Warum 40 Millisekunden zählen
Der erste Eindruck entsteht schneller, als wir sprechen können. Studien zeigen: Binnen eines Augenaufschlags (ca. 40 ms) taxieren wir die Blickhaltung als „oben“ oder „unten“ im Machtgefüge – ein Reflex, der sich vor allem am Auftreten und sichtbaren Statussignalen festmacht. Genau deshalb ist Kleidung im Unternehmensalltag kein Nebenschauplatz, sondern ein prominentes Handlungsfeld der Macht. Sie kommuniziert, wer wir sind, zu welcher Gruppe wir gehören – und welchen Einfluss wir beanspruchen. Oder, mit Watzlawick: Man kann nicht nicht kommunizieren. Kleidung ist gelebte Kommunikation (Rösler, 2025, S.95-98; Breyer-Mayländer, 2020, S.81-82).
Mode ist Medium – und Macht
Aus kulturwissenschaftlicher Sicht besitzt Mode Medialität: Sie transportiert Codes zwischen Ästhetik und Ordnungsvorstellungen – wer sie lesen kann, erkennt früh, welche Rollenbilder an Einfluss gewinnen – auch im beruflichen Kontext (Breyer-Mayländer, 2020, S.82).
Berufskleidung: Zugehörigkeit, Kompetenz, Autorität
Im Machtkontext markiert Kleidung Zugehörigkeit. Arbeitskleidung stiftet Identität und verbindet Funktion/Nützlichkeit mit Aufmachung/Wirkung. Psychologisch ist sie mehr als Stoff: Anziehen heißt auch eine soziale Rolle anziehen – nicht umsonst spricht die Literatur von der „zweiten Haut“. Weil Expertise oft schwer zu prüfen ist, übernehmen sichtbare Marker – Robe, Kittel, Uniform, auch standardisierte Business-Formate – die Zuordnung und stützen die Kompetenzvermutung. Zugleich haben Branchen und Disziplinen eigene, bis in Hierarchien lesbare Codes; wer sie kennt, kann Zugehörigkeit gezielt signalisieren – oder bewusst brechen (Etzel, 2019, S.133-137; Breyer-Mayländer, 2020, S.82-84).
Kleidung stiftet Rolle – und schafft (oder mindert) Macht
Macht wird zugeschrieben – entscheidend ist, in welche Gruppe wir einsortiert werden. Wer die „Sprache“ des legitimen Stils beherrscht, erleichtert sich Zugang zu Gremien, Netzwerken und Ressourcen; demonstratives Anderssein wird zur Hürde, wenn es nicht durch Leistung und Rolle gedeckt ist (Breyer-Mayländer, 2020, S.83-84).
Elitenrekrutierung: Parkettsicherheit schlägt Zeugnisnotenschnitt
Ein unbequemer, aber empirisch robuster Befund aus der Elitenforschung: In der Auswahl wirtschaftlicher Führungskräfte wiegen Kleidungs- und Benimmcodes, breite Allgemeinbildung und Souveränität oft mehr als reine Leistungsnachweise. Kleidung ist mehr als ein Abbild von Einfluss – sie wirkt als Instrument der Einflussnahme (Breyer-Mayländer, 2020, S.84).
Zwischen Hoodie und Hosenanzug: Die neue Symbolik der Lässigkeit
Mit der Digitalisierung verschieben sich Zeichen. Vorstände inszenieren sich „agiler“: Jeans, Sneaker, Hoodie – als Emblem für Kundennähe, Innovationsspeed, Augenhöhe. Das funktioniert jedoch nur anlassbezogen und rollenadäquat. Regelbrüche tragen nur, wenn die eigene Autorität unstrittig ist: Auf der Top-Ebene kann der Hoodie gezielt Wandel signalisieren; weiter unten wirkt dasselbe schnell respektlos oder unprofessionell. Besonders heikel ist die Lage im mittleren Management: Früher stand die Krawatte für Aufstieg. Heute verzichten viele Spitzenkräfte darauf, um „digital“ zu wirken – damit kippt das Signal. Mit Krawatte droht man altmodisch zu erscheinen, ohne Krawatte wirkt man leicht underdressed. Ergebnis: Unsicherheit, welcher Code in welcher Runde zählt (Etzel, 2019, S.134; Breyer-Mayländer, 2020, S.85-87).
Praxis (Audi, 2019): Als Audi-CEO Bram Schot dem Manager Magazin ein Interview gab, erschien er im schwarzen Langarm-Poloshirt bzw. in einer sportlichen Steppjacke. Die Bildzeile („Sportjacke statt Sakko, Poloshirt statt Manschettenknöpfe“ (Breyer-Mayländer, 2020, S.92) rahmte die Botschaft: weniger Formalität, entschlossener Kurs, neue Umgangsformen. Das zeigt, wie eine bewusst gewählte Abweichung die Agenda einer Führungskraft stützen kann – wenn Rolle und Kontext das Signal tragen (Breyer-Mayländer, 2020, S.92).
Genderperspektive: Codes sind (noch) maskulin geprägt
Kleidungs- und Auftrittsrituale vieler Organisationen sind männlich codiert. Der Hosenanzug wurde für Frauen zum funktionalen Äquivalent des „klassischen“ Statusoutfits – nicht aus Mode-, sondern aus Machtgründen. Entscheidend bleibt: Authentizität ja, aber nur innerhalb der wirksamen Symbole der jeweiligen Kultur. Der Dresscode erzählt – glaubwürdig wird er erst mit passendem Verhalten (Breyer-Mayländer, 2020, S.88).
Chancen, Risiken, Grenzen
Richtig eingesetzt kann Kleidung Kulturwandel sichtbar stützen (etwa als „kultivierte Lässigkeit“), Zugehörigkeit erzeugen und heikle Situationen deeskalieren, wenn Teams sich auf einen gemeinsamen Auftritt einigen; zugleich schärft ein konsistenter, anlassgerechter Stil die persönliche Marke nachhaltiger als laute Einzelstatements. Risiken liegen in Fehllesungen der Erwartung (over/underdressed), in vorschnellen Zuschreibungen gegenüber anderen („Schubladendenken“) sowie in micromanagenden Eingriffen, die den Stil des Teams zu stark normieren. Und die Grenze ist klar: Stil ersetzt keine Substanz – teures Tuch kompensiert keine Leistung, und Understatement trägt nur, wenn Rang und Resultate es stützen (Breyer-Mayländer, 2020, S.89-90).
Konkrete Leitlinien für die Praxis (Breyer-Mayländer, 2020, S.91-92).
- Konventionen kennen: Verschaff dir zuerst einen Überblick über die Stilregeln deiner Branche – erst danach triffst du bewusste Entscheidungen fürs Mitgehen oder Abweichen.
- Gezielt brechen: Ein Regelbruch ist nur dann stark, wenn er beabsichtigt, verständlich und abgesichert ist – sonst verpufft er oder schadet.
- Eine Stufe darüber: Zu wichtigen Anlässen wirkt eine Spur formeller als erwartet respektvoll und hebt deine Autorität.
- Zusammenhalt zeigen: Wenn Einheit gefragt ist, muss die Kleidung das auch senden – sonst entstehen ungewollte Hierarchiesignale.
- Eigenen Stil führen: Entwickle einen konsistenten Stil, der zu Person, Rolle und Werten passt – das erhöht Wiedererkennbarkeit, Reputation und Netzwerkzugang.
- Bewährt auftreten: Für heikle Termine trägst du erprobte Outfits, in denen du dich sichtbar wohlfühlst – das schafft Ruhe und Souveränität.
- Team koordinieren: Bei gemeinsamen Auftritten stimmt ihr euch ab, damit ihr als geschlossene Einheit wahrgenommen werdet.
- Qualität einplanen: Die sichtbare Wertigkeit der Kleidung beeinflusst Machtwahrnehmungen – plane deine Garderobe daher wie eine Ressource mit.
- Machtbalance beachten: Lass hierarchisch Übergeordneten ggf. die „wertigere“ Stufe, wenn das die Beziehung entspannt und Signalkonflikte vermeidet.
- Individuell + kulturell: Verbinde persönlichen Stil mit der gelebten „corporate culture„ – so wirkt Kleidung als individuelles Statement und als verbindendes Symbol zugleich.
Fazit
„Authentizität oder Anpassung?“ ist die falsche Alternative. Karrierewirksam ist die kompetente Übersetzung der eigenen Identität in die Codes der Situation. Kleidung wird so zum strategischen Kommunikationsmedium: Sie ordnet uns im Machtgefüge ein, öffnet Räume – oder verschließt sie. Wer die Regeln kennt, kann sie spielen und formen: mal klassisch, mal lässig, immer zielgerichtet. Der Rest ist Handwerk: Rollenverständnis, anlassbezogene Entscheidungen, geübte Routinen – und die Souveränität, Moden zu nutzen, statt von ihnen benutzt zu werden.
Literaturverzeichnis
Rösler, H. (2025), Ganzheitliches Bewerbungscoaching, 2. Aufl., Wiesbaden. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-49039-3
Breyer-Mayländer, T. (2020), Erfolgsfaktor Macht im Management, 1. Aufl., Wiesbaden. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-28567-8
Etzel, S. (2019), Rhetorik für Finanz-Manager, 2. Aufl., Wiesbaden. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-26612-7
Titelbildquelle
Titelbild von Hunters Race veröffentlicht am 11. Oktober 2017 auf https://unsplash.com/de/fotos/person-die-in-der-nahe-der-treppe-steht-MYbhN8KaaEc
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