By Published On: 22. Juni 2023Categories: Psychologie

Im Laufe unseres Lebens fordern uns Ereignisse wie Elternschaft, Krankheit oder ein Berufswechsel immer wieder zur Auseinandersetzung mit uns selbst heraus. Auch der Wunsch nach persönlicher Weiterentwicklung kann ein Grund sein, sich die Frage „Wer bin ich?“ zu stellen. Doch sind wir in der Lage, uns diese Frage selbst zu beantworten oder laufen wir dabei Gefahr, Anteile unserer Persönlichkeit zu übersehen?

Die unterschiedlichen psychologischen Aspekte des „Ich“ werden in der Psychologie unter dem Begriff des Selbst zusammengefasst. Hierzu zählen u. a. das Selbstkonzept, das Selbstwertgefühl, das Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit (Asendorpf, 2019, S. 214). Für die Frage „Wer bin ich?“ sind vor allem unser Selbstkonzept, welches unser selbstbezogenes Wissen beinhaltet, und unser Selbstwertgefühl, das aus der Bewertung dieser Wissensinhalte resultiert, von Bedeutung. Zur Verdeutlichung: Die neutrale Erkenntnis „Ich bin eher introvertiert und schüchtern“ ist Teil unseres Selbstkonzepts. Die subjektive Bewertung „Es ist schlecht, dass ich schüchtern bin“ hat hingegen einen direkten Einfluss auf unseren Selbstwert (Werth, Denzler & Mayer, 2020, S. 191).

Um Selbstwissen zu erlangen nutzen wir vor allem drei Wege: Der uns vertrauteste Weg ist das Nachdenken über uns selbst bzw. die Introspektion. Der zweite Weg ist die Selbstwahrnehmung, das bedeutet Selbsterkennung durch Wahrnehmung unseres Körpers und Beobachtung unseres Verhaltens. Wird man bspw. gefragt, ob man ein überzeugender Redner ist, und hat dazu noch keine abrufbare Meinung, so wird man überlegen, wie man sich bei Referaten im Studium wahrgenommen und gefühlt hat, um daraus seine Schlüsse ziehen (Werth et al., 2020, S. 200–204). Die dritte Quelle unseres Selbstwissens stellen soziale Vergleiche dar. Der gewählte Vergleichsstandard kann hierbei direkten Einfluss auf unseren Selbstwert haben. Während abwärtsgerichtete Vergleiche, bspw. mit weniger erfolgreichen Personen, der Selbsterhöhung dienen, kann ein aufwärtsgerichteter Vergleich dazu genutzt werden, unsere Selbstmotivation zu steigern. Wählen wir jedoch einen zu hohen Vergleichsstandard, führt dies zu Demotivation und Minderwertigkeitsgefühlen (Neyer & Asendorpf, 2018, S. 220–221; Werth et al., 2020, S. 192).

Die drei Wege der Selbsterkenntnis liefern uns meist nützliche Informationen über uns selbst. Sie unterliegen jedoch den Verzerrungen menschlicher Informationsverarbeitung, da wir dazu neigen selbstbezogene Informationen nicht systematisch zu verarbeiten (Werth et al., 2020, S. 213–215). Halten wir uns z. B. für eine freundliche, offene Person und bekommen von einer Arbeitskollegin die Rückmeldung, dass wir oft abweisend und unnahbar wirken, so stellen wir unser Selbstkonzept nicht in Frage, sondern erklären unser Verhalten durch den Stress aufgrund der anstehenden Deadline. Um unser Selbstbild zu bestätigen, tendieren wir also dazu, uns so zu sehen, wie wir glauben, dass wir sind. Dies ist in der Sozialpsychologie als der „self-verification bias“ bekannt (Neyer & Asendorpf, 2018, S. 219).

Das Beispiel aus dem Arbeitsleben zeigt einerseits, dass das an einer Person wahrgenommene Verhalten nur ein Ausschnitt dessen ist, was für die Person in der Situation von Bedeutung ist. Andererseits verdeutlicht es, dass der Person eventuell nicht alle Aspekte ihres Verhaltens bewusst sind. Solche Differenzen zwischen unserem Selbstbild und der Fremdwahrnehmung lassen sich mittels des von Harry Ingham und Joseph Luft entwickelten Johari-Fensters darstellen (Luft, 1993, S. 24; Ternes, 2008, S. 126).

Quadrant I steht für die öffentliche Person und beinhaltet Verhalten und Motive die sowohl uns selbst als auch anderen bekannt sind (Luft, 1993, S. 24). Hier stimmen Selbst- und Fremdbild überein und andere sehen uns so, wir uns selbst sehen bzw. so, wie wir gesehen werden wollen.

Quadrant II wird als der Bereich des blinden Flecks bezeichnet, denn er umfasst jene Aspekte, die anderen offensichtlich, jedoch uns selbst verborgen sind. Typisch für den blinden Fleck sind unbedachte Verhaltensweisen, Zu- und Abneigungen oder auch Vorurteile. Die Informationen darüber werden anderen Menschen meist nonverbal durch unser allgemeines Auftreten, unsere Kleidung, Gesten oder den Tonfall unserer Stimme vermittelt (Ternes, 2008, S. 127).

Quadrant III ist der Bereich der privaten Person, jener spiegelt unsere Empfindungen, Ängste und Wünsche wieder. Es sind die Dinge, die uns selbst bekannt sind, die wir aber gegenüber anderen zurückhalten (Eremit & Weber, 2016, S. 39).

Quadrant IV wird von Luft (1993) als Bereich der unbekannten Aktivität bezeichnet. Er beinhaltet Motive und Verhaltensweisen, die weder uns selbst noch anderen offenbar sind (Luft, 1993, S. 24–25). Einige tiefenpsychologische Therapien verfolgen den Ansatz, jene Anteile aufzudecken und in die Persönlichkeit zu integrieren (Endriss, 2019, S. 12; Ternes, 2008, S. 127).

Im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage „Wer bin ich?“ kann festgestellt werden, dass wir uns diese Frage nicht vollständig selbst beantworten können. Denn unsere Wege zur Selbsterkenntnis sind anfällig für kognitive Verzerrungen. Zudem können wir durch Introspektion, Selbstwahrnehmung und soziale Vergleiche nur den Teil unseres Selbst kennenlernen, der im Johari-Fenster in den Quadranten I und III dargestellt wird. Während uns Quadrant IV weitgehend unzugänglich bleibt, kann es lohnenswert sein, sich Quadrant II, dem blinden Fleck, zuzuwenden, um unser Selbstwissen zu erweitern oder Verzerrungen aufzudecken. Denn der blinde Fleck lässt sich mittels aufrichtigen Feedbacks durch andere Menschen verkleinern. Negatives Feedback über unsere Wirkung auf andere mag sich zunächst unangenehm anfühlen, jedoch erhalten wir dadurch die Chance, unser Verhalten zu ändern und zu wachsen. Auch positives Feedback bietet neue Einsichten, denn manche Fähigkeiten, wie z. B. gutes Zuhören oder ein Organisationstalent, werden von uns selbst häufig nicht als besondere Stärken wahrgenommen. Durch eine Rückmeldung von außen können sie als solche erkannt und verstärkt genutzt werden (Ternes, 2008, S. 127).

Abschließend bleibt festzuhalten, dass wir nur mithilfe anderer Personen zu einem umfassenden Selbstbild gelangen können, welches sich auch weitgehend mit der Wahrnehmung durch andere deckt. Feedbacknehmen kann dabei ein wichtiges Hilfsmittel darstellen. Wer dies gerne einmal für sich selbst ausprobieren möchte, findet unten eine Übersicht hilfreicher Regeln, um bestmöglich von Feedback zu profitieren.


Literaturverzeichnis

Asendorpf, J. B. (2019). Persönlichkeitspsychologie für Bachelor (Springer-Lehrbuch, 4. vollständig überarbeitete Auflage). Berlin, Heidelberg: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-57613-7

Endriss, L. (2019). Ignoranzfallen am Arbeitsplatz. Subtile seelische Gewalt aufdecken – Betroffene stabilisieren (2. Auflage). Wiesbaden: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21230-8

Eremit, B. & Weber, K. F. (2016). Individuelle Persönlichkeitsentwicklung: Growing by Transformation. Wiesbaden: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-658-09453-9

Luft, J. (1993). Einführung in die Gruppendynamik (Ungekürzte Ausgabe der 6. Auflage, 1986, Verlag Klett-Cotta). Frankfurt am Main: Fischer.

Neyer, F. J. & Asendorpf, J. (2018). Psychologie der Persönlichkeit (6. Auflage). Berlin: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-54942-1

Ternes, D. (2008). Kommunikation – eine Schlüsselqualifikation. Paderborn: Junfermann.

Werth, L., Denzler, M. & Mayer, J. (2020). Sozialpsychologie – Das Individuum im sozialen Kontext. Berlin: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-53897-5


Bildquellen

Abbildung 1 – Titelbild: Gruppe von Holzfiguren; Quelle: istock.com/Techa Tungateja, Stock-Fotografie-ID:1345922689, Verfügbar unter: https://www.istockphoto.com/de/foto/gruppe-von-holzfiguren-m%C3%A4nnlich-und-weiblich-mit-gl%C3%BCcklichen-l%C3%A4cheln-gesichtern-gm1345922689-423838974

Abbildung 2: Johari-Fenster – eigene Darstellung in Anlehnung an Luft, 1993, S. 25; Ternes, 2008, S. 126

Abbildung 3: Regeln des Feedbacknehmens – eigene Darstellung in Anlehnung an Eremit & Weber, 2016, S. 41

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