By Published On: 24. Januar 2024Categories: Wiki

Stell dir vor, du kommst zu dir und befindest dich an einem Ort, an dem du noch nie gewesen bist. Du hast keine Ahnung wie du dort hingekommen bist und die letzten Stunden sind wie aus deinem Gedächtnis gelöscht. Das ist die Realität für Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung (DIS), einer faszinierenden und oft missverstandenen mentalen Herausforderung. Ein Mensch mit mehreren Persönlichkeiten? Sowas kennen die meisten Menschen nur aus Film und Fernsehen. Doch wie ist so etwas möglich? Die dissoziative Identitätsstörung ist ein faszinierendes und zugleich sehr komplexes Thema. Wie genau sich diese Störung äußert, wie diese entstehen kann und ob es eine Möglichkeit gibt diese Störung zu behandeln, erfahren Sie in diesem Blogbeitrag.

Dissoziative Symptome und Störungen

Eine dissoziative Störung ist eine psychische Erkrankung, bei der die integrierende Funktionen des Bewusstseins stark beeinträchtigt ist. Diese integrierenden Funktionen bestehen aus dem Gedächtnis, der Wahrnehmung von sich und der Umwelt und dem Identitätserleben. Diese drei Funktionen des Bewusstseins helfen dabei, aus erlebten Erfahrungen einen Zusammenhang herzustellen (American Psychatric Association, 1994).

Die dissoziative Identitätsstörung (DIS) ist die schwerste Form der dissoziativen Störungen und betrifft das durchgehende dissoziative Funktionieren aller Bereiche des Bewusstseins, einschließlich Gedächtnis, Wahrnehmung und Identität. Individuen mit DIS manifestieren unterschiedliche Persönlichkeitszustände, die abwechselnd die Kontrolle über ihr Verhalten übernehmen, begleitet von Amnesien während der Wechsel. Menschen mit DIS verhalten und/oder erleben sich so, als ob sie mehrere Personen gleichzeitig wären, was zu erheblichem Leidensdruck aufgrund von Amnesien und mangelnder Kontrolle über Denken, Handeln, Fühlen und soziale Interaktion führt. Diese Persönlichkeitszustände umfassen sozial angepasste „normale“ Zustände, die traumatische Erinnerungen vermeiden, und „emotionale“ Zustände, die traumatische Affekte und Erinnerungen in sich tragen. Normalerweise geht das Vorhandensein oder Handeln einer anderen Persönlichkeit mit teilweiser oder vollständiger Amnesie für andere Zustände einher. Typischerweise gibt es etwa acht bis zehn verschiedene Persönlichkeiten in einer Person, in einigen Fällen sogar mehr als 20 (Putnam, 2003).

Klassifikation

Die dissoziative Identitätsstörung (DIS) ist in der ICD-10 als eine seltene Erkrankung angegeben und ist unter dem Code F44.81 klassifiziert, also unter der Bezeichnung „andere dissoziative Störungen“ (ICD-10, 2023). Die Prävalenzrate für die DIS liegt in der Allgemeinbevölkerung bei 1-3% (Dogan, 2007).

Abb. 1: Dissoziative Identitätsstörung: Diagnostische Kriterien nach DSM5. (Gast et al., 2006).

Patient*innen mit einer DIS erleben in sich selbst verschiedene wechselnde, psychologisch eigenständige Anteile ihrer Gesamtpersönlichkeit. Diese verschiedenen Persönlichkeiten übernehmen zu unterschiedlichen Zeitpunkten die Kontrolle über den Körper und das Verhalten der Person und beeinflussen deren Erleben und Verhalten. Alle Anteile der Persönlichkeit gemeinsam ergeben die Gesamtpersönlichkeit der Person mit DIS (Gast & Wirtz, 2016).

Unterschiede zwischen den Persönlichkeiten

Studien konnten zeigen, dass es signifikante Unterschiede zwischen den verschiedenen Persönlichkeitsanteilen gibt. Hierzu zählen Dinge wie Unterschiede in der Sehschärfe, Reaktionen auf Medikamente, Allergien, Blutzuckerspiegel, Herzfrequenz, Muskeltonus, Händigkeit sowie Hirnaktivität (Loewenstein & Putnam, 2004).

Ursachen

Die Ursachen der DIS sind weiterhin unklar. Es lässt sich jedoch grundsätzlich sagen, dass wechselnde Persönlichkeiten bei traumatisierten Kindern entstehen, die Schwierigkeiten haben, ein zusammenhängendes Selbstkonzept zu entwickeln, insbesondere wenn das Trauma in den frühen Lebensjahren auftritt (Barach, 1991). Bei schwerer und langanhaltender Traumatisierung entwickeln sich abgegrenzte Verhaltenszustände, um unerträgliche traumatische Erinnerungen, Gefühle, Sinneswahrnehmungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen zu isolieren. Dies kann die kindliche Entwicklung schützen. Mit der Zeit gewinnen diese abgegrenzten Zustände an Struktur und werden zu verschiedenen Persönlichkeitsanteilen (Putnam, 2003).

Behandlung

In der psychotherapeutischen Behandlung einer DIS ist es ratsam, die spezifische Symptomatik, zwischenmenschliche Beziehungen und innere Prozesse angemessen zu berücksichtigen. Dabei kommen psychodynamische und kognitiv-behaviorale Ansätze zum Einsatz, um abgespaltene Erinnerungen und Persönlichkeitsanteile sowie die damit verbundenen Emotionen und Ängste anzugehen, die die DIS auslösen. Die Behandlung muss auf die individuellen Integrationsfähigkeiten des Patienten abgestimmt sein, da die Erkrankung äußerst komplex ist (Gast, 2000).

Während der Therapie wird angestrebt, die strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit aufzulösen. Dies geschieht, indem der Therapeut den Patienten ermutigt, die verschiedenen dissoziierten Anteile und deren Inhalte miteinander in Kontakt treten zu lassen. Dieser Prozess erfordert eine vorsichtige und gut geplante Herangehensweise, um erneute Dissoziation zu verhindern. In der Regel beginnt man damit, die „alltäglichen Persönlichkeitsanteile“ zu integrieren, die wenig oder nichts über das Trauma wissen, bevor man sich den „emotionalen Persönlichkeitsanteilen“ zuwendet, die traumabezogene Informationen besitzen. Es ist wichtig, sicherzustellen, dass der Patient während der Therapie geistig dazu in der Lage ist, traumatische Erfahrungen und Erinnerungen zu bewältigen (Gast, 2000).

Fazit

Die DIS ist eine schwere dissoziative Störung, bei der die Betroffenen verschiedene Persönlichkeitszustände erleben, die abwechselnd die Kontrolle über ihr Verhalten übernehmen. Charakteristisch für die DIS ist, dass diese Persönlichkeitszustände oft in sozial angepasste „normale“ Persönlichkeitszustände und „emotionale Persönlichkeitszustände“ unterteilt werden, die traumatischen Erinnerungen tragen. Die Entwicklung von verschiedenen Persönlichkeitszuständen ist ein Schutzmechanismus gegen nicht zu ertragende traumatische Erinnerungen und ermöglicht es, die psychische Gesundheit aufrechtzuerhalten. Die Behandlung der DIS erfordert eine umfassende psychotherapeutische Behandlung. Diese Behandlung zielt darauf ab, die strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit aufzulösen. Insgesamt ist die DIS eine äußerst komplexe Störung, die viel Verständnis, Geduld und professionelle Hilfe erfordert. Das Bewusstsein für diese Störung zu schärfen und Betroffenen Unterstützung und Hoffnung auf Heilung zu bieten, ist von entscheidender Bedeutung.

Quellenverzeichnis

American Psychiatric Association. (1994). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (4th ed.). American Psychiatric Publishing, Inc..

Dogan, O., Akyüz, G., Yargic,L.I., Tutkun, H. Frequency of dissociattive identity disorder in the general population in Turkey. Comp Psychiat 1999; 40: 151-9.

Gast, U. (2000). Diagnostik und Behandlung Dissoziativer Störungen. In F. Lamprecht (Hrsg.),
Einführung in die Traumatherapie – was kann EMDR leisten. Stuttgart: Klett-Cotta.

T1 – Gast, U., Rodewald, F., Hofmann A., Matthess, H., Nijenhuis, E., Reddemann, L., Emrich, H.M. (2006). Die dissoziative Identitätsstörung – häufig fehldiagnostiziert. Deutsches Ärzteblatt. 103(47). A 3193-200

Gast, U., Wirtz, G. (2016). Dissoziative Identitätsstörung bei Erwachsenen. Expertenempfehlung und Praxisbeispiele. Stuttgart: Klett & Cotta.

Putnam, F.W. (2003). Diagnostik und Behandlung der dissoziativen Identitätsstörung. Paderborn: Junfermann

Bildnachweis:

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