By Published On: 26. April 2023Categories: Psychologie

38% Prozent der deutschen Bevölkerung sehen sich nach einer Umfrage von fast 2000 Erwachsenen als gläubig an (Suhr, 2021). Religion hat somit einen großen Platz im alltäglichen Leben vieler Menschen. Doch wie wirkt sich der Glaube auf die psychische Gesundheit aus? Ist die Zugehörigkeit zu einer Religion eine Ressource oder eher eine Belastung? In diesem Beitrag werden positive und negative Auswirkungen von Religion (und Spiritualität) gegenübergestellt.

Religion und Spiritualität

Zuerst sollten die Begriffe Religion und Spiritualität kurz definiert werden. Was wird unter einer Religion verstanden? Eine Religion ist eine gemeinsame und überlieferte Weltanschauung mit spezifischen Glaubensinhalten (Krause, 2015, S. 6). Pickel (2011) teilt die Definition der Religion in vier Basiselemente auf:

  • individuelle Überzeugungen: Glaube an Gott,
  • religiöse und soziale Praktiken: religiöse Rituale, wie der Gottesdienst,
  • eine moralische Gemeinschaft: Mitglieder teilen gleiche Normen und Verpflichtungen,
  • eine institutionelle Ausprägung: Organisationen, welche eine Religion institutionalisieren. Die Kirche, Synagoge oder Moschee kann den Mitgliedern Vorgaben für deren Handlungen geben (S. 18-19).

Die Spiritualität sollte hier ebenfalls für besseres Verständnis definiert werden. Sie ist ein Bestreben, sich mit den transzendenten Dingen des Lebens, also einer höheren Macht zu befassen. Spiritualität kann als Lebenseinstellung betrachtet werden, bei der nach Sinn und Bedeutung gesucht wird. Dabei kann es sich auch um die Suche nach Gott handeln, muss es aber nicht. Spiritualität existiert somit innerhalb von Religion, kann jedoch auch über sie hinausgehen (Krause, 2015, S. 4-6).

Religion als mögliche Ressource

Um den Einfluss der Ausübung von Religion auf die mentale Gesundheit zu betrachten, werden zuerst mögliche positive und negative Faktoren angesprochen, um am Ende ein Gesamtbild zu erhalten.

Wie oben bereits erwähnt, gehört zu einer Religion eine Gemeinschaft, welche soziale Praktiken ausübt. Diese Gemeinschaften können soziale Interaktionen und vor allem Unterstützung für religiöse und spirituelle Individuen bieten (Lorona & Marcuso, 2023, S. 304). Eine Studie, bei der 334 religiöse Juden befragt wurden, zeigte, dass mit jeder Art von religiöser und sozialer Unterstützung die Lebenszufriedenheit positiv beeinflusst wird (Lazar & Bjorck, 2016, S. 393).

Auch regelmäßige Rituale, wie beispielsweise das Gebet, können vor allem in schwierigen Zeiten eine gute Ressource darstellen. Es zeigte sich, dass das Gebet und die damit verbundene Gottesbeziehung bei Krebspatienten die Lebensqualität und sogar das Gesamtüberleben positiv beeinflussen kann (Grossarth-Maticek & Vetter, 2011, S. 587).  Des Weiteren kann auch Dankbarkeit durch das Gebet gefördert werden, welche ebenfalls als Ressource genutzt werden könnte (Lambert, Fincham, Braithwaite, Graham & Beach, 2009, S. 139). Auch andere Praktiken wie die Meditation können eine höhere Selbstwahrnehmung und Mitgefühl zu sich selber und anderen unterstützen (Boellinghaus, Jones & Hutton, 2013, S. 267)

Auch die religiöse Hoffnung, welche oft als Bewältigungsmechanismus genutzt wird, kann als Ressource genutzt werden, indem daran geglaubt wird, dass im Leben letzten Endes doch alles gut wird (Abu-Raiya, Pargament & Krause, 2016, S. 1267).  Ebenso wird davon ausgegangen, dass religiöse Überzeugungen Erkenntnisse mit sich bringen, welche zum Lebenssinn und anderen positive Emotionen beitragen (Loewenthal, 2009, S. 129).

Als letztes soll hier noch angesprochen werden, dass der Glaube an eine Religion einem das Gefühl geben kann, mehr Kontrolle über seine Umstände zu haben, da an eine höhere Macht geglaubt wird, bei der durch religiöse Praktiken etwas bewirkt werden kann. Dieser Glaube kann eine gute Ressource für den Umgang mit Ängsten sein und dementsprechend auch das emotionale Wohlergehen steigern (Miller-Perrin & Mancuso, 2015, S. 44).

Mögliche Schattenseiten der Ausübung von Religion

Da nun dargelegt wurde, wie die Ausübung von Religion die mentale Gesundheit unterstützen kann, soll nun auch dargestellt werden, mit welchen Faktoren sie die Psyche negativ beeinflussen kann.

Auch wenn die Hinwendung zur Religion und Spiritualität in schwierigen Lebenssituationen eine Ressource sein kann, kann sie auch zur Realitätsflucht genutzt werden, um sich der Auseinandersetzung von negativen Ereignissen zu entziehen (Krause, 2015, S. 148). Eine Studie zu diesem ungesunden „Missbrauch“ von Spiritualität zeigte, dass die damit zusammenhängende emotionale Unterdrückung ein Prädiktor für Angst und Depression sein kann (Cashwell, Glosoff & Hammond, 2010, S. 163-170).

Wenn der Glaube zu starr wird, kann dies auch schnell in überwertige Ideen übergehen, welche Intoleranz mit sich ziehen können. Religiöse Überzeugungen können dann in Zwänge oder sogar Wahn übergehen. Diese Denkstörungen können das Leben stark negativ beeinflussen und vor allem Angst, aber auch Depressivität und Misstrauen auslösen (Krause, 2015, S. 155-156).

Auch Schuldgefühle durch das Gefühl unzureichend für die Religion zu sein, können entstehen. Dies kann vor allem bei Menschen mit psychischen Störungen kontraproduktiv sein, da sie durch ihre Schuldgefühle ihre Symptome weniger bändigen können (Bussema & Bussema, 2007, S. 304).

Aber nicht nur die zu starke Hinwendung zur Religion, sondern auch eine Abwendung kann negative Folgen auf die Psyche haben. Wenn spirituelle Krisen entstehen und der Glaube infrage gestellt wird, kann dies zu Verzweiflung führen, weil der Zweifel auch die inneren Werte und die Weltanschauung infragestellt (Abu Raiya, Pargament & Krause, 2016, S. 1271)

Wichtig ist hier auch zu erwähnen, dass die Auswirkungen des Glaubens davon abhängig sein können, welche Vorstellungen Menschen von Gott haben. Ist es ein unterstützender und gütiger Gott, oder wird eher an einen bestrafenden Gott geglaubt (Krause, 2015, S. 152)?

Fazit

Zusammenfassend kann die Religion also einen Lebenssinn geben, soziale und psychologische Ressourcen darbieten und einen gesunden Lebensstil unterstützen (Shiah, Chang, Chiang, Lin, & Tam, 2015, S. 42). Bei zu starker Hinwendung oder Abwendung der Religion, kann jedoch auch die psychische Gesundheit negativ beeinflusst werden. Oft merken Menschen auch nicht, dass sie ihre Religion als Werkzeug nutzen, um sich ihren eigenen Emotionen nicht stellen zu müssen.  

Die Ausübung einer Religion kann also sowohl Fluch als auch Segen für einen Menschen sein. Hierbei ist wichtig, dass vorallem die eigene Einstellung zur Religion sehr ausschlaggebend für das psychische Wohlbefinden sein kann.


Literaturverzeichnis

Abu-Raiya, H., Pargament, K. I. & Krause, N. (2016). Religion as problem, religion as solution: Religious buffers of the links between religious/spiritual struggles and well-being/mental health. Quality of Life Research : An International Journal of Quality of Life Aspects of Treatment, Care and Rehabilitation, 25(5), S. 1265–1274. https://doi.org/10.1007/s11136-015-1163-8

Boellinghaus, I., Jones, F. W., & Hutton, J. (2013). Cultivating self-care and compassion in psychological therapists in training: The experience of practicing loving-kindness meditation. Training and Education in Professional Psychology, 7(4), S. 267–277. https://doi.org/10.1037/a0033092

Bussema, E. F., & Bussema, K. E. (2007). Gilead Revisited: Faith and Recovery. Psychiatric Rehabilitation Journal, 30(4), S. 301–305. doi:10.2975/30.4.2007.301.305.

Cashwell, C. S., Glosoff, H. L., & Hammond, C. (2010). Spiritual Bypass: A Preliminary Investigation. Counseling and Values, 54, S.162–174

Grossarth-Maticek, R. & Vetter, H. (2011). Gottesbeziehung, Gesamtüberleben und Lebensqualität bei Krebspatienten im multifaktoriellen Zusammenhang. Wege Zum Menschen, 63(6), S. 577–595. https://doi.org/10.13109/weme.2011.63.6.577

Krause, C. (2015). Mit dem Glauben Berge versetzen? Psychologische Erkenntnisse zur Spiritualität. Kritisch hinterfragt. Heidelberg: Springer.

Lambert, N. M., Fincham, F. D., Braithwaite, S. R., Graham, S. M., & Beach, S. R. (2009). Can prayer increase gratitude? Psychology of Religion and Spirituality, 1(3), S. 139–149. https://doi. org/10.1037/a0016731

Lazar, A. & Bjorck, J. P. (2016). Religious support and psychological well-being: gender differences among religious Jewish Israelis. Mental Health, Religion & Culture, 19(4), S. 393–407. https://doi.org/10.1080/13674676.2016.1207160

Loewenthal, K. (2009). Religion, Culture and Mental Health. Cambridge: Cambridge University Press. https://doi.org/10.1017/CBO9780511490125

Lorona, R. T. & Mancuso E. K. (2023). The Scientific Study of Life Satisfaction and Religion/Spirituality. In E.B. Davis, E. L. Worthington Jr. & S.A. Schnitker (Hrsg.). Handbook of Positive Psychology, Religion, and Spirituality. Schweiz: Springer https://doi.org/10.1007/978-3-031-10274-5

Miller-Perrin, C. & Mancuso, E. K. (2015). Faith from a Positive Psychology Perspective. Heidelberg: Springer.

Pickel, G. (2011). Religionssoziologie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Shiah, Y.‑J., Chang, F., Chiang, S.‑K., Lin, I.‑M.  & Tam, W.‑C. C. (2015). Religion and health: Anxiety, religiosity, meaning of life and mental health. Journal of Religion and Health, 54(1), S. 35–45. https://doi.org/10.1007/s10943-013-9781-3

Suhr, F. (2021). 38 Prozent der Deutschen sind gläubig. Zugriff am 12.03.2023. Verfügbar unter https://de.statista.com/infografik/24308/anteil-der-befragten-in-deutschland-die-sich-als-glaeubig-bezeichnen/

Bildquelle

Titelbild: Myriams-Fotos (2016). Abgerufen am 08.03.2023. Verfügbar unter https://pixabay.com/photos/hands-open-candle-candlelight-1926414/

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