By Published On: 8. August 2022Categories: Gesundheit

Es ist ein Mittwoch, Ende April und die Eltern von Paul sitzen vor ihrem Kinderarzt und bekommen die Diagnose ADHS für ihr Kind mitgeteilt.

Was ist eigentlich ADHS? Gemäss ICD 11 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) ist ADHS eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung mit sechs Verhaltensmuster von Hyperaktivität-Impulsivität und Unaufmerksamkeit, welche über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten anhalten und sich negativ auf das soziale und schulische Erleben auswirken muss. (Vgl. WHO, 2022, Absatz 1)

Es ist wie eine Achterbahn der Gefühle und lässt sich kaum in Worten ausdrücken. So lang zweifelten die Eltern an ihren Erziehungsmethoden, an dem Arbeitspensum, dem Nebenstudium oder auch an ihrem Kind. Paul ist ein aufgewecktes, begeisterungsfähiges und kreatives Kind. Er kann aufgrund kleiner unscheinbarer Dinge, die kreativsten Spiele und Ideen entwickeln, will stets überall teilnehmen und am liebsten den ganzen Tag backen oder kochen. Ein Tag mit Paul ist wie ein riesiger Abenteuerspielplatz, bei welchem jede Ecke immer wieder neu entdeckt werden kann und viel Liebe und Kuscheleinheiten gefordert und geben werden. Das alles macht Paul aus und macht ihn zu einem grossartigen, lebensfrohen Kind.

Leider erlebt man diese aussergewöhnlichen Phasen immer nur in einem Rahmen, bei welchem sich die Bezugspersonen (vor allem Mama oder Papa) vollumfänglich und ausschliesslich um Paul kümmern. Eine vorhandene Fokussierung ermöglicht es den Bezugspersonen auf emotionale Schwankungen einzugehen, klare Regeln einzuhalten und vor allem viel Zeit in der Natur zu verbringen. Hierbei muss die Bezugsperson ein sehr lautes und ununterbrochenen Reden akzeptieren und mit einem andauernden Bewegungsdrang umgehen können. Denn trotz aller Hinweise, Ermahnungen oder auch Strafen ist es Paul leider nicht möglich seine Lautstärke zu reduzieren, seine Sprunghaftigkeit zu regulieren oder Geduld zu zeigen. Alle diese Bespiele sind gemäss Hahn typische ADHS Symptome, welche es dem Kind verunmöglichen ein interaktives Sozialleben aufzubauen und für externe Bezugspersonen ist es schwierig geduldig zu bleiben. (Vgl. Hahn, 2021, S. 12-13)

Im Falle einer fehlenden Fokussierung durch z.B. Geschwisterkinder, Arbeit, Haushalt, Studium oder einfach eines längeren Telefonats fällt das System wie eine wackelnde Pyramide zusammen. Hierbei wird Paul dann immer zu einem kleinen geliebten Monster, welches mit Absicht die Privatsphäre der Geschwister verletzt, den Familienhund ohne Feingefühl behandelt, vermehrt Essen konsumiert, Streit anzettelt oder lautstark um Aufmerksamkeit verlangt. Das Familienleben leidet an diesem Zustand, genauso wie die Geschwister- und die Paarbeziehung.

Warum wird jetzt Hilfe gesucht, nach dem die Problematik schon lange Bestand hat?

Paul hat keine Freunde und merkt langsam, dass sich keiner mit ihm treffen möchte oder ihn einlädt. Das hat die Eltern dazu bewogen Hilfe zu holen, um dem Kind die wichtigen sozialen Interaktionen zu ermöglichen. Denn ADHS Kinder haben aufgrund ihrer verringerten emotionalen Fähigkeit sehr selten wirklich langanhaltende innige Freundschaften. Auch befinden sich ADHS Kinder stetig in einer Abwehrhaltung oder legen ein anbiederndes Verhalten an den Tag, was das Freundschaft schliessen zusätzlich erschwert. (Vgl. Dietrich, 2011, S. 121)

Eine Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften aus dem Jahr 2015 bis 2018 untersucht die ADHS Diagnose und damit einhergehende Massanahmen. Kritisch betrachtet wird die Frage, ob das Kindswohl hierbei im Vordergrund steht. Die daraus resultierende Handlungsempfehlung bezieht sich auf das Verstehen der komplexen AD(H)S Problematik und somit einer frühzeitigen Wahrnehmung einer vorliegenden Herausforderung und entsprechender Lösungssuche. Die Zusammenarbeit verschiedener Akteure sollte verbessert werden, um bereits frühzeitig alle Ressourcen für die optimale Unterstützung des Kindes nutzen zu können. (Vgl. ZHAW, 2018, S. 41-43)

In Bezug auf den vorliegenden Fall kann die Studie bestätigt werden. Es gab zahlreiche Situationen und Hinweise, welche aus Unwissenheit durch die Eltern, den Lehrpersonen und sonstigen Beteiligten nicht korrekt gedeutet wurden. Paul hat bereits frühzeitig einen auffälligen Aktivitätsgrad an den Tag gelegt und fiel durch unangepasstes Verhalten auf. Auch das soziale Umfeld war bereits früh beeinträchtigt, wobei das Freundschaften schliessen an sich, nicht problematisch war, sondern das Aufrechterhalten einer Freundschaft. Dies unter anderem weil Paul sehr Ich-bezogen ist, Gefühle und Emotionen anderer nicht deuten kann und ein sehr lautes und ungestümes Wesen hat. Rückblickend hatten viele Bezugspersonen eine Ahnung aber haben das Problem ignoriert, anstatt die Eltern mit Hinweisen in die richtige Richtung zu lenken. Gemäss Döpfner et. al. hätte eine frühere Unterstützung durch z. B. Ergotherapie und gezielter Aufklärung des Umfeldes, Paul vielleicht die Möglichkeit gegeben weniger Ablehnung zu erfahren. (Vgl. Döpfner/Fröhlich/Lehmkuhl, 2013, S. 64-68)

Fazit:

Für alle Beteiligten war die Diagnose ADHS am Anfang erst mal sehr schwer und es hat mehrere Wochen gedauert bis sich Pauls Eltern informiert haben, um diese Störung zu verstehen. Sie haben jetzt für so vieles eine Erklärung und sind dankbar über das neue Verständnis, welches sie für ihr Kind im Alltag entwickeln durften. Einiges was vorher als selbstverständlich erachtet wurde wie z. B. das selbstständige Zähne putzen oder Mama an ihrer Hausarbeit schreiben lassen, kann gar nicht funktionieren und wird auch nicht mehr vorausgesetzt. Vielmehr muss Paul beim Zähne putzen immer begleitet werden und das Lernen oder Schreiben einer Hausarbeit ist nur möglich, wenn Paul beschäftigt oder betreut ist.

Literaturverzeichnis

Dietrich, K. (2011). Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom: ADHS – Die Einsamkeit in unserer Mitte, 1. Aufl., Stuttgart.

Döpfner, M./Frölich, J./Lehmkuhl, G. (2013), Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie Band 1, 2. Aufl., Göttingen.

Hahn, H. (2021), Mein Kind hat ADHS, Wie ihr im Alltag klarkommt und gemeinsam glücklich werdet. Die besten Alltagsstrategien für zu Hause, die Schule und alle üblichen Stresssituationen., 1. Aufl., Hannover.

WHO (Weltgesundheitsorganisation), ICD-11 for Mortality and Morbidity Statistics (Version : 02/2022) In: https://icd.who.int/browse11/l-m/en#/http%3a%2f%2fid.who.int%2ficd%2fentity%2f821852937 abgerufen am 26. Juni 2022.

ZHAW Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, (2018), Kinder fördern. Handlungsempfehlungen zum Umgang mit AD(H)S im Entscheidungsprozess, Zürich, S. 40-43 In: https://www.zhaw.ch/storage/hochschule/medien /bildmaterial/adhs-kinder-foerdern-brosch-online.pdf, abgerufen am 18. Juni 2022.

Medienquellen:

Abbildung 1: Beitragsbild – Quelle: istockphoto In: https://www.istockphoto .com/de/foto/ein-gelangweilter-kind-er-es-ablehnt-mit-seinem-privaten-lehrer-w%C3%A4hrend-der-gm1053433074-281442852?phrase=adhs

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