (3., unveränderte Aufl.). Bern: Hogrefe.
Bildquelle
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