By Published On: 14. Januar 2023Categories: Psychologie

„Some things benefit from shock; they thrive and grow when exposed to volatility, randomness, disorder, and stressors and love adventure, risk, and uncertainty. Yet, in spite of the ubiquity of the phenomenon, there is no word for the exact opposite of fragile. Let us call it antifragile” (Taleb, 2012).

Unvorhersehbare Zukunft

Die Zukunft gilt generell als nicht vorhersagbar. Menschen waren niemals frei von Zufall, Unsicherheit und Chaos. Trotz dessen war das Leben mit all seinen Möglichkeiten in einer nicht globalisierten Welt schlichtweg überschaubarer. Womöglich hat es in der Vergangenheit sogar Zeiten gegeben, in denen unsere Vorfahren mehr oder weniger genau vorhersehen konnten, was sie in ihrer Zukunft erwartet. Vom Standpunkt unserer gegenwärtigen Realität indessen ist die menschliche Zukunft zunehmend unberechenbar. Insbesondere durch die Integration von Technologie in die Strukturen unserer Gesellschaft haben wir die Welt unbegrenzt komplexer gemacht. Wir leben in einem System bestehend aus unzähligen Elementen, die sich in unendlich vielen Kombinationen miteinander verbinden können. Welche Entwicklungen ein derartiges System vollzieht, ist unmöglich vorherzusehen. Wie lässt es sich in dieser Unsicherheit sicher leben?

Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen

Nassim Taleb, Finanzmathematiker und Essayist, sieht die Lösung in einem Konzept, das er selbst als „Antifragilität“ (engl. antifragility) bezeichnet (Taleb, 2012). Ein fragiles System ist instabil, schwach und störanfällig. Wird es einer Belastung ausgesetzt, geht es leicht zu Bruch. Ein antifragiles System hingegen profitiert von der Belastung. Es kann dem Druck nicht nur standhalten und seine ursprüngliche Form beibehalten, es wird in Zuge dessen noch stärker, leistungsfähiger und robuster. Antifragile Systeme lieben demnach alles, was unvorhersehbar, unsicher und chaotisch ist – denn jede Krise verbirgt Chancen auf Wachstum. Taleb zufolge steht Antifragilität als Merkmal hinter allem, was sich im Laufe der Zeit verändert und weiterentwickelt hat: Evolution, Kultur, politische Systeme, technologische Innovationen, bakterielle Resistenz oder die menschliche Existenz auf diesem Planeten (Taleb, 2012). Die Zukunft funktioniert nach dem Prinzip: Das Fragile (Störanfällige, Instabile) geht, das Antifragile (Zufalls- und Chaosaffine) besteht (Horx, 2016).

Resilienz und posttraumatisches Wachstum

In der Psychologie gibt es zwei Konzepte, die dem der Antifragilität nahekommen und die als zwei von vier möglichen psychoemotionalen Reaktionsweisen auf Traumata beschrieben werden – Resilienz und posttraumatisches Wachstum (Mangelsdorf, 2020, S. 24). Die resiliente Reaktion ist dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch nach der Belastung schnell wieder in seine Ursprungsform zurückfindet (Mangelsdorf, 2020, S. 24). Die psychische Funktionalität ist kurzzeitig eingeschränkt, jedoch ohne Langzeitschäden. Beim posttraumatischen Wachstum kommt es zunächst zu einem starken Abfall psychischer Funktionalität, der Person fällt es schwer, sich an die Situation anzupassen (Mangelsdorf, 2020, S. 25). Gelingt es jedoch, sich mit dem belastenden Ereignis positiv auseinanderzusetzen, können die Betroffenen nicht nur auf das ursprüngliche Niveau zurückkehren, sondern darüber hinaus ihre psychischen Ressourcen nachhaltig erweitern (Mangelsdorf, 2020, S. 25). 

Abbildung 1: Psychoemotionale Reaktionsformen nach traumatischen Erfahrungen. a Resilienz, b Erholung, c Posttraumatische Belastungsstörung, d Posttraumatisches Wachstum (Mangelsdorf, 2020, S. 25).

Wie in Abbildung 1 zu erkennen, ist der wesentliche Unterschied zwischen Resilienz und posttraumatischem Wachstum nicht allein der Wachstumsaspekt, sondern das Ausmaß der vorstehenden Destabilisierung. Der Steigerung der psychischen Funktionalität geht eine Phase starken Leidens voraus. Im Falle der Resilienz kommt es lediglich zu kurzzeitigen und weniger ausgeprägten Abfällen. 

Leben wie eine Hydra

Veränderung ist schon immer die einzige Konstante. Doch das Tempo, mit dem sich diese Veränderungen vollziehen, steigt rasant. Wer in einer Welt wie dieser nicht nur überleben, sondern auch wachsen will, muss antifragil sein, so Taleb. Doch welche Verhaltensweisen charakterisieren den „antifragilen Menschen“? Der antifragile Mensch sollte mit Stress umgehen können, Emotionen verstehen, über eine hohe Problemlösungskompetenz verfügen, eigene Bedürfnisse erkennen und darüber hinaus Unsicherheiten sowie Veränderungen nicht nur akzeptieren, sondern die darin liegenden Chancen ergreifen und Ängste zum eigenen Vorteil nutzen, indem er sich ihnen stellt (Gedankenwelt, 2021). Er hält sich an einfache Regeln, widersteht dem Drang, Zufälligkeit zu unterdrücken, geht viele kleine, aber keine potenziell vernichtenden Risiken ein, hält seine Optionen offen und respektiert Gewohnheiten und Regeln, die sich bereits in der Vergangenheit den Widrigkeiten des Lebens gegenüber als robust erwiesen haben (Benson, 2013). Metaphorisch gesprochen verfügt der antifragile Mensch über das mythologische Wesen der Hydra – verliert er seinen Kopf, wachsen an derselben Stelle zwei neue Köpfe nach. 

Antifragilität als Persönlichkeitseigenschaft

Antifragilität ist ein schönes Konzept, das sich bildhaft beschreiben und metaphorisch ausschmücken lässt. Der Grundgedanke per se ist nicht neu, wenn auch Taleb ihn aus interessanter Perspektive beleuchtet. Er scheint unter dem Konstrukt verschiedene Charakterzüge, Fähigkeiten und Prinzipien miteinander zu verbinden, die sich einzeln oder in Kombination schon immer auf die eine oder andere Art und Weise in Menschen gezeigt haben. Mehr noch als mit der Idee der Resilienz scheint die der Antifragilität sehr stark mit der des posttraumatischen Wachstums verwoben zu sein. Talebs Konzept wirkt wie eine Ausdehnung des Zustands von posttraumatischem Wachstum zu einer überdauernden Persönlichkeitseigenschaft. Insbesondere die Differenzierung zwischen posttraumatischem Wachstum und Resilienz macht jedoch deutlich, dass Antifragilität immer mit Fragilität einhergeht. Ein Mensch muss zunächst fragil sein, um überhaupt antifragil werden zu können. Er muss Tiefpunkte erfahren, die sein Wesen erschüttern und ihn dazu bringen, Dinge elementar neu aufzubauen. Antifragilität bedeutet, Schmerz auszuhalten und anschließend aus diesem Schmerz heraus zu wachsen. 

Quellen:

Benson, B. (2013). How to Be Antifragile: Live like a Hydra. Thoughts on how to build resilience and get stronger when things are chaotic. Abgerufen am 28.08.2022. Verfügbar unter https://betterhumans.pub/live-like-a-hydra-c02337782a89

Gedankenwelt (2021). Antifragil werden – In der Ungewissheit navigieren. Abgerufen am 28.08.2022. Verfügbar unter https://gedankenwelt.de/antifragil-werden-in-der-ungewissheit- navigieren/

Horx, M. (2016). Rumpelstilzchen des Zufalls. Abgerufen am 30.08.2022. Verfügbar unter https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/rezensionen/antifragilitaet-taleb/

Mangelsdorf, J. (2020). Posttraumatisches Wachstum. Zeitschrift für Psychodrama und Soziometrie, 19, S. 21-33. doi:10.1007/s11620-020-00525-5

Mohr, G. (2018). Antifragilität oder Resilienz: Was passt besser? Abgerufen am 28.08.2022. Verfügbar unter https://de.linkedin.com/pulse/antifragilit%C3%A4t-oder-resilienz-passt- besser-g%C3%BCnter-josef-mohr

Taleb, N. (2012). Antifragile. How to live in a World We Don’t Understand. o. O.: Penguin.

Bildquelle:

Pellegrini, S. (2019). Back of Hercules in main square in Florence, Italy. Abgerufen am 27.12.2022. Verfügbar unter https://unsplash.com/photos/L3QG_OBluT0

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