Warum Ketamin eine Chance für therapieressistente Depressionen sein könnte
Die Innovationskrise der Psychopharmakologie
Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Nach Schätzungen der WHO sind im Jahr 2023 etwa 280 Millionen Menschen weltweit von Depressionen betroffen gewesen. Nicht selten nehmen Betroffene sich selbst das Leben (WHO, 2023).
Viele PatientInnen können nicht zufriedenstellend behandelt werden, etwa ein Drittel wird als therapieressistent eingestuft. Die herkömmlichen Antidepressiva können diesen PatientInnen keine Linderung verschaffen. Sie beruhen alle auf einem ähnlichen Wirkmechanismus, der die Monoaminkonzentration im synaptischen Spalt reguliert. Da sich auch die in den letzten Jahrzehnten neu entwickelten Antidepressiva nur geringfügig von den Bestehenden unterscheiden, wird die aktuelle Lage sogar als „Innovationskrise der Psychopharmakologie“ bezeichnet, das Interesse an neuen Therapiemöglichkeiten ist hoch. In diesem Kontext gilt Ketamin mit seinem grundsätzlich anderen Wirkmechanismus als eine der vielversprechendsten Ansätze und weckt daher Hoffnung als potentieller Durchbruch in der Behandlung von Depressionen (Murrough et al., 2013, S.22; Schoretsanitis & Hasler, 2015, S.948; Vestring et al., 2022, S.1).
Das therapeutische Potential von Ketamin
Bisher wurde Ketamin als Anästhetikum eingesetzt, jedoch scheint auch es auch Potential in der Depressionstherapie zu haben, wie unter anderem in einer Metaanalyse aus dem Jahr 2021 (An et al.) ermittelt wurde. Ein besonderer Fokus wurde dabei auf die als therapieressistent eingestuften ProbandInnen gelegt, bei denen sich mehrere Therapieansätze als nicht zufriedenstellend herausstellten. Die depressiven Symptome wurden durch die Einnahme des Ketamins signifikant reduziert. Anders als die herkömmlichen Antidepressiva, die üblicherweise auf die Neurotransmitter Serotonin und Noradrenalin wirken, wirkt Ketamin über den NMDA-Rezeptor auf das Glutamat-System. Der abweichende Wirkmechanismus stellt damit besonders für Erkrankte, die als therapieressistent gelten, eine Hoffnung dar.
Ein weiterer Vorteil ist die erstaunlich schnelle Wirkung. Während die antidepressive Wirkung bei herkömmlichen Antidepressiva häufig erst nach Wochen einsetzt, setzt diese bei Ketamin schon nach wenigen Stunden ein (Gilles et al., 2019, S.29). Damit eignet sich Ketamin insbesondere auch als Notfallmedikament für akute psychiatrische Krisen im Zusammenhang mit einer Depression (Messer, 2019, S.6). Auch die Suizidgedanken der PatientInnen wurden durch eine einmalige Ketamingabe für mehrere Tage bis Wochen deutlich reduziert (Müller, 2018, S.54).
Ketamin scheint dabei das aus dem Gleichgewicht geratene Glutamat-System der depressiven PatientInnen auszugleichen (Müller, 2019, S.47). Zudem wird vermutet, dass Ketamin die Habenulae blockiert, eine Struktur des Gehirns die auch als „Anti-Belohnungzentrum“ bezeichnet wird. Bei depressiven PatientInnen scheint in diesem System ein Ungleichgewicht zu bestehen (ebd. S.54).
Offene Fragen und Nutzen-Risiko-Abwägung
Trotz der vielversprechenden Studienergebnisse in Bezug auf die Wirksamkeit ist Vorsicht im Umgang mit dieser Substanz geboten. Es kann zu gesundheitlichen Komplikationen wie Harnstau (Vizgan et al., 2023) bis hin zu Herzinfarkten kommen. Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Ängstlichkeit und Unruhe, ein Anstieg von Puls- und Blutdruck sowie die dissoziative Wirkung können einige PatientInnen als sehr unangenehm empfinden. Zudem birgt Ketamin ein erhebliches Missbrauchspotential, weshalb die Substanz den PatientInnen nicht für die Anwendung zu Hause mitgegeben werden sollte (Gilles et al., 2019, S.30; Messer, 2019, S.6; Müller, 2018, S.54).
Auch Fragen bezüglich der optimalen Dosierung und Darreichungsform sind noch nicht abschließend geklärt. Einerseits scheint die orale Einnahme von Ketamin von den PatientInnen gut angenommen und vertragen zu werden (Schoevers et al., 2016, S.111), es ist aber auch eine intramuskuläre Injektion oder eine nasale Verabreichung in Form eines Ketamin-Nasensprays ist möglich (Cusin et al., 2012, S.868; Müller, 2019, S.47). Auch ist fraglich, in welchen Abständen die Behandlung optimaler Weise erfolgen soll. Nach etwa einer Woche scheint die antidepressive Wirkung bei vielen PatientInnen deutlich abzuflachen und nicht mehr signifikant als bei einem Placebo (Gilles et al., 2019, S.29; Murrough et al., 2013, S.1138). Dabei sollte auch bedacht werden, dass groß angelegte Langzeitstudien bisher noch fehlen. Risiken die durch eine langfristige Behandlung entstehen können, sind noch nicht bekannt (Messer, 2019, S.7).
Zudem ergeben sich grundlegende methodische Schwierigkeiten im Studiendesign; Verblindete Studien sind schwer durchzuführen, da die ProbandInnen Ketamin durch die dissoziative Wirkung i.d.R. deutlich von der Kontrollsubstanz unterscheiden können (Vestring et al., 2022, S.3).
Fazit und Ausblick
Ketamin zeichnet sich durch eine zuverlässige und schnell einsetzende antidepressive Wirkung aus und hat sich damit in den letzten Jahren als hochinteressant für die Behandlung von Depressionen herausgestellt. Insbesondere der von den üblichen Antidepressiva abweichende Wirkmechanismus stellt eine Chance dar, depressive PatientInnen effektiver behandeln zu können (Schoretsanitis & Hasler, 2015, S.952).
Inzwischen ist Ketamin in Form eines Nasensprays zur akuten Behandlung von psychiatrischen Notfällen zur schnellen Reduktion depressiver Symptome (Gemeinsamer Bundesausschuss, 2021, S.1) und als zusätzliche Behandlung bei therapieresistenten Depressionen zugelassen (Reisdorf, 2021, S.180). Damit ist es das erste Medikament einer neuen Wirkstoffklasse zur Depressionsbehandlung (Vestring et al., 2022, S.5). Neben dem Einsatz zur akuten Behandlung von Depressionen könnte Ketamin noch in weiteren Anwendungsfeldern eingesetzt werden. So scheint Ketamin auch Erfolge in der Behandlung posttraumatischer Belastungsstören zu erzielen (Feder et al., 2021, S.199).
Aufgrund fehlender Langzeitstudien, potentiellen gesundheitlichen Risiken und dem hohen Missbrauchspotential ist jedoch weiterhin ein besonderes vorsichtiger Umgang mit der Substanz und eine sorgfältige Beobachtung der PatientInnen geboten (Gilles et al., 2019, S.33).
Literaturverzeichnis
An, D., Wei, C., Wang, J., & Wu, A. (2021). Intranasal Ketamine for Depression in Adults: A Systematic Review and Meta-Analysis of Randomized, Double-Blind, Placebo- Controlled Trials. Frontiers in Psychology, 12, 648691. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2021.648691
Cusin, C., Hilton, G. Q., Nierenberg, A. A., & Fava, M. (2012). Long-Term Maintenance With Intramuscular Ketamine for Treatment-Resistant Bipolar II Depression. American Journal of Psychiatry, 169(8), 868–869. https://doi.org/10.1176/appi.ajp.2012.12020219
Feder, A., Costi, S., Rutter, S. B., Collins, A. B., Govindarajulu, U., Jha, M. K., Horn, S. R., Kautz, M., Corniquel, M., Collins, K. A., Bevilacqua, L., Glasgow, A. M., Brallier, J., Pietrzak, R. H., Murrough, J. W., & Charney, D. S. (2021). A Randomized Controlled Trial of Repeated Ketamine Administration for Chronic Posttraumatic Stress Disorder. American Journal of Psychiatry, 178(2), 193–202. https://doi.org/10.1176/appi.ajp.2020.20050596
Gemeinsamer Bundesausschuss. (2021). Esketamin Beschluss. https://www.g- ba.de/downloads/91-1385-660/2021-08-19_Geltende-Fassung_Esketamin_D-659.pdf
Gilles, M., Sartorius, A., & Deuschle, M. (2019). Ketamin in der Behandlung affektiver Störungen. InFo Neurologie & Psychiatrie, 21(5), 28–34. https://doi.org/10.1007/s15005-019-0067-5
Messer, T. (2019). „Ketamin ist ein Türöffner für die Depressionstherapie“. Springer Medizin, InFo Neurologie & Psychiatrie, 21(2), 6–7. https://doi.org/10.1007/s15005-019-0005- 6
Müller, T. (2018). Depression: Ketamin lähmt das Anti-Belohnungszentrum. InFo Neurologie & Psychiatrie, 20(5), 54–54. https://doi.org/10.1007/s15005-018-2622-x
Müller, T. (2019). Ketamin—Neue Hoffnung für schwer Depressive? InFo Neurologie & Psychiatrie, 21(1), 47–47. https://doi.org/10.1007/s15005-019-2881-1
Murrough, J. W., Iosifescu, D. V., Chang, L. C., Al Jurdi, R. K., Green, C. E., Perez, A. M., Iqbal, S., Pillemer, S., Foulkes, A., Shah, A., Charney, D. S., & Mathew, S. J. (2013). Antidepressant Efficacy of Ketamine in Treatment-Resistant Major Depression: A Two-Site Randomized Controlled Trial. American Journal of Psychiatry, 170(10), 1134–1142. https://doi.org/10.1176/appi.ajp.2013.13030392
Reisdorf, S. (2021). Zulassungserweiterung für Esketamin- Nasenspray. 39, 180–183.
Schoevers, R. A., Chaves, T. V., Balukova, S. M., Rot, M. A. H., & Kortekaas, R. (2016). Oral ketamine for the treatment of pain and treatment-resistant depression. British Journal of Psychiatry, 208(2), 108–113. https://doi.org/10.1192/bjp.bp.115.165498
Schoretsanitis, G., & Hasler, G. (2015). Ketamin als Behandlungsoption. Swiss Medical Forum ‒ Schweizerisches Medizin-Forum, 15(42). https://doi.org/10.4414/smf.2015.02420
Vestring, S., Domschke, K., & Normann, C. (2022). Ketamin und andere N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor-Modulatoren zur Behandlung der Depression. Der Nervenarzt, 93(3), 234–242. https://doi.org/10.1007/s00115-021-01221-x
Vizgan, G., Huamán, M., Rychik, K., Edeson, M., & Blaivas, J. G. (2023). Ketamine-induced uropathy: A narrative systemic review of surgical outcomes of reconstructive surgery. BJUI Compass, 4(4), 377–384. https://doi.org/10.1002/bco2.239
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