By Published On: 29. März 2022Categories: Gesundheit

Haben Sie schon mal von der Darm-Hirn-Achse gehört?

Bereits Hippokrates vermutete, dass alle Krankheiten ihren wahren Ursprung im Darm haben. Seit zwei Jahrzehnten kann die Wissenschaft nun nachweisen, dass der Darm nicht nur vom Gehirn beeinflusst wird, sondern auch aktiv das Gehirn beeinflusst. Diese zweiseitige Darm-Hirn-Achse eröffnet neue Perspektiven auf psychologische Phänomene und zeigt komplementäre Strategien zur Behandlung psychiatrischer, neurologischer und altersbedingter Störungen auf (Liu, Gao, Zhu & Liu, 2020).

Darmmikroben bilden ein wichtiger Faktor für die menschliche Gesundheit. (Quelle: Bild von Julien Tromeur auf Pixabay)

Darmmikroben spielen eine entscheidende Rolle für die menschliche Gesundheit. Die Verbindung zwischen Darm und Gehirn wird von Mikroben über verschiedene Wege reguliert, an denen Neurotransmitter, Hormone und bioaktive Stoffwechselprodukte beteiligt sind (Verma, Phian, Lakra, Kaur, Subudhi, Lal & Rawat, 2020). Seit kurzem wird Darmgesundheit daher bei der Behandlung vieler Erkrankungen wie Autismus, Angstzuständen, Fettleibigkeit, Parkinson und Alzheimer berücksichtigt (Sharma, Prakash, Yadav, Srivastava & Chatterjee, 2021).

Der Ursprung liegt im Nervensystem

Wie funktioniert das genau?

Die Darm-Hirn-Achse umfasst das zentrale Nervensystem, das autonome Nervensystem und das enterische Nervensystem. Das enterische Nervensystem besteht aus etwa 100 Millionen Neuronen, die den Magen-Darm-Trakt auskleiden. Es wird oft als „zweites Gehirn“ bezeichnet, da es autonom funktionieren kann (Pocock & Richards, 2006). Etwa 80% aller Bakterien im Körper eines Erwachsenen befinden sich im Darm (Sharma, Prakash, Yadav, Srivastava & Chatterjee, 2021).

Veränderungen in der Interaktion zwischen Darm und Hirn als Reaktion auf psychosozialen oder darmbedingten Stress, z. B. durch Ernährung, Medikamente oder Infektionen, können die Stabilität und das Verhalten dieses Systems verändern und sich als Gehirn-Darm-Störungen durch veränderte Zusammensetzungen der Mikrobiota sichtbar machen (Sharma, Prakash, Yadav, Srivastava & Chatterjee, 2021).

Obwohl nicht abschließend erforscht ist, wie das Darmmikrobiom das zentrale Nervensystem beeinflusst, gibt es immer mehr Hinweise auf neuronale, hormonelle und immunologische Wege. Darmmikrobiota können die Aktivität von Neuronen im enterischen Nervensystem direkt beeinflussen. Darüber hinaus kommuniziert das enterische Nervensystem mit dem zentralen Nervensystem über den Vagusnerv, der zum parasympathischen Zweig des autonomen Nervensystems gehört (Nowakowski, McCabe, Rowa, Pellizzari, Surette, Moayyedi & Anglin, 2016). Im Klartext bedeutet dies, dass Darmgesundheit auch unsere mentale Gesundheit beeinflusst.

Ein Ungleichgewicht von Darmmikrobiota kann zu verschiedenen psychischen Störungen wie Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHD), Zwangsstörung (OCD), Depressionen, bipolaren Störungen, Essstörungen und Demenz beitragen. (Quelle: Verma, Phian, Lakra, Kaur, Subudhi, Lal & Rawat, 2020)

Der Darm und Stressreaktionen

Denn 90% des körpereigenen Glückhormons Serotonin entsteht im Darmtrakt.

Neben Serotonin haben auch andere Neurotransmitter wie Dopamin, Gamma-Aminobuttersäure (GABA) und Melatonin, die allesamt von Darmmikroben produziert werden, tiefgreifende Auswirkungen auf die neurologischen Funktionen und beeinflussen unsere Schlafqualität, Konzentrationsfähigkeit und Stimmung (Verma, Phian, Lakra, Kaur, Subudhi, Lal & Rawat, 2020).

Studien mit Mäusen zeigen, dass das Mikrobiom des Darms Stressreaktionen beeinflusst. Anhand von keimfreien Mäusen, die unter sterilen Bedingungen ohne Bakterien aufgezogen wurden, konnten die Forscher neurochemische und verhaltensbezogene Reaktionen auf Stress in Abwesenheit jeglicher Art von Magen-Darm-Bakterien untersuchen. Wenn sie einem Stressor ausgesetzt waren, wiesen keimfreie Mäuse im Vergleich zu Mäusen mit normal entwickelter Darmmikrobiota eine höhere Stressreaktion durch veränderte, negative, Verhaltensweisen auf und schütten mehr Cortisol aus (Sudo, Chida, Aiba, Sonoda, Oyamo, Kubo & Koga, 2004; Neufeld, Kang, Bienenstock, & Foster, 2010; Nowakowski, McCabe, Rowa, Pellizzari, Surette, Moayyedi & Anglin, 2016).

Hilf deinem Helfer

Die Einnahme von Probiotika in diesen Experimenten konnte zur Normalisierung des Darmmikrobioms und der damit verbundenen Verhaltensweisen beitragen. Forscher haben daher den Begriff Psychobiotika gefunden, um Probiotika zu beschreiben, die bei der Behandlung psychiatrischer Erkrankungen eingesetzt werden (Nowakowski, McCabe, Rowa, Pellizzari, Surette, Moayyedi & Anglin, 2016).

Lactobacillus helveticus und Bifidobacterium longum

Der Mangel an GABA wird seit langem mit Depressionen und negativem Grübeln in Verbindung gebracht. Forscher konnten Darmmikroben identifiziert, die in der Lage sind, GABA abzusondern. Solch vielversprechende Psychobiotika sind Lactobacillus helveticus und Bifidobacterium longum. Der Verzehr von Zartbitterschokolade beispielsweise wirkt wie ein Präbiotikum und fördert das Wachstum von Lactobacillus helveticus und Bifidobacterium longum, wodurch unser Cortisolspiegel sinkt und die Produktion von GABA-absondernden Bakterienfamilien erhöht werden kann (Davidson, 2014; Sharma, Singh, Singh, Khare, Nain & Nain, 2022).

Bifidobacterium infantis und Lactobacillus reuteri

Bestimmte Psychobiotika, wie z. B. Bifidobacterium infantis, enthalten in Joghurt oder Sauerkraut, können, ähnlich der Wirkung von Antidepressiva bei Behandlung von Depressionen, den Serotoninspiegel verändern und somit unsere Stimmungsregulierung verbessern (Davidson, 2014).

Forscher am MIT haben gezeigt, dass ein bestimmter Stamm von Lactobacillus reuteri, die Stimmung, das Aussehen und unsere allgemeine Gesundheit verbessern kann. Dieser Stamm steigert die Produktion von Oxytocin, das als „Kuschelhormon“ bekannt ist und eine Rolle bei der Förderung positiver sozialer Interaktionen spielt. Ein erhöhter Oxytocinspiegel kann zu verbessertem Wohlbefinden führen.

Symbiose von Körper und Psyche

Psychobiotika üben ihren Einfluss auf das Gehirn über verschiedene Wege aus. Der Vagusnerv, der zentrale Verbindungskanal zwischen Darm und Gehirn, spielt dabei eine wichtige Rolle. Er wird durch Neurotransmitter aktiviert, die von der Darmmikrobiota produziert werden und somit neuronale Reaktionen beeinflussen. Einige Psychobiotika steigern die Produktion dieser Neurotransmittern, während andere Stämme die Stressreaktion über das endokrine System positiv beeinflussen können.

Psychobiotika haben folglich ein breites Anwendungsspektrum, das von Linderung von Stress und Stimmungsschwankungen hin zur Unterstützung bei der therapeutischen Behandlung verschiedener neurologischer Entwicklungsstörungen und neurodegenerativer Erkrankungen reicht (Sharma, Gupta & Mehrotra, 2021).  Die therapeutische Nutzung von Psychobiotika befindet sich noch in den Kinderschuhen (Sharma & Bajwa, 2022). Es lohnt sich dennoch für jeden Einzelnen bei psychischen Problemen nicht nur die eigene Psyche, sondern auch das zweite Gehirn und deren Zusammenhang besser zu verstehen.

Literatur

Davidson, J. (2014). The Psychobiotic Revolution. Psychology Today, 47(2), 40-41.

Liu, S., Gao, J., Zhu, M., Liu K. & Zhang, H. L. (2020). Gut Microbiota and Dysbiosis in Alzheimer’s Disease: Implications for Pathogenesis and Treatment. Molecular Neurobiology, 57, 5026-5043.

Neufeld, K. M., Kang, N., Bienenstock, J. & Foster, J.A. (2010). Reduced anxiety-like behavior and central neurochemical change in germ-free mice. Neurogastroenterology & Motility, 23(3), 255-264.

Nowakowski, M. E., McCabe, R., Rowa, K., Pellizzari, J., Surette, M., Moayyedi, P., & Anglin, R. (2016). The gut microbiome: Potential innovations for the understanding and treatment of psychopathology. Canadian Psychology/Psychologie Canadienne, 57(2), 67-75.

Pocock, G. and Richards, C. (2006). Human Physiology: The Basis of Medicine. Oxford: Oxford University Press.   

Sharma, H. & Bajwa, J. (2021). Approach of probiotics in mental health as a psychobiotics. Archives of Microbiology, 204 (30), 1-7.       

Sharma, M., Prakash, J., Yadav, P., Srivastava, K., & Chatterjee, K. (2021). Gut–brain axis: Synergistic approach. Industrial Psychiatry Journal, 30, 297-300.

Sharma, R., Gupta, D. & Mehrotra, R. (2021). Psychobiotics: The Next-Generation Probiotics for the Brain. Current Microbiology, 78, 449-463.

Sharma, P., Singh, N., Singh, S., Khare, S., Nain, P. & Nain, L. (2022). Potent γ-amino butyric acid producing psychobiotic Lactococcus lactis LP-68 from non- rhizospheric soil of Syzygium cumini. Archives of Microbiology, 204, S. 1-11. 

Sudo N,. Chida Y., Aiba Y., Sonoda J., Oyama N., Yu X., Kubo C. & Koga Y. Postnatal microbial colonization programs the hypothalamic-pituitary-adrenal system for stress response in mice. Journal of Physiology, 558, 263-275.

Verma, H., Phian, S., Lakra, P. Kaur, J., Subudhi, S., Lal, R. Rawat, C. (2020). Human    Gut Microbiota and Mental Health: Advancements and Challenges in Microbe-Based Therapeutic Interventions. Indian Journal of Microbiology, 60(4), 405-419.

Teile diesen Artikel