Noch schnell ein Video. Dann noch eins. Und noch eins. Plötzlich sind zwanzig Minuten vergangen – oder sechzig. Wer sich schon einmal in einem der endlosen Feeds sozialer Plattformen wie TikTok oder Instagram Reels verloren hat, kennt dieses Phänomen: Der Kopf fühlt sich gleichzeitig voll und leer an. Was wie Entspannung wirkt, ist oft nichts anderes als Dauerberieselung im Höchsttempo. Jede Bewegung nach oben lädt den nächsten Reiz. Keine Pause, kein Ziel, kein Kontext. Das Gefühl, nicht aufhören zu können, ist dabei kein Zufall, sondern das Ergebnis eines perfekt durchdachten Designs.
Doch was passiert dabei eigentlich mit unserem Gehirn – wie beeinflusst endloses Scrollen langfristig unsere Konzentration und die Art, wie wir denken und Reize verarbeiten?
Das Prinzip TikTok: Warum es so gut funktioniert
Plattformen wie TikTok basieren auf dem sog. infinite scroll (unendliches Scrollen), ein Designprinzip, bei dem neue Inhalte kontinuierlich nachgeladen werden ohne, dass die Nutzer*innen aktiv ihren Feed manuell aktualisieren müssen. Dadurch gibt es kein klares Ende und auch keine natürliche Pause und genau darin liegt der Reiz. TikTok ist zudem eine der ersten Social-Media-Plattformen, die dieses Prinzip mit einem extrem personalisierten Empfehlungsalgorithmus kombiniert auf dem die sog. „For-You“-Page basiert (Conte et al., 2024, S. 2). Wie der Name schon vermuten lässt, werden die Videos auf der Grundlage von persönlichen Vorlieben, Interaktionen (Likes, Kommentare) und sogar der Betrachtungsdauer individuell angezeigt (Chadha, 2024, S. 6), sodass sich die Nutzer*innen beim endlosen Scrollen in einer Art künstlich erzeugtem Flow-Zustand befinden (Conte et al., 2024 S. 2).
Der Flow-Zustand
Der Flow-Zustand, ein Konzept von Csikszentmihalyi (1975), beschreibt allgemein das „ganzheitliche Gefühl, das Menschen empfinden, wenn sie mit totalem Engagement handeln“ (S. 36). Dabei verliert die Zeit an Bedeutung, äußere Reize verblassen und die Aufmerksamkeit liegt auf der eigenen Handlung. Das klingt erstmal harmlos, besonders wenn wir unseren Hobbies und kreativen, spielerischen oder sportlichen Aktivitäten nachgehen. Es wird dann problematisch, wenn Plattformen wie TikTok diesen Zustand gezielt und künstlich erzeugen, um Nutzer*innen so lange wie möglich auf der App zu halten. Die Folgen sind ein verzerrtes Zeitgefühl und ein Verhalten, das sich zunehmend suchtähnlich äußern kann (Yousef et al., 2025, S. 8). In diesem Zusammenhang werden oft Begriffe wie „Zombie-Scrolling“ oder „Doom Scrolling“ verwendet, die diesen Zustand des ‘‘ohne Zweck und Ziel durch Inhalte zu swipen“, beschreibt.
Eine weitere Studie von David und Roberts (2023) belegt die negativen Folgen des von TikTok erzeugten Flow-Zustands: 53% der Nutzer*innen berichteten von einer ausgeprägten „Telepräsenz“, also dem Gefühl, völlig in der App zu verschwinden. Interessant dabei ist, dass das Zeitgefühl auf TikTok im Vergleich zu Instagram, deutlich schneller aus dem Gleichgewicht geriet. Viele gaben an, länger auf TikTok zu bleiben als beabsichtigt, selbst dann, wenn sie die Nutzung bereits als negativ empfanden (Craine, 2023).
Auswirkungen auf die Aufmerksamkeit
Die Nutzung von TikTok hat nicht nur Auswirkungen auf das Zeiterleben, sondern auch auf die Aufmerksamkeitspanne. Der schnelle und dauerhafte Wechsel von audiovisuellen Reizen führt zu einer kognitiven Überlastung (= cognitive overload), wodurch Inhalte kaum noch bewusst verarbeitet werden können. Besonders junge Erwachsene zeigen vermehrt Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme (Yousef et al., 2025, S. 8).
Gerade das ist besonders kritisch im Hinblick auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu sehen, deren Fähigkeit zur Aufmerksamkeitssteuerung noch nicht ausgereift ist. Der präfrontale Kortex, der zuständig für Impulskontrolle und Aufmerksamkeit ist, ist nämlich erst im Alter von ca. 25 Jahren vollständig ausgebildet. Umso problematischer, dass TikTok das Gehirn an eine sich permanent ändernde Reizumgebung und schnell belohnende Umgebung gewöhnt (Jargon, 2022). Dies wird durch den folgenden Abschnitt näher erläutert.
Kognitive Effekte: TikTok als Dopaminmaschine
Der Algorithmus von TikTok ist darauf ausgelegt, die Aufmerksamkeit seiner Nutzer*innen zu maximieren, indem es die Inhalte exakt auf die individuellen Bedürfnisse anpasst. Wird dieser personalisierte Content in unterhaltsamer oder emotional relevanter Form angezeigt, reagiert das Gehirn mit der Ausschüttung von Dopamin und das Belohnungszentrum wird aktiviert (Su et al., 2021). Interessant zu erwähnen ist, dass Dopamin auch von Reizen freigesetzt werden kann, die zuvor bereits mit Belohnungen assoziiert wurden (Puca & Schüler, 2017, S. 231). Dadurch, dass das Gehirn die Erfahrungen auf TikTok als Belohnung abspeichert, werden also bereits im Vorfeld zukünftige Inhalte als potenziell belohnend interpretiert, noch bevor sie vollständig konsumiert wurden. Das ähnelt übrigens dem Prinzip der operanten Konditionierung, indem das Scrollen mit einer Belohnung verknüpft wird. Man könnte also sagen, dass TikTok seine Nutzer*innen so konditioniert, sodass das Gehirn verstärkt auf schnell verfügbare Reize reagiert. Weitere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass es Kindern durch das Anschauen von Kurzvideos vermehrt schwerfällt, sich auf Aktivitäten einzulassen, die keine sofortige und ständige Belohnung bieten (Jargon, 2022). Eine groß angelegte Langzeitstudie mit über 12.000 Teilnehmenden untersucht derzeit, inwiefern frühzeitiger Social-Media-Konsum die kognitive Entwicklung beeinflusst, allerdings stehen belastbare Ergebnisse jedoch noch aus (ABCDstudy.org).
Handlungsempfehlungen und persönliches Fazit
TikTok zeigt eindrücklich, wie stark technische Systeme unser Verhalten und Denken beeinflussen können. Die App liefert Inhalte, die perfekt auf individuelle Interessen abgestimmt sind – was den Reiz, aber auch das Risiko ausmacht. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie schnell sich diese Art der Reizüberflutung negativ auf Konzentration und Wohlbefinden auswirkt und wie das Bedürfnis nach kurzer Ablenkung immer wieder dazwischenfunken kann und das meist länger als beabsichtigt. Auch im Austausch mit anderen jungen Erwachsenen in meinem Umfeld zeigt sich ein Ambivalentes Bild, viele erleben gerade TikTok als „Fluch und Segen zugleich“.
Dennoch sind sich alle einig: Das Bewusstsein über diese Mechanismen ist der erste Schritt, um aus automatisierten Verhaltensmustern auszubrechen. Das beinhaltet eine bewusste Mediennutzung, bewusste Pausen, App-freie Zeiten und auch das aktive Hinterfragen der Funktionsweise von bspw. TikTok. Nicht zuletzt braucht es Alternativen: Keine einfachen Verbote, sondern Räume jenseits des Bildschirms, wie Sport, kreative Hobbys und echte Begegnungen (Jargon, 2022; Yousef, 2025, S. 12).
Vielleicht geht es also nicht darum, TikTok ganz zu verteufeln. Sondern darum, bewusster zu wählen, wann wir präsent sind und wann wir einfach nur scrollen.
Literaturverzeichnis
Chadha, J. (2024). The Rise of Infinite Scrolling in Software Design. Bachelorarbeit, University of Virginia, Department of Engineering and Society.
Conte, G., Di Iorio, G., Esposito, D., Romano, S., Panvino, F., Maggi, S., Altomonte, B., Casini, M. P. & Ferrara, M. (2024). Scrolling through adolescence: a systematic review of the impact of TikTok on adolescent mental health. European Child & Adolescent Psychiatry. doi: https://doi.org/10.1007/s00787-024-02581-w.
Csikszentmihalyi, M. (1975). Beyond Boredom and Anxiety: Experiencing Flow in Work and Play. San Francisco: Jossey-Bass.
David, M. E. & Roberts, J. A. (2023). Instagram and TikTok Flow States and Their Association with Psychological Well-Being. Cyberpsychology, Behavior, and Social Networking, 26(2), S. 80–89. doi: https://doi.org/10.1089/cyber.2022.0117.
Craine, K. (2023). Baylor Researchers Explore Effect of Instagram, TikTok on Psychological Well-Being. Baylor University Media and Public Relations. Zugriff am 03.06.2025. Verfügbar unter https://news.web.baylor.edu/news/story/2023/baylor-researchers-explore-effect-instagram-tiktok-psychological-well-being.
Jargon, J. (2022). TikTok Brain Explained: Why Some Kids Seem Hooked on Social Video Feeds. Wall Street Journal. Zugriff am 03.06.2025. Verfügbar unter https://www.wsj.com/articles/tiktok-brain-explained-why-some-kids-seem-hooked-on-social-video-feeds-11648866192.
Puca, R. M. & Schüler, J. (2017). Motivation und Emotion. In: J. Müsseler & M. Rieger (Hrsg.). Allgemeine Psychologie (3. Aufl., S. 229–243). Wiesbaden: Springer.
Su, C., Zhou, H., Gong, L., Teng, B., Geng, F. & Hu, Y. (2021). Viewing personalized video clips recommended by TikTok activates default mode network and ventral tegmental area. NeuroImage, 237, S. 118-136. doi: https://doi.org/10.1016/j.neuroimage.2021.118136
Yousef, A. M. F., Alshamy, A., Tlili, A. & Metwally, A. H. S. (2025). Demystifying the New Dilemma of Brain Rot in the Digital Era: A Review. Brain Sciences, 15, 283. doi: https://doi.org/10.3390/brainsci15030283
Titelbildquelle
Titelbild von Pixabay, Titel: tiktok-5323004_1280, veröffentlicht am 21.06.2020, abgerufen am 03.06.2025 auf pixabay, unter: https://pixabay.com/photos/tiktok-social-media-app-tik-tok-5323004/
Nutzungsbedingungen: https://pixabay.com/service/license-summary/, abgerufen am 03.06.2025