By Published On: 10. Januar 2023Categories: Psychologie

TikTok ist vor allem bekannt für Tanzvideos und fragwürdige „Challenges“. Nach gerade einmal vier Jahren erreicht die chinesische Kurzvideo-App im September 2021 erstmalig 1 Milliarde monatlich aktive Nutzer und ist damit gegenwärtig die am schnellsten wachsende Social-Media-Plattform der Welt (Schröder, 2022). Warum ist TikTok so beliebt?

Personalisierte Unterhaltung

TikTok macht Spaß, keine Frage. Die Inhalte sind kreativ, sie animieren zum Tanzen, sie laden ein zum Do-It-Yourself. Das zentrale Element der App ist der sogenannte „For-You“-Feed, der nach einem Empfehlungssystem basierend auf individuellen Benutzerinteraktionen funktioniert (TikTok, 2020). Je nach Nutzerverhalten werden den Usern bestimmte potenziell interessante Inhalte ausgespielt. Besonders gepusht werden dabei die Videos, die von anderen Personen mit ähnlichen Interessen und Eigenschaften häufig geklickt wurden. TikToks „For-You“-Feed überzeugt in vielerlei Hinsicht: er ist personalisiert, adaptiv und potenziell unendlich, aber trotzdem spannend und unvorhersehbar. Der Nutzer muss keine Entscheidungen treffen, kann der Technik die Kontrolle übergeben und sich dem Flow des Algorithmus hingeben. 

Place-to-be for Generation Z

Auf TikTok gibt die Generation Z den Ton an (TikTok, 2021). Der durchschnittliche User ist in etwa zwischen 18 und 24 Jahre alt (Yara, 2022). Doch auch unter Teenagern und Kindern erfreut sich die App großer Beliebtheit. Laut eigener Angaben ist die Nutzung zwar erst ab 13 Jahren erlaubt, eine Einverständniserklärung der Eltern wird seitens der Betreiber jedoch nicht eingeholt (Yara, 2022; TikTok, 2022). TikTok bedient aktuell wohl die vulnerabelste aller Zielgruppen. Das ist bedenklich, denn die App ist häufig Zielscheibe von Kritik, insbesondere aufgrund sogenannter „TikTok-Challenges“, die in regelmäßigen Abständen viral gehen und bereits Todesopfer gefordert haben (Newkey-Burden, 2022; Joaquin, 2022). Soziale Medien sind noch immer unzulänglich reguliert und können für Kinder und Jugendliche eine ernsthafte Gefahr darstellen.

Kick der Überraschung

Nicht nur die Inhalte auf TikTok sind potenziell problematisch, sondern auch das Konsumverhalten. Soziale Medien haben Suchtpotenzial, das ist keine neue Erkenntnis. Doch es scheint immer schwieriger zu werden, sich dem hypnotischen Sog aus Reels, Stories oder TikToks zu entziehen. Die chinesische Kurzvideo-App hat in Bezug auf die Verweildauer mittlerweile die Nase vorn: TikTok-User verbringen durchschnittlich 95 Minuten täglich auf der Plattform (Kramer, 2022). Instagram kann im Vergleich dazu „nur“ 51 Minuten der täglichen Zeit seiner User beanspruchen. Das Ziel einer jeden Social-Media-Plattform ist es, die Aufmerksamkeit ihrer Besucher so oft und so lange wie möglich zu binden. Aufgrund der Natur der Inhalte als auch des personalisierten Infinity-Feeds scheint TikTok gegenwärtig Sieger in Sachen Attention Economy zu sein. Der Content ist leicht verdaulich, aber nicht langweilig, die Videos sind kurz, simpel, schnell zu begreifen und doch emotional (Jessen, 2021). Entscheidend ist jedoch vielleicht die Art der Präsentation: Zwar basiert der „For-You“-Feed auf Benutzerinteraktionen und ist damit grob vorhersehbar, doch weiß der User trotzdem nie, was als nächstes in seinen Feed gespült wird. Jeder Inhalt ist neu und kommt in gewissem Sinne unerwartet. „It means that sometimes you win, sometimes you lose. And that’s how these platforms are designed … they’re exactly like a slot machine” (Koetsier, 2020). Manchmal landet der Algorithmus einen Volltreffer, manchmal nicht. Vielleicht hört der User genau deswegen nicht auf zu scrollen, denn der nächste Inhalt könnte schließlich ebendieser (Glücks-)Treffer sein. 

Dopamin-Falle

Ein Begriff, der häufig in Verbindung mit sozialen Medien fällt, ist „Dopamin“. Dopamin ist ein Botenstoff im Gehirn und bringt – stark vereinfacht – den Organismus dazu, Dinge zu tun, selbst wenn diese Dinge potenziell schädlich sind (Stangl, 2022a). Solange es sich dabei um eine effektive Verhaltensweise handelt, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, ist der Mensch anfällig dafür, dieses Muster zu wiederholen. Damit ist Dopamin der schwarze Peter vieler Suchterkrankungen (Kohlenbach, 2020). Am meisten Dopamin wird jedoch nicht ausgeschüttet, wenn der gewünschte Ausgang eintritt, sondern kurz bevor ebendieser eintritt – oder auch nicht. Es scheint nicht die Belohnung per se zu sein, die den sogenannten „Kick“ beschert, sondern die Belohnungserwartung (Stangl, 2022a). Das ist ein interessanter Ansatz, um die suchtverstärkende Wirkung sozialer Medien wie TikTok zu erklären, da der „For-You“-Feed bspw. nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert. Die Betreiber machen sich den Effekt von Dopamin zunutze, indem sie das Verhalten der User (z. B. das Scrollen im Feed) eben nicht jedes einzelne Mal „belohnen“. Dieser Mechanismus wird auch „intermittierende Verstärkung“ genannt (Stangl, 2022b). Es handelt sich dabei um eine Variante operanter Konditionierung, bei der das gewünschte Verhalten per Zufallsverteilung manchmal verstärkt wird, und manchmal auch nicht. Das Erlernen der gewünschten Reaktion dauert letzten Endes zwar länger, ist jedoch wesentlich „löschungsresistenter“. Ein TikTok-User weiß nie, was ihn konkret erwartet, wenn er seinen „For-You“-Feed öffnet, doch es könnte jederzeit etwas dabei sein, das ihn zum Lachen, Weinen oder Staunen bringt. So scrollt er weiter und weiter, immer in Erwartung auf den nächsten Kick, gefangen in einer endlosen Dopamin-Schleife.  

Digitale Diät

TikTok selbst rät uns zu einer „ausgewogenen digitalen Diät“ (TikTok, 2022), was immer das auch heißen mag. Die Betreiber der App scheinen zu wissen, dass ihre Plattform einige potenzielle Problematiken birgt. Auf der Webseite von TikTok finden sich zumindest umfangreiche „Leitfäden“ sowohl für Nutzer als auch besorgte Eltern (TikTok, 2022). Es geht u. a. um den Umgang mit Cybermobbing, gefährlichen Online-Challenges, sexuellen Übergriffen und das „digitale Wohlbefinden“ (TikTok, 2022). Sie geben Tipps und Ratschläge zur Bildschirmzeit und legen ihren Usern nahe, ein Gleichgewicht zu finden, das sich „gut und richtig“ anfühlt. Doch welche Maßstäbe hat ein 13-jähriger Teenager für „gut und richtig“? Von einer „digitalen Droge“ zu sprechen, erscheint möglicherweise überzogen formuliert, doch es gibt bedenkliche Indizien, die darauf hindeuten, dass wir an manchen Stellen vielleicht die Kontrolle über unsere Technologien verlieren. So oder so wissen wir bisher wenig darüber, welche langfristigen neurologischen und psychologischen Auswirkungen übermäßiger Social-Media-Konsum auf den Menschen (und die Gehirnentwicklung von Kindern) hat. Solange wir das Ausmaß der Risiken (noch) nicht abschätzen können, sollten wir sie zumindest genau beobachten und sowohl die Plattformbetreiber als auch Eltern sich ihrer Verantwortung nicht entziehen lassen.

Quellen:

Jessen, E. (2021). Der Reiz an TikTok – warum die App so schnell süchtig macht. Abgerufen am 15.09.2022. Verfügbar unter https://krisenchat.de/oase/suechte/Tiktok-Sucht

Joaquin, J. P. M. (2022). 5 Dangerous TikTok Challenges That You Should Not Even Attempt. Abgerufen am 17.09.2022. Verfügbar unter https://www.itechpost.com/articles/113116/20220819/viral-flashback-5-dangerous-tiktok-challenges-even-attempt.htm

Koetsier, J. (2020). Digital Crack Cocaine: The Science Behind TikTok’s Success. Abgerufen am 16.09.2022. Verfügbar unter https://www.forbes.com/sites/johnkoetsier/2020/01/18/digital-crack-cocaine-the-science-behind-tiktoks-success/?sh=4c24cf6678be

Kohlenbach, L. (2020). Die Neurobiologie der Sucht. Abgerufen am 18.09.2022. Verfügbar unter https://www.dasgehirn.info/krankheiten/sucht/die-neurobiologie-der-sucht

Kramer, J. (2022). TikTok hat die höchste Verweildauer, Instagram die meisten DAU. Abgerufen am 16.09.2022. Verfügbar unter https://t3n.de/news/verweildauer-dau-tiktok-instagram-1485919/

Newkey-Burden, C. (2022). The ‚blackout challenge‘ and why it’s so dangerous. Abgerufen am 17.09.2022. Verfügbar unter https://www.theweek.co.uk/tiktok/957825/tiktok-blackout-challenge-why-its-so-dangerous

Schröder, J. (2022). TikTok wächst auch 2022 rasant weiter. Abgerufen am 12.09.2022. Verfügbar unter https://www.construktiv.de/social-media/das-ungeschlagene-wachstum-von-tiktok/  

Stangl, W. (2022a). Dopamin – Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. Abgerufen am 19.09.2022. Verfügbar unter https://lexikon.stangl.eu/8672/dopamin

Stangl, W. (2022b). Intermittierende Verstärkung – Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. Abgerufen am 19.09.2022. Verfügbar unter https://lexikon.stangl.eu/22582/intermittierende-verstaerkung

TikTok (2020). TikTok: Der Für-Dich-Feed erklärt. Abgerufen am 15.09.2022. Verfügbar unter https://newsroom.tiktok.com/de-de/tiktok-der-fur-dich-feed-erklart

TikTok (2021). Time Well Spent: Users on TikTok stay longer, engage often & feel happier. Abgerufen am 18.09.2022. Verfügbar unter https://www.tiktok.com/business/de/blog/time-well-spent

TikTok (2022). Sicherheitszentrum. Leitfäden. Abgerufen am 16.09.2022. Verfügbar unter https://www.tiktok.com/safety/de-de/

Yara (2022). TikTok Statistiken 2022: Nutzerzahlen und relevante Informationen zur Social-Media-App. Abgerufen am 12.09.2022. Verfügbar unter https://www.smart-home-fox.de/tiktok-nutzer-statistiken

Bildquelle:

Feyissa, S. (2020). TikTok running on iPhone. Abgerufen am 27.12.2022. Verfügbar unter https://unsplash.com/photos/1S1w1c4_VyA

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