By Published On: 28. Februar 2024Categories: Psychologie

„Alles gut?“ „Alles gut!“. Wenn ich diese Worte höre, frage ich mich manchmal: ‚Ist wirklich alles gut?‘ Die Betonung dahinter lässt meist anderes vermuten.

Positivität wird gerne gesehen. Der Wert einer positiven Perspektive auf die Belastungen unseres Lebens wird immer wieder betont. Sie macht es uns einfacher – so wird es zumindest versprochen (BARMER, 2023). Doch was passiert, wenn wir uns eine positive Haltung abverlangen, obwohl wir gerade anders empfinden? Wenn wir, auch im Kontakt zu unseren Mitmenschen, zwangsoptimistisch denken und handeln? Mittlerweile verbreitet sich ein Verständnis davon unter dem Begriff der toxischen Positivität.

Was ist toxische Positivität?

Toxische Positivität ist ein tagtäglich auftretendes Phänomen, welches uns nicht nur in den sozialen Medien, sondern v.a. im zwischenmenschlichen Kontakt begegnet. Sie vertritt die Überzeugung, dass eine optimistische, positive Haltung einzig entscheidend für die Lösung unserer Herausforderungen und Probleme ist. Sie wird in Sprüchen und Glaubenssätzen sichtbar, mit denen Menschen in herausfordernden Situationen begegnet wird. ‚Denk positiv!‘; ‚Hake es ab!‘; ‚Kopf hoch!‘; ‚Hinter jedem Problem versteckt sich eine Chance!‘. Egal wie belastend und schwierig eine Situation sein mag: Es werden nur ‚gute‘ Gefühle und Einstellungen zugelassen (Holtmeier, 2023, S. 47; Lecompte-Van Poucke, 2022).

Warum reden wir toxisch positiv?

Die Intention positiver Worte mag eine gute sein: Ermutigung, Motivation, Aufmunterung, Unterstützung. Denn wir alle wollen uns gut fühlen. Es fällt schwer auszuhalten, wenn es (nahestehenden) Menschen schlecht geht. Da scheint es auf der Hand liegend diesen Zustand rasch verändern zu wollen – unbewusst aber v.a. sich selbst zuliebe (Holtmeier, 2023, S. 47). In der Corona-Pandemie verkörperte das Hashtag #goodvibesonly: ‚Bleib‘ positiv! Egal, was kommt.‘ (BARMER, 2023). Schnell soll man ‚einfach positiv‘ denken, ‚das Gute darin sehen‘, denn ‚das wird schon wieder!‘. Das Problem dabei ist, dass wir bestehenden Gefühlen keine Aufmerksamkeit schenken. Negativen Gefühlen und Gedanken wird kein Platz eingeräumt – sie werden unterdrückt, geleugnet und verdrängt. So erreichen toxisch positive Bemerkungen meist genau das Gegenteil dessen, was intentioniert wurde (Holtmeier, 2023, S. 45–46).

Toxisch positive Inhalte lassen nur ‚gute‘ Gefühle zu.

Auswirkungen toxischer Positivität

„Wenn dir das Leben Zitronen gibt, mach‘ Limonade draus!“ „Es könnte schlimmer sein!“ „Niemals aufgeben“ „Es gibt keine Grenzen, nur Ziele!“ „Nicht mehr drüber nachdenken, bleib‘ optimistisch!“, „Alles geschieht aus einem bestimmten Grund!“

Hätten Sie noch Lust zu erzählen, wie es Ihnen wirklich geht? Wenn Positivität nicht angemessen ist, oder nicht unseren Bedürfnissen entspricht, wird sie belastend: Der Druck positiv zu bleiben führt dazu, die eigenen Gefühle zu unterdrücken. Es entsteht Frust, das Gefühl nicht gesehen zu werden, den Anforderungen der Umwelt nicht zu genügen. Es können Schuld und Scham entstehen, weil es nicht gelingt positiv zu denken (Holtmeier, 2023, S. 45). Dabei kann sich toxische Positivität auch subtiler zeigen, z.B. im Dialog mit Kindern: „Es ist doch alles gut!“, „Du brauchst keine Angst haben!“. Und das, obwohl für die betreffende Person offenbar nicht ‚alles gut‘ ist. Diese Sätze suggerieren erstmal eines: ‚Es ist falsch, dass du dich so fühlst‘ (Holtmeier, 2023, S. 47). Einerseits kann toxische Positivität dazu führen, dass Probleme und echte Emotionen weniger verbalisiert und/oder unterdrückt werden (Holtmeier, 2023, S. 45). Andererseits fühlen sich Menschen durch sie im Dialog nicht ernstgenommen (Holtmeier, 2023, S. 47), sodass sie unsere sozialen Beziehungen belastet (Barnow, 2018, S. 83). Genau genommen vertritt sie also eine negative Haltung – nämlich belastenden Gefühlen gegenüber (BARMER, 2023).

Warum negative Gefühle wichtig sind

Dabei haben Gefühle ihre Daseinsberechtigung. Sie sind die Informanden des Körpers über unsere inneren Zustände und Bedürfnisse (Barnow, 2018, S. 4). Wenn wir sie unterdrücken, kann das u.a. körperliche und psychische Symptome verursachen, unsere Gedächtnisleistung verringern und zu Stress führen. Besonders spannend ist hierbei: Je mehr wir unsere Emotionen unterdrücken, desto intensiver erleben wir sie und desto unwahrscheinlicher ist ihr Verschwinden (Barnow, 2018, S. 81–82). Darüber hinaus löst das Wegschieben unserer Emotionen niemals das eigentliche, ursächliche Problem (BARMER, 2023). Wir müssen traurig, wütend, enttäuscht, verletzt, unmotiviert oder am Boden zerstört sein dürfen! Ganz nach dem Motto ‘It’s okay not to be okay’.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Natürlich macht uns ein realistischer Optimismus und ein positives Mindset das Leben an vielen Stellen leichter und lebenswerter (Lübke, 2016, S. 146). Positivität erhält uns sogar gesund und verringert unser Sterberisiko (Loffing & Engelmann, 2023, S. 164–165)! Doch eine optimistische Haltung ist nicht immer zielführend. Sie erfordert entsprechendes Feingefühl für unser Gegenüber und die Situation. Darüber hinaus ist auch wichtig zu welchem Zeitpunkt aufbauende, positive Worte gesendet werden (Holtmeier, 2023, S. 47). Ich liebe Limonade! Doch bevor ich das so sehe, muss ich erstmal akzeptieren dürfen, dass vor mir eine große Schale Zitronen steht – obwohl ich doch etwas ganz anderes bestellt hatte!

Wie können wir es besser machen?

Wie eingangs beschrieben geht toxische Positivität v.a. aus dem eigenen Unvermögen hervor, Negativität auszuhalten. Dabei geht es in belastenden Situationen doch v.a. darum, die die Belastung für mein Gegenüber oder mich selbst nachzuvollziehen – und dies auch zu verbalisieren (Barnow, 2018, S. 82). Indem wir anderen unseren Optimismus überstülpen, verleugnen wir echte, negative Emotionen (McHale, 2022, S. 123). Stellen Sie sich vor, Sie verlieren einen geliebten Menschen und hören am Tag der Beerdigung „Bleib‘ positiv! Bleib‘ stark! Denn alles geschieht aus einem bestimmten Grund!“.

Negative Gefühle dürfen gefühlt und verbalisiert werden.

Bevor wir uns einer Situation positiv, lösungs- und wachstumsorientiert widmen, sollte wir die Situation angemessen würdigen und die Gefühle unseres Gegenübers beachten. Zum Beispiel indem man offen und ohne Wertung fragt, wie es der betreffenden Person mit der Situation/dem Geschehnis geht, was es mit ihr macht, sich mit der Person solidarisiert („Ich bin froh, dass du das mit mir teilst. Und ich glaube dir, dass du sauer bist – dazu hast du auch allen Grund!“; „Wie geht es dir jetzt, zwei Wochen nach der Beerdigung?“) (Holtmeier, 2023, S. 47). Anstelle positiver Floskeln sind echte Empathie und Anteilnahme die besseren, ehrlicheren Berater (BARMER, 2023).

Nicht jede saure Zitrone unseres Lebens muss also die Basis für eine süße Limonade sein – sie darf auch mal sauer schmecken – und danach im Biomüll landen!

Zum Nachdenken

Entsteht echte Verbundenheit nicht v.a. dann, wenn wir uns authentisch zeigen dürfen, und nicht darum sorgen müssen, mit den eigenen Themen eine Zumutung zu sein? Die Ideologie des positiven Denkens scheint dies zu vergiften („Immerhin hast du nettes Pflegepersonal!“, „Alleine wohnen kann doch auch ganz schön sein!“) (BARMER, 2023). Es kann sich lohnen zu reflektieren, warum wir die negativen Ge-fühle unserer Mitmenschen relativieren und/oder mit floskelhaften Beschwichtigungen abwenden, statt empathisch zu reagieren.

BARMER. (2023). Toxic Positivity – wann positives Denken schaden kann. Zugriff am 31.01.2024. Verfügbar unter: https://www.barmer.de/gesundheit-verstehen/psyche/psychische-gesundheit/toxic-positivity-1125360

Barnow, S. (2018). Gefühle Im Griff! Wozu man Emotionen braucht und wie man sie reguliert (3. Auflage). Berlin, Heidelberg: Springer.

Holtmeier, L. (2023). Nicht aus jeder Zitrone muss Limonade werden! – Toxische Positivität. physiopraxis, 21(05), 44–47. https://doi.org/10.1055/a-2066-6193

Lecompte-Van Poucke, M. (2022). ‘You got this!’: A critical discourse analysis of toxic positivity as a discursive construct on Facebook. Applied Corpus Linguistics, 2(1), 100015. https://doi.org/10.1016/j.acorp.2022.100015

Loffing, D. & Engelmann, B. (2023). Mini-Handbuch Resilienz-Coaching (Mini-Handbücher, 1. Auflage). Weinheim: Julius Beltz GmbH & Co. KG.

Lübke, R. (2016). Optimismus. In D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Werte (S. 137–148). Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg.

McHale, L. (2022). Neurowissenschaften für die Organisationskommunikation. Singapore: Springer Nature Singapore. https://doi.org/10.1007/978-981-19-5998-1

Bildquellen

Titelbild: https://pixabay.com/de/photos/smiley-emoticon-der-zorn-ver%C3%A4rgert-2979107/

Abbildung ‚Toxisch positive Inhalte lassen nur ‚gute‘ Gefühle zu.‘: https://pixabay.com/de/photos/tafel-kreide-feedback-bewertung-3700116/

Abbildung ‚Negative Gefühle dürfen gefühlt und verbalisiert werden.‘: https://www.pexels.com/de-de/foto/mann-schlafzimmer-jung-sprechen-8841296/

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