By Published On: 25. Juli 2022Categories: Gesundheit, Psychologie

Burnout, Depression, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs – diese und viele weitere der sogenannten „Zivilisationskrankheiten“ sind in der Bevölkerung weit verbreitet. Im Gegensatz zu den früher vorherrschenden genetischen und infektiösen Ursachen lassen sich diese Volkskrankheiten zunehmend mehr auf den Lebensstil und das Verhalten des Menschen in den sich modernisierenden Industriegesellschaften zurückführen: Zeitdruck, Stress, eine permanente Erreichbarkeit durch Smartphones und Social Media, ständige Informationen und Nachrichten aus aller Welt mit nur einem Klick, mangelnde Bewegung sowie ungesunde Ernährung – all dies kann sich auf die Gesundheit des Menschen auswirken (Faltermaier, 2017, S. 16; Karmaus & Osterholz, 1987, S. 650–652). Doch es gibt einige Menschen, die ihr Leben anders gestalten. Minimalismus und Slow Living sind Lebensweisen, bei denen wenig Besitz, wenig Konsum sowie eine Entschleunigung des Alltags und Achtsamkeit im Mittelpunkt stehen. Doch kann eine solche Lebensweise wirklich die Gesundheit beeinflussen und sogar vor Erkrankungen schützen?

Was ist Minimalismus und Slow Living?

Der Minimalismus wird in erster Linie häufig mit einer starken Reduktion von Konsum sowie wenig materiellem Besitz verbunden. Eine minimalistische Lebensführung ist jedoch viel mehr als das: Im Sinne der „freiwilligen Einfachheit“ (engl. Voluntary Simplicity) geht es darum, durch die Reduktion von materiellem Besitz mehr Zeit, Aufmerksamkeit und Bewusstsein für das eigene Leben im „Hier und Jetzt“ zu haben. Dabei geht es um „Qualität statt Quantität“, und es wird mehr Wert auf immaterielle Erlebnisse, Beziehungen, den Kontakt mit der Natur, Sport und kulturelle Aktivitäten gelegt. Minimalismus bedeutet also nicht bloß, dass materieller Besitz minimiert wird, sondern auch, dass dadurch eine bewusstere Lebensführung mit mehr Zeit, Aufmerksamkeit und Lebensqualität ermöglicht wird (Derwanz, 2015, S. 181–182; Etzioni, 2004, S. 380–393; Klug, 2018, S. 29–30).

„Minimalismus ist eine historisch spezifische Umgangsweise mit dem gleichzeitig erlebten Überfluss an Konsumgütern und Besitz und der Knappheit an Zeit, Kontrolle, sozialer Interaktion und persönlicher Freiheit“

(Derwanz, 2015, S. 195)

Slow Living (langsam Leben) zielt darauf ab, der Hektik und dem Stress des Alltags entgegenzuwirken und den Fokus auf Ruhe, Achtsamkeit und Wertschätzung der alltäglichen Dinge zu legen. Besonders Aspekte wie schneller und unüberlegter Konsum (z.B. aufgrund begrenzter Verfügbarkeit) oder das Gefühl, für jeden dauerhaft per Smartphone erreichbar sein zu müssen, führen dazu, dass der Alltag schnell und unbewusst vorübergeht. Beim Slow Living geht es um die „Entschleunigung“ des Alltags. Aufmerksamkeit und Achtsamkeit sind zentrale Aspekte, wodurch der Alltag – von täglichen Aufgaben wie Kochen oder Haushalt über Hobbys bis hin zu freier Zeit und Entspannung – bewusst gelebt und geschätzt werden kann. So zielt „Slow Food“ auf eine bewusste, gesunde Ernährung mit hochwertigen Lebensmitteln ab, während zum Beispiel „Slow Media“ für eine Reduktion von Medienkonsum steht und eine Nutzung von ausschließlich inhaltlich qualitativ hochwertigen Medien anstrebt (Klug, 2018, S. 38–43; Parkins & Craig, 2006, S. 4).

Was ist Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention?

Gesundheit bedeutet nach heutiger Ansicht nicht nur, dass keine körperlichen Krankheiten vorliegen. Auch psychisches und soziales Wohlbefinden werden bei der Definition von Gesundheit miteingeschlossen (Renneberg & Hammelstein, 2006, S. 8). Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention zielen darauf ab, gesunde Verhaltensweisen zu fördern, das Wohlbefinden zu verbessern und Ressourcen aufzubauen. Ressourcen sind „verfügbare Kräfte oder Merkmale“ (Faltermaier, 2017, S. 185), die den Aufbau und die Aufrechterhaltung der körperlichen, psychischen und sozialen Gesundheit eines Menschen positiv beeinflussen können (Weber, 2002; zitiert nach Klemperer, 2014, S. 198) (Klemperer, 2014; Weber, 2002). Sogenannte „generelle Widerstandsressourcen“ sind hilfreich zur Bewältigung von Stress und dem Umgang mit Belastungen. Diese werden aufgeteilt in interne generelle Widerstandsressourcen (z.B.: Ich-Stärke, Introspektionsfähigkeit, Empfinden von Entspannung oder die Fähigkeit, eigene Bedürfnisse, Wünsche oder Anforderungen wahrzunehmen) und externe Widerstandsressourcen (z.B.: soziale Unterstützung oder soziale Integration) (Renneberg & Hammelstein, 2006, S. 15).

Weitere wichtige Fähigkeiten, die sich positiv auf Stressbewältigung und Gesundheit auswirken können, sind Kontrollüberzeugungen und Selbstwirksamkeitserwartungen. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass eine Person überzeugt ist, ihre Gesundheit selbst kontrollieren zu können sowie auch die dazu nötigen Bewältigungsfähigkeiten zu besitzen und gesundheitsfördernde Verhaltensweisen umsetzen zu können (Faltermaier, 2017, S. 185–186). Ein ständiges Gefühl von mangelnder oder fehlender Kontrolle löst Stressreaktionen aus, welche wiederum die Krankheitsanfälligkeit eines Menschen erhöhen (Myers, 2014, S. 538–539). Des Weiteren tragen sowohl Optimismus als auch psychisches Wohlbefinden zu der Gesundheit bei. Psychisches Wohlbefinden umfasst dabei Aspekte wie Zufriedenheit, Ausgeglichenheit, Lebensfreude und soziale Harmonie (Faltermaier, 2017, S. 177; Hoyer & Herzberg, 2009, S. 68–72). Die Gesundheit eines Menschen wird zudem auch maßgeblich von dem konkreten individuellen Gesundheitsverhalten beeinflusst. Eine gesunde Ernährung sowie regelmäßige körperliche Aktivität sind wichtige präventive Verhaltensweisen (Pietrowsky, 2019, S. 323; Renneberg & Hammelstein, 2006, S. 195). Entspannung sowie eine bewusste Lenkung von Aufmerksamkeit und Emotionsregulation können Stress reduzieren. Es gibt zahlreiche Entspannungs- und Achtsamkeitstechniken, wie beispielsweise Yoga, Meditation oder MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction; Achtsamkeitsbasierte Stressreduktion), die sowohl im präventivem als auch im therapeutischen Bereich eingesetzt werden (Gründer, 2020, S. 91).

Inwiefern können Minimalismus und Slow Living nun zu körperlicher und psychischer Gesundheit beitragen?

Ein minimalistischer Lebensstil vermeidet ein Leben im Überfluss. Es wird weniger Zeit damit verbracht, ständig shoppen zu gehen, und es muss auch weniger Zeit dafür aufgewendet werden, um die vielen Gegenstände, die man besitzt, zu pflegen, wodurch mehr Zeit, Energie und Aufmerksamkeit für die Bereiche bleibt, auf die beim Minimalismus und Slow Living sehr viel Wert gelegt wird: gesundheitsfördernde Aktivitäten wie Sport, Achtsamkeitsübungen, Entspannung durch Yoga und Meditation oder auch einfach Spaziergänge in der Natur (Etzioni, 2004, S. 393). Zudem ermöglicht diese Lebenseinstellung eine bewusste und gesunde Ernährung. Da „Qualität statt Quantität“ im Vordergrund steht, werden gesunde, qualitativ hochwertige Lebensmittel sowie auch Bio- und Fairtradeprodukte bevorzugt (Klug, 2018, S. 29–30; Parkins & Craig, 2006, S. 4).

Durch eine Entschleunigung des Alltags wird vermieden, dass die Zeit unbewusst durch Stress und Hektik verloren geht und voreilige und unbewusste Entscheidungen getroffen werden. Kaufentscheidungen werden nicht durch mangelnde Zeit oder Verfügbarkeit beeinflusst. All dies bedeutet, dass die Erfahrung gemacht wird, eine gewisse Kontrolle über eigene Entscheidungen und das eigene Leben zu haben, was die Kontrollüberzeugungen und Selbstwirksamkeitserwartungen eines Menschen positiv beeinflussen könnte. Diese wiederum haben einen positiven Einfluss auf den Umgang mit gesundheitsschädlichem Stress und Belastungen (Derwanz, 2015, S. 195; Klug, 2018, S. 38–43; Faltermaier, 2017, S. 194-195; Myers, 2014, S. 538-539).

Die Achtsamkeit und Sorgfalt bei der Gestaltung des Alltags ermöglichen, dass sich bewusst Zeit dafür genommen wird, regelmäßig entspannen zu können oder Achtsamkeitsübungen in den Tagesablauf einzubauen, was sich wiederum positiv auf die Stärkung der internen und externen generellen Widerstandsressourcen auswirken könnte, denn Achtsamkeitsübungen können dazu beitragen, die Wahrnehmung von persönlichen Bedürfnissen oder Ängsten zu sensibilisieren sowie auch die Fähigkeit zur Introspektion zu verbessern. Mit regelmäßig angewandten Entspannungstechniken kann bewusst physische und psychische Entspannung herbeigeführt und wahrgenommen werden, was ebenfalls als gesundheitsfördernd angesehen werden kann (Parkins & Craig, 2006, S. 4; Renneberg & Hammelstein, 2006, S. 15).

Immateriellem wird mehr Beachtung und Aufmerksamkeit geschenkt und sozialen Beziehungen eine große Bedeutung zugeschrieben (Derwanz, S. 195), was sich vorteilhaft auf die Stärkung externer genereller Widerstandsressourcen, wie soziale Unterstützung und Integration, auswirken könnte (Renneberg & Hammelstein, 2006, S. 15) und zudem das soziale und psychische Wohlbefinden positiv beeinflussen kann, da ein ausgeglichener, lebensfroher und dankbarer Lebensstil mit sozialer Harmonie angestrebt wird (Derwanz, 2015, S. 195; Faltermaier, 2017, S. 177). Zudem sind Minimalismus und Slow Living von Optimismus geprägt, denn Achtsamkeit bedeutet auch, offen mit der Gegenwart umzugehen und die Geschehnisse so zu akzeptieren, wie sie sind, was als vorteilhaft bezüglich Stressbewältigung und Gesunderhaltung anzusehen ist (Gründer, 2020, S. 90; Hoyer & Herzberg, 2009, S. 68-72). Insgesamt steht beim Minimalismus und Slow Living das Wohlbefinden und die Lebensqualität stets im Vordergrund (Faltermaier, 2017, S. 177; Parkins & Craig, 2006, S. 4).

Fazit

Insgesamt lässt sich sagen, dass Minimalismus und Slow Living als eine präventive Lebensorientierung charakterisiert werden können, bei der der Fokus auf Wohlbefinden und Gesundheit liegt und gesundheitsfördernde Verhaltensweisen wie Ernährung, Bewegung, Entspannung und Achtsamkeit wesentliche Bestandteile des Alltags sind. Den typischen Volkskrankheiten wie Burnout oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die im starken Zusammenhang mit den ungünstigen Lebensweisen der Industriegesellschaften stehen, könnten mit dieser auf Langsamkeit, Achtsamkeit und Wohlbefinden ausgerichtete Lebensführung entgegengewirkt werden. Es ist jedoch zu beachten, dass Gesundheit und Krankheit auch anderweitig beeinflusst werden, wie zum Beispiel durch genetische Veranlagungen oder auch kritische Lebensereignisse. Es gibt zudem auch weitere zahlreiche gesundheitsfördernde Ressourcen und Stressbewältigungskompetenzen, die hier im Zusammenhang mit Minimalismus und Slow Living nicht erwähnt wurden, aber auch von großer Relevanz sind und beachtet werden sollten. Trotzdem kann Minimalismus und Slow Living als ein Lebensstil angesehen werden, bei dem die psychische und physische Gesundheit einen relevanten Stellenwert einnehmen und deshalb eine gesunde, alternative Lebensweise zu der durch Hektik und Massenkonsum geprägten Gesellschaft darstellt.


Literatur

Derwanz, H. (2015). Die diskursive Konstruktion des „Weniger“. Vom Voluntary-Simplicity-Movement zum Minimalismus. In M. Tauschek & M. Grewe (Hrsg.), Knappheit, Mangel, Überfluss: kulturwissenschaftliche Positionen zum Umgang mit begrenzten Ressourcen (S. 181–204). Frankfurt: Campus Verlag.

Etzioni, A. (2004). Voluntary Simplicity: Characterization, Select Psychological Implications, an Societal Consequences (Studies in Economic Ethics and Philosophy). In B. Hodgson (Hrsg.), The Invisible Hand and the Common Good (S. 377–408). Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-10347-0

Faltermaier, T. (2017). Gesundheitspsychologie (Grundriss der Psychologie) (2. Aufl.). Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.

Gründer, G. (2020). Wie wollen wir leben?: Über unsere Zukunft entscheiden wir selbst. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-61713-7

Hoyer, J. & Herzberg, P. Y. (2009). Optimismus. In M. Jerusalem & J. Bengel (Hrsg.), Handbuch der Gesundheitspsychologie und Medizinischen Psychologie (Handbuch der Psychologie). (S. 68–73). Hogrefe.

Karmaus, W. & Osterholz, U. (1987). Zu den Ursachen der großen Volkskrankheiten. Gewerkschaftliche Monatshefte, 38(11), 646–657.

Klemperer, D. (2014). Sozialmedizin – Public Health – Gesundheitswissenschaften: Lehrbuch für Gesundheits- und Sozialberufe (Programmbereich Gesundheit) (2. Aufl.). Bern: Huber.

Klug, K. (2018). Vom Nischentrend zum Lebensstil. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-21110-3

Myers, D. G. (2014). Psychologie (Springer-Lehrbuch) (3. Aufl.). Berlin Heidelberg: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-642-40782-6

Parkins, W. & Craig, G. (2006). Slow living. Oxford ; New York: Berg.

Pietrowsky, R. (2019). Ernährung und Gesundheit (Springer Reference Pflege – Therapie – Gesundheit). In R. Haring (Hrsg.), Gesundheitswissenschaften (S. 323–332). Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-58314-2

Renneberg, B. & Hammelstein, P. (Hrsg.). (2006). Gesundheitspsychologie (Springer-Lehrbuch Bachelor/Master). Heidelberg: Springer Medizin-Verl.

Weber, H. (2002). Ressourcen. In R. Schwarzer & M. Jerusalem (Hrsg.), Gesundheits-psychologie von A bis Z: ein Handwörterbuch. Göttingen: Hogrefe.

Bildnachweis

ashiqraazz (2022). Frau – Morgen – See – Entspannend – Natur – Berg – Kaffee. Zugriff am: 15.07.2022. Verfügbar unter: https://pixabay.com/de/photos/frau-morgen-see-entspannend-natur-7207493/

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