„Ich ging unter Wasser und zunächst gingen alle Lichter aus, dann überfiel mich Panik und die Frage, ob man auch unter Wasser atmen kann.“ (Flesch, 2021, S. 81)
Im Jahr 2023 verloren nach Schätzungen bis Februar 2024 über 3.000 Personen ihr Leben während des Versuchs, das Mittelmeer zu überqueren, um nach Europa zu gelangen. Insbesondere im Jahr 2016 wurde ein drastischer Anstieg der Todesfälle verzeichnet, wobei über 5.000 Menschen auf dem Seeweg nach Europa ums Leben kamen (IOM, 2024). Die Menschen, die diese Route überlebt haben, kämpfen den Rest ihres Lebens mit den Folgen dieser traumatischen Erfahrungen. Diese Umstände können auch die Entwicklung schwerwiegender psychischer Leiden bei den Geflüchteten begünstigen, die auf ihren traumatischen Erfahrungen beruhen. Diese Leiden können sich insbesondere im Zielland verstärken. Dieses Buch soll Menschen eine Stimme geben, die Fluchtrouten überlebt haben, erlebte Traumata jedoch nicht verarbeiten können, weil die Versorgungslandschaft für Migranten, Asylsuchende und/oder Geflüchteten unzureichend ist.
Autor des Buches ist Dr. med. Martin Flesch. Er ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, spezialisiert auf Forensische Psychiatrie, der eine eigene Gutachterpraxis betreibt. Im Jahr 2014 gründete er eine Sozialpsychiatrische Migrationsambulanz in seinen Praxisräumen (Echter Verlag Gmbh, 2024) Zum gleichen Zeitpunkt bot er ehrenamtlich eine akut-psychiatrische Sprechstunde für Migrant*innen in Würzburg an (Flesch, 2021, S. 9).
Gegliedert ist das Buch in Vorwort, Gedicht, den Prolog sowie in die Kapitel zu den eigentlichen Fallstudien und einem Epilog. Die Kapitel II bis XXII berichten von sieben Personen. Für jede Person wird biografisch die Lebens-, Flucht und Krankheitsgeschichte als Kasuistik dargestellt, gefolgt von einem sogenannten Plattform-Kapitel, welches sich den asylrechtlichen Themen und Problemfeldern widmet, sowie den Entstehungsbedingungen psychischer Störungsbilder. Im Gegensatz dazu fungieren die „Intermezzi“, die einzelne Abschnitte abschließen, als Verbindungsstücke zu gesellschaftspolitischen und religiösen Themen und befürworten vor allem die Verwirklichung der Menschenrechte durch eine mitfühlende und einfühlsame Einstellung.
Grundsätzlich sind die einzelnen Fallanalysen persönliche Erfahrungsberichte, bei denen die Fluchtgeschichte der sieben Personen erzählt wird. Dr. Flesch erzählt ihre persönlichen Geschichten vor, während und nach der Flucht. Es werden verschiedene psychische Störungen und die damit verbundenen Symptome aufgeführt. Als Beispiele können u.a. Depressionen, Angststörungen, Panikattacken, Suizidgedanken und die Posttraumatische Belastungsstörung genannt werden. Zusätzlich werden Themen wie Rassismus und Asylrecht behandelt. Flesch hat den anonymen Geflüchteten mit diesem Buch Gesichter gegeben. Die Berichte sind teilweise erschreckend, sehr intim und ergreifend und lässt die Leserschaft teilhaben an den unvorstellbaren Leiden der Flucht und auch der Verzweiflung, die bei vielen Migrant*innen nach ihrer Flucht entsteht, wenn sie keinerlei Unterstützung erhalten und/oder das deutsche Asylrecht sie nicht in einem sicheren Land halten kann. In den einzelnen Kapiteln wird deutlich, wie schwer es den geflüchteten Menschen fällt über das Erlebte zu sprechen. Es sind nicht nur Geschichten von Betroffenen, die über das Mittelmeer geflüchtet sind, sondern auch Menschen aus der Ukraine, Menschen, die in Syrien gefoltert wurden, Menschen die unter elterlicher Gewalt in Bosien gelitten und Gewalt in Geflüchtetencamps in Somalia erfahren haben. In den meisten Berichten beschreiben die Personen, wie sich das Leben bis zur Flucht gestaltet hat und wie sie später mit einer psychischen Erkrankung leben. In sehr klaren Worten wird ihre individuelle Biografie dargestellt und damit verbunden auch immer die Herausforderungen des Asylrechts und der gesellschaftlichen Sicht. Daneben berichtet der Autor, wie er ehrenamtlich diesen Personen mit psychischen Problemen zur Seite steht und diese in ihrer schwierigen Zeit unterstützt.
Nach jeder Kasuistik folgt eine Betrachtung der ausgewählten Phänomene des jeweiligen Themenfeldes behandelt. Dabei geht es beispielsweise um den komplexen Begriff von Trauma, das Elendslager „Vorhölle Moria“ oder die Anforderungen an psychiatrische Gutachten im Asylverfahren. Darauffolgend verbindet Flesch religiöse, kulturelle und gesellschaftspolitische Themen mit den geschilderten Biografien. Hierbei kann es sich um ein kurzes Gedicht handeln oder um die Würdigung einer Persönlichkeit wie Albert Schweitzer oder einer mutigen Frau wie Mutter Teresa (Flesch, 2021, S. 147).
Der Autor vermeidet es, stilistisch zu dramatisieren, um das immense Ausmaß des Dramas anhand der Praxisbeispiele sichtbar zu machen. Er erhebt keinerlei individuellen Anschuldigungen gegenüber Einzelpersonen oder der Leserschafft. Stattdessen würdigt er bestimmte wegweisende Projekte und weist subtil auf Möglichkeiten hin, wie jeder Einzelne etwas tun kann: wie die Unterstützung von (medizinischen) Hilfsorganisationen, das Organisieren und Unterzeichnen von Petitionen sowie die Förderung von sicheren Häfen (Osinski, 2022).
Jeder Fluchtversuch hat seine Gründe. Flüchtende sind oft schutzlos den extremsten Bedingungen ausgesetzt. Diese Erfahrungen können Traumata hervorrufen, die zu erheblichem seelischem Leid führen. Es kommt nicht selten zu Suchtproblemen und Verhaltensstörungen, die bis zu kriminellen Handlungen reichen können. Gerade durch Straffälligkeit und Kriminalität fallen Betroffene öffentlich auf, zumeist ohne die Geschichte dahinter. Das zivilgesellschaftliche Engagement für Geflüchtete konnte deutschlandweit nicht in einen kraftvollen Dauerlauf überführt werden, wodurch gerade durch strafauffällige Geflüchtete der zusätzliche Aspekt von rassistischen Konfrontationen prägnant wird. Besonders bedeutsam sind ermutigende Ausnahmen, wie sie durch die Dr. Martin Flesch und die Sozialpsychiatrische Migrationsambulanz in Bayern, geboten werden. Durch seine Arbeit mit Geflüchteten konnte er ihnen in diesem Buch eine Stimme geben, ihre Geschichte zu erzählen. Aus meiner Sicht ist das Buch äußerst vielschichtig.
Ich kann es allen empfehlen, die bereit sind, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. Allerdings sollten Betroffene, die unter psychischen Erkrankungen leiden, sowie besonders empfindsame Personen abwägen, in welcher Verfassung sie sich befinden, da einige Textstellen sehr eindrucksvoll beschrieben sind und daher Trigger auslösen könnten.
Quellen:
- Echter Verlag Gmbh. (2024). Stumme Schreie. Abgerufen am 15. 03. 2024 von https://www.echter.de/Stumme-Schreie/books/stsc314258/
- Flesch, M. (2021). Stumme Schreie – Seelische Leiden durch Migration. Würzburg: Echter Verlag GmbH.
- IOM, International Organization for Migration (2024). Missing Migrants Project – Geschätzte Anzahl der im Mittelmeer ertrunkenen Migranten nach Fluchtrouten im Zeitraum 2014 bis 2023. Statista. Abgerufen am 15. 03 2024 von https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1240693/umfrage/im-mittelmeer-ertrunkenen-fluechtlinge/
- Osinski, M. (09. 07 2022). Stumme Schreie – Seelische Leiden durch Migration. Abgerufen am 15. 03 2024 von https://www.psychiatrie.de/buecher/gesellschaftsozialpsychiatrie/flesch-stumme-schreie.html
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