By Published On: 11. Januar 2023Categories: Psychologie

Ein Mensch sucht von Natur die Gemeinschaft seinesgleichen. Technisch gesehen ist es heute einfacher denn je, unabhängig von zeitlichen und räumlichen Grenzen soziale Kontakte zu pflegen. Doch die Einsamkeit frisst sich durch die Bevölkerung wie eine unsichtbare Krankheit. Das ist nicht nur ein individuelles, sondern ein soziales Problem.

Die einsame Generation

Einsamkeit ist nicht erst seit der Pandemie ein Thema, auch wenn durch die soziale Isolation die Werte nochmal sprunghaft angestiegen sind (Baarck, D’Hombres & Tintori, 2022, S. 1125; Harris, 2015; Sarner, 2019). Schon vor Ausgangssperren und Abstandsregeln gaben alarmierend viele Menschen an, sich einsam zu fühlen. Ein besorgniserregender Trend: Insbesondere jüngere Generationen sind zunehmend von Vereinsamung betroffen, obwohl Personen in dieser Lebensphase im Vergleich zu anderen Altersgruppen am meisten Zeit mit Freunden verbringen und am stärksten von ihrem sozialen Umfeld beeinflusst werden (Baarck, D’Hombres & Tintori, 2022, S. 1127; Barreto et al., 2021; Statista Research Department, 2022). 

Das soziale Gehirn

Die Sozialität ist tief im menschlichen Gehirn verankert (Fiske, 2018, S. 9). Für unsere Vorfahren in einer Zeit vor Zivilisationen war soziales Verhalten überlebenswichtig: Als Mitglied einer Gruppe waren die Aussichten auf ausreichend Nahrung und Schutz schlichtweg besser (Fiske, 2018, S. 9-10). Wenn eine Spezies im Sinne der Evolution erfolgreich sein will, muss sie sich stetig an die Umwelt anpassen. Für den Menschen bedeutete das die Entwicklung eines sozial ausgerichteten Gehirns, das ihn im Denken, Fühlen und Handeln auf eine Weise beeinflusst, dass er aktiv den Kontakt zu anderen sucht und naturgemäß motiviert ist, zwischenmenschliche Beziehungen zu führen und zu pflegen (Fiske, 2018, S. 10-12). Auch wenn sich die Lebensumstände weiterentwickelt haben, funktioniert das Gehirn des modernen Menschen noch immer nach diesem Prinzip. Zwar können sich erwachsene Personen heute auch allein versorgen, trotzdem bleiben gewisse soziale Bedürfnisse bestehen: So ist jeder Mensch – die einen mehr, die anderen weniger – auf die Zuwendung anderer Menschen angewiesen (Baumeister & Leary, 1995). Bleibt die Erfüllung dieser Bedürfnisse für längere Zeit aus, entstehen Gefühle wie Hoffnungslosigkeit, Niedergeschlagenheit oder Verzweiflung. 

Einsamkeit ist eine Mangelerscheinung

Es gibt verschiedene Definitionen von Einsamkeit, nach einer häufig zitierten Bestimmung von Peplau und Perlman handelt es sich um eine unangenehme Erfahrung, die entsteht, wenn eine Person ihr soziales Netzwerk in quantitativer und/oder qualitativer Hinsicht als mangelhaft wahrnimmt (1981, S. 31). Anzumerken ist hier, dass Menschen sich diesbezüglich je nach Persönlichkeit oder Lebensumständen unterscheiden (Luhmann, 2022, S. 13-14). Eine Person ohne menschlichen Kontakt muss nicht zwingend einsam sein, umgekehrt fühlt sich eine andere Person umgeben von Menschen möglicherweise trotzdem allein. Die qualitätsbezogenen Aspekte scheinen deutlich relevanter zu sein: Es kommt nicht auf die Anzahl von Beziehungen an, sondern ob diese als erfüllend empfunden werden (Lexikon der Psychologie, o. J.). „Das Gegengift zu Einsamkeit ist nicht das wahllose Zusammensein mit irgendwelchen Leuten. Das Gegengift zu Einsamkeit ist Geborgenheit“ (2016, S. 171), schreibt der Schriftsteller Benedict Wells. 

Eine unsichtbare Krankheit

Im Freiheitsentzug wird die Isolationshaft genutzt, um das psychische Gleichgewicht eines Gefangenen zu zerstören (Bueller, 2006). Soziale Isolierung gilt als Foltermethode, sie zielt darauf ab, der Person eines ihrer grundlegendsten Bedürfnisse zu verwehren: den Kontakt zu anderen Menschen. Tatsächlich zeigt die Forschung, dass bei Einsamkeitsgefühlen im menschlichen Gehirn ähnliche Areale aktiv sind wie bei körperlichen Schmerzen (Bücker, 2022, S. 8). Wir befinden uns inmitten einer „Epidemie der Einsamkeit“ (Knauth, Stingel & Melcher, 2022) – so heißt es an mancher Stelle. Einsamkeit per se gilt zwar nicht als Krankheit, kann jedoch bei dauerhaftem Auftreten zur ernsthaften Belastung für die Gesundheit werden (Bücker, 2022, S. 8). Insbesondere das psychische Wohlbefinden leidet unter Vereinsamung: Eine ganze Reihe von Studien zeigt Zusammenhänge zwischen Einsamkeit und depressiven Störungen, Suizidalität, Ängsten oder Schlafproblemen (Bücker, 2022, S. 8-11). Betroffene Personen stecken häufig in einem Teufelskreis, wenn sich Faktoren gegenseitig verstärken: Einsame Menschen treibt es in die Depression, depressive Menschen in die Einsamkeit. Weiterführende Analysen weisen überdies darauf hin, dass Vereinsamung die Lebenserwartung senkt (Holt-Lunstadt et al., 2015). In deutlichen Worten: Einsame Menschen sterben früher.

Übel der Moderne

Müsste Einsamkeit in der modernen Welt nicht eigentlich eine obsolete Erscheinung sein? Wir kommunizieren unentwegt über Raum und Zeit hinweg, überwinden Entfernungen schneller denn je und das Angebot an sozialen Interaktionsmöglichkeiten ist unüberschaubar. Doch „Vereinsamung gilt mittlerweile als eines der größten sozialen Probleme westlicher Gesellschaften.“ (Knauth, Stingel & Melcher, 2022) – heißt es stattdessen. Da kommt die berechtigte Frage auf, ob nicht die moderne Lebensweise selbst für die zunehmende Einsamkeit verantwortlich ist. Kommunikation, die überwiegend digital stattfindet; soziale Medien, die Oberflächlichkeit und Schein-Dasein fördern; eine Gesellschaft, deren Werte sich mehr an Individualisierung und Differenzierung statt Gemeinschaft und Verbundenheit orientieren; Familien, die stetig kleiner werden und immer mehr Menschen, die allein leben (Burnett, 2021; Bohn, 2006, S. 106-107). Es gibt so einige Ansätze, aber noch ist unklar, wo die Einsamkeit ihren Ursprung hat. Doch Vereinsamung ist die logische Konsequenz unserer Lebensweise, meinen Zukunftsforscher, auch wenn sie uns in einer hochgradig vernetzten Welt zunächst überflüssig vorkommen mag (Horx & Horx-Strathern, o. J.). 

Die einsame Zukunft

„Emotionen sind nicht nur Privatsache“ (2006, S. 5), meint die Soziologin Caroline Bohn, und Einsamkeit ist in gewisser Weise immer eine Emotion mit sozialem Bezug. Sie beeinflusst Menschen in ihrem Verhalten und fließt in unsere gesellschaftlichen Strukturen ein. Wie wir mit der wachsenden Einsamkeit umgehen, ist wegweisend für die Zukunft der menschlichen Kultur. Vielleicht ist sie tatsächlich eine unausweichliche Erfahrung, die wir als „Teil des Möglichkeitsraums der modernen Gesellschaft“ (Horx & Horx-Strathern, o. J.) akzeptieren müssen. Doch vielleicht müssen wir sie gerade deswegen auf eine andere Art und Weise betrachten, nicht als bemitleidenswerten Zustand, der bekämpft werden muss. Einsamkeit ist nicht gänzlich negativ gefärbt, schon immer haben Menschen bewusst danach gesucht, um sich selbst und dem, woran sie glauben, näher zu kommen. Doch was wir heute mehr und mehr beobachten, ist die Flucht in die endlose Ablenkung, welche die Gefühle nur betäubt und sie im Dunkeln wie ein Geschwür heranwachsen lässt. Wir müssen vieles überdenken: unsere Beziehungen zu anderen und die zu uns selbst, warum es uns so schwerfällt, Intimität aufzubauen, wie wir mit unseren eigenen Emotionen und denen anderer umgehen, und welche Werte wir als Gesellschaft vertreten wollen.  

Quellen:

Baarck, J., D’Hombres, B. & Tintori, G. (2022). Loneliness in Europe before and during the COVID-19 pandemic. Health Policy, 126, S. 1124-1129.

Barreto, M., Victor, C., Hammond, C., Eccles, A., Richins, M. T. & Qualter, P. (2021). Loneliness around the world: Age, gender, and cultural differences in loneliness. Personality and Individual Differences, 169.doi:10.1016/j.paid.2020.110066

Baumeister, R. F. & Leary, M. R. (1995). The need to belong: desire for interpersonal attachments as a fundamental human motivation. Psychological Bulletin., 117(3), S. 497-529. 

Bohn, C. (2006). Einsamkeit im Spiegel der sozialwissenschaftlichen Forschung. Dortmund: Universität Dortmund, Fachbereich Erziehungswissenschaft und Soziologie.

Bueller, V. (2006). Isolationshaft. „Einzelhaft ist Folter“. Zugriff am 10.12.2022. Verfügbar unter https://www.beobachter.ch/gesetze-recht/isolationshaft-einzelhaft-ist-folter

Burnett, D. (2021). A psychologist explains how modern life is making us lonely, but it doesn’t have to. Zugriff am 17.12.2022. Verfügbar unter https://www.sciencefocus.com/news/a-psychologist-explains-how-modern-life-is-making-us-lonely-but-it-doesnt-have-to/

Bücker, S. (2022). KNE Expertise 10/2022. Die gesundheitlichen, psychologischen und gesellschaftlichen Folgen von Einsamkeit. Frankfurt a.M.: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. Kompetenznetz Einsamkeit.

Fiske, S. T. (2018). Social Beings. Core Motives in Social Psychology (4. Aufl.)Hoboken, NJ: Wiley. 

Harris, R. (2015). Loneliness: A Rising Epidemic in Modern Life? Zugriff am 15.12.2022. Verfügbar unter https://www.expertwitnessjournal.co.uk/special-reports/656-loneliness-a-rising-epidemic-in-modern-life

Holt-Lunstadt, J., Smith, T. B., Baker, M. & Harris, T. (2015). Loneliness and Social Isolation as Risk Factors for Mortality: A Meta-Analytic Review. Perspectives on Psychological Science, 10(2), S. 227-237. doi:10.1177/1745691614568352

Horx, M. & Horx-Strathern, O. [o. J.]. Das Monster der Moderne: Einsamkeit. Zugriff am 06.12.2022. Verfügbar unter https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/zukunftsreport/das-monster-der-moderne-einsamkeit/

Knauth, A., Stingel, R. & Melcher, R. (2022). Allein unter Millionen – Die Epidemie der Einsamkeit. Zugriff am 10.12.2022. Verfügbar unter https://www.phoenix.de/sendungen/dokumentationen/allein-unter-millionen–d-a-2513333.html

Lexikon der Psychologie [o. J.]. Einsamkeitsforschung. Zugriff am 13.12.2022. Verfügbar unter https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/einsamkeitsforschung/3902 

Luhmann, M. (2022). KNE Expertise 1/2022. Definition und Formen der Einsamkeit. Frankfurt a.M.: Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. Kompetenznetz Einsamkeit. 

Peplau, A. L. & Perlman, D. (1981). Toward a Social Psychology of Loneliness. In S. Duck & R. Gilmore (Hrsg.), Personal Relationships in Disorder (S. 31-56)London: Academic Press. 

Sarner, M. (2019). You are not alone: dealing with the epidemic of chronic loneliness. Zugriff am 15.12.2022. Verfügbar unter https://www.sciencefocus.com/the-human-body/you-are-not-alone-2/ 

Statista Research Department (2022). Umfrage in Deutschland zur Häufigkeit von Einsamkeit nach Alter 2019.Zugriff am 15.12.2022. Verfügbar unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1014929/umfrage/umfrage-in-deutschland-zur-haeufigkeit-von-einsamkeit-nach-alter/

Bildquelle:

Sasha Freemind (2018). Man standing in front of the window. Abgerufen am 27.12.2022. Verfügbar unter https://unsplash.com/photos/Pv5WeEyxMWU

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