By Published On: 17. Oktober 2021Categories: Gesundheit, Kommunikation

Unser Ernährungsverhalten verändert sich im modernen Zeitalter der Informationsgesellschaft aufgrund der unmittelbaren Verknüpfung von Lebensstil und Social Media drastisch. Ein Post über den perfekten Sommerbody hier, ein Kommentar über Ernährungstipps da – Instagram, TikTok, Facebook und Co. sind mittlerweile kein Trend mehr, sondern vielmehr Teil der Normalität. Ernährungs- und Sportthemen sind auf den sozialen Plattformen allgegenwärtig. Stars und Influencer proklamieren tagtäglich spezifische Schönheitsideale. Doch erhöht diese ständige Informationsflut auch das Risiko, eine Essstörung zu entwickeln oder zu verstärken?

Essstörungen

Essstörungen gehören besonders in westlichen Industrieländern zu den häufigsten chronischen psychischen Erkrankungen.[1] Wie die nachfolgende Abbildung zeigt, ist allein die Anzahl der Anorexie-Fälle, die einer stationären Behandlung bedürfen vom Jahr 2008 bis 2018 um etwa 30 % gestiegen.[2]

Anzahl der in deutschen Krankenhäusern diagnostizierten Fälle von Anorexie und Bulimie in den Jahren 2000 bis 2018 (Quelle: Radtke (2020).)

Betroffene nehmen entweder zu viel oder zu wenig Nahrung zu sich und widmen ihre Gedanken übermäßig ihrem Gewicht und ihrer Figur. Häufig können auch übertriebene gewichtsregulierende Maßnahmen beobachtet werden.[3] Zu den bekanntesten Essstörungen zählen die Anorexia nervosa, die Bulimia nervosa und die Binge-Eating-Störung (vgl. Tabelle).[4] Betroffen sind meist junge Erwachsene.[5]

Anorexia Nervosa (Magersucht)Bulimia nervosa (Ess-Brech-Sucht)Binge-Eating-Störung
(wiederkehrende Essanfälle)
M
E
R
K
M
A
L
E
Absichtlich herbeigeführter Gewichtsverlust→ extremes Untergewicht

Störung wird von Angst vor Gewichtszunahme begleitet 
Heißhungerattacken

Konsumieren von zwanghaft großen Mengen an Essen → anschließende Schuld- und Schamgefühle sowie depressive Stimmungen

Gegenmaßnahmen zur Kompensation (selbst herbeigeführtes Erbrechen, exzessiver Sport, Zurückgreifen auf Abführ- und Entwässerungsmittel)

Störung wird von extremer Angst vor Gewichtszunahme begleitet 

Normalgewicht
Regelmäßige Essanfälle

Unkontrolliertes, wahlloses, schnelles Konsumieren von Nahrung → unangenehmes Völlegefühl

Gefühle des Schams, Ekels, Hilflosigkeit und Schuld

Essattacken werden nicht (regelmäßig) kompensiert
→ erhebliches Übergewicht
→ Adipositas (Fettleibigkeit) als häufigste komorbide Störung
Merkmale verschiedener Essstörungen
(Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Beise/Heimes/Schwarz (2009), S. 329-331; Caspar/Pjanic/Westermann (2018), S. 91; Lohaus/Vierhaus (2019), S. 329; Mensch/Biedert (2009), S. 303-305.)

Essstörungen sind gerade in Zeiten von Social Media zentraler Bestandteil gesellschaftlicher und gesundheitspolitischer Diskussion.[6] Doch inwiefern bestehen Wechselwirkungen zwischen Social Media und Essstörungen? 

Wechselwirkungen zwischen Social Media und Essstörungen

Verschiedene Forschungen aus den letzten Jahren belegen, dass das durch die Medien vermittelte Schönheitsideal zunehmend schlanker wurde. Gleichzeitig stieg die Unzufriedenheit der Frauen mit ihrem eigenen Körper sowie die Zahl der diagnostizierten Essstörungen stetig an.[7] Auch die sozialen Netzwerke stellen für das in der Gesellschaft und den Medien postulierte unrealistische Schlankheitsideal zunehmend eine große Plattform dar. Die Bedürfnisse der Menschen werden online offenkundig und durch Feedback weiterhin verstärkt. Oft genutzte Begriffe oder sog. Hashtags wie „Thigh Gap“ (Oberschenkellücke), „Bikini Bridge“ (enorm heraustretende Hüftknochen) oder „Thinspiration“ führen dabei das Ausmaß vor Augen (vgl. nachfolgende Abbildung).[8] In den sozialen Medien geht es dann darum, Bestätigung für bspw. mehrstündiges Fasten mittels Likes zu erhalten. In Gruppen mit Gleichgesinnten wird hingegen eine monatliche Höchstgrenze an Kalorienkonsum festgelegt. Unberücksichtigt bleibt dabei, dass ein solches Verhalten selbstzerstörend ist. Stattdessen wird es als ein Lebensstil proklamiert.[9] Die ständige Konfrontation mit Bildern, Videos und diversen Informationen über Körper und Figur stellt sich vor allem für Jugendliche und junge Erwachsene als Problem heraus, da diese sensible Altersgruppe die meiste Zeit in den sozialen Medien verbringt.[10]

„Thigh Gap“ und „Bikini Bridge“ (eigene Darstellung)

Entstehungsphase:

Soziale Medien als Ursache

Soziale Medien werden daher oft als potenzieller Auslöser von Essstörungen betrachtet. Allerdings reichen solche einfachen Beobachtungen nicht aus, um einen möglichen Kausalzusammenhang festzulegen. Die Ergebnisse aus den meist experimentell durchgeführten Forschungen zur Wirkung idealisierter Körpervorstellungen sind insgesamt sehr heterogen. Allerdings konnten folgende Rahmenbedingungen festgelegt werden, unter denen negative Effekte verstärkt auftreten:[11]

  • Geringer Selbstwert
  • Bestehende Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper 
  • Sehr schlankes, internalisiertes Körperideal

Aus verschiedenen Forschungen geht insgesamt hervor, dass soziale Medien nicht allein als Ursache von Essstörungen betrachtet werden können. Vielmehr handelt es sich bezogen auf die Entstehungsphase um einen Verstärker, Mediator oder Mitauslöser. Statt eine einfache, einseitige Stimulus-Response-Wirkung liegt hier eine komplexe Wechselwirkung vor. Das bedeutet, dass sich vor allem Menschen mit Tendenz zu problematischem Essverhalten oder bestehenden Prädispositionen ausgiebiger mit idealisierten Medieninhalten auseinandersetzen und somit die Problematik vergrößert wird.[12]

Verlaufs- und Bewältigungsphase:

Soziale Medien als Verstärker

Aufgrund von forschungsökonomischen Aspekten und ethischen Abwägungen besteht derweil eine Forschungslücke hinsichtlich des Einflusses von Medieninhalten auf bereits erkrankte Personen. Allerdings wird beim Betrachten der hohen Letalitätsrate von Essstörungen die Dringlichkeit einer Integration von Betroffenen in die Forschung deutlich. Auch wenn Tiefeninterviews und Post-hoc-Befragungen nicht ausreichen, um Kausalzusammenhänge festzulegen, helfen sie jedoch, experimentelle Befunde kontextbezogen zu untermauern.[13]

In der Verlaufs- und Bewältigungsphase stützen sich Betroffene vermehrt destruktiv auf soziale Medien. Krankheitsverstärkend wirken vor allem verherrlichende Foren, in denen Tipps zum Abnehmen und zum Verheimlichen der Krankheit ausgetauscht werden und zum Ausleben der Krankheit ermutigt wird (z. B. „Pro-Ana“). Zwar setzen Plattformbetreiber wie Instagram und YouTube gegenwirkende Maßnahmen wie das Sperren von entsprechenden Hashtags ein, nichtsdestotrotz finden Erkrankte Ausweichmöglichkeiten, die weniger kontrollierbar sind (z. B. WhatsApp-Gruppen). Aber auch die passive Konfrontation mit medialen Schönheitsidealen gilt als problematisch. Sendungen wie „Germany’s Next Topmodel“, die Schlank- und Schönsein als Voraussetzungen für Erfolg suggerieren, gelangen an dieser Stelle in die Kritik.[14]

Fazit

Essstörungen beschreiben ein komplexes und von verschiedenen Faktoren (psychologische, gesellschaftliche, familiäre etc.) geprägtes Phänomen, weshalb eine eindeutige Identifikation der Rolle der sozialen Medien schwer ist.[15] Ein Kausalzusammenhang lässt sich hier aufgrund von einfachen Beobachtungen und zum größten Teil einschlägiger experimentell durchgeführter Forschung nicht festmachen.[16] Jedoch können soziale Medien als Mitauslöser oder Verstärker angesehen werden, da sie oft ein negatives Körperbild an heranwachsende Menschen vermitteln.[17] Wie mit den Wechselwirkungen von Social Media und Essstörungen umgegangen werden kann und die Frage, ob soziale Netzwerke ausschließlich etwas Schlechtes sind, wird im zweiten Teil dieser Beitragsserie beleuchtet.


[1] Vgl. Peter/Brosius (2021), S. 55; Bundesministerium für Gesundheit (2020).

[2] Vgl. Radtke (2020).

[3] Vgl. Lohaus/Vierhaus (2019), S. 329.

[4] Vgl. Caspar/Pjanic/Westermann (2018), S. 91.

[5] Vgl. Peter/Brosius (2021), S. 55.

[6] Vgl. Robert Koch Institut (2008).

[7] Vgl. Peter/Brosius (2021), S. 55.

[8] Vgl. Zielinski (2016), S. 152.

[9] Vgl. Zielinski (2016), S. 152-153.

[10] Vgl. Statista Research Departement (2019); Zielinski (2016), S. 152.

[11] Vgl. Peter/Brosius (2021), S. 56.

[12] Vgl. Peter/Brosius (2021), S. 56.

[13] Vgl. Peter/Brosius (2021), S. 56-57.

[14] Vgl. Peter/Brosius (2021), S. 58.

[15] Vgl. Baumann/Harden/Scherer (2003), S. 424.

[16] Vgl. Peter/Brosius (2021), S. 55-56.

[17] Vgl. Baumann/Harden/Scherer (2003), S. 424.


Literatur

Baumann, E./Harden, L./Scherer, H. (2003), Zwischen Promi-Tick und Gen-Defekt, Zur Darstellung von Essstörungen in der Presse, M&K Medien & Kommunikationswissenschaft, 51. Jg., Nr. 3-4, S. 431-454.

Beise, U./Heimes, S./Schwarz, W. (2009), Gesundheits- und Krankheitslehre – das Lehrbuch für die Pflegeausbildung, 2. Aufl., Heidelberg.

Caspar, F./Pjanic, I./Westermann, S. (2018), Klinische Psychologie, Wiesbaden.

Lohaus, A./Viehaus, M. (2019), Entwicklungspsychologie des Kindes- und Jugendalters für Bachelor, 4. Aufl., Berlin.

Mensch, S./Biedert, E. (2009), Binge Eating Disorder. In: Margraf, J./Schneider, S. (Hrsg.) Lehrbuch der Verhaltenstherapie – Band 2: Störungen im Erwachsenenalter – Spezielle Indikationen – Glossar, 3. Aufl., Heidelberg, S. 301-324.

Peter, C./Brosius, H.-B. (2021), Die Rolle der Medien bei Entstehung, Verlauf und Bewältigung von Essstörungen. Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz, 64. Jg., Nr. 1, S. 55–61.

Zielinksi, J. (2016), Wie wirken Social Media auf das Ernährungsverhalten?, Ernährung & Medizin, 31. Jg., Nr. 4, S. 152-155.

Internetquellen

Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.) (2020), Essstörungen, https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/e/essstoerungen.html, online abgerufen am 07.06.2021.

Robert Koch-Institut (Hrsg.) (2008), Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Erkennen – Bewerten – Handeln: Zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland, RKI, Berlin, https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Studien/Kiggs/Basiserhebung/GPA_Daten/Essverhalten.pdf?__blob=publicationFile, online abgerufen am 01.06.2021.

Radtke, R. (2020), Anzahl der in deutschen Krankenhäusern diagnostizierten Fälle von Anorexie und Bulimie in den Jahren 2000 bis 2018, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/28909/umfrage/in-krankenhaeusern-diagnostizierte-faelle-von-anorexie-und-bulimie/, online abgerufen am 07.06.2021.

Statista Research Department (Hrsg.) (2019), Nutzungsdauer von Social Media pro Werktag nach Altersgruppen in Deutschland 2019, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1060757/umfrage/durchschnittliche-nutzungsdauer-von-social-media-pro-werktag-nach-altersgruppen-in-deutschland/ , online abgerufen am 31.05.2021.

Bildquelle (Titelbild)

Deluvio, C. (2018), https://unsplash.com/photos/3hRl61WieaE, online abgerufen am 07.06.2021.


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