By Published On: 31. Januar 2024Categories: Psychologie

Wie würde unsere Welt aussehen, gäbe es Emotionen nicht? Ob wir uns die lang vermisste Begegnung zweier sich nahestehender Menschen vorstellen oder den Abschied eines verstorbenen Freundes. Eine Welt ohne Freude, Trauer oder Wut scheint kaum vorstellbar. Doch nicht alle Menschen erleben und verhalten sich in emotionalen Situationen gleich. Sind es gerade solche Kontexte, aus denen Enttäuschungen und Konflikte resultieren können. Eine mögliche Ursache kann mithilfe des Phänomens „Alexithymie“ erklärt werden, einem klinisch relevanten Persönlichkeitsstils (Terock, van der Auwera, Völzke & Grabe, 2019, S. 263). Nachfolgend wird das Komplex beschrieben, seine Entstehung erklärt sowie auf die Folgen und Möglichkeiten zu Intervention eingegangen werden.  

Wie Emotionen vonstattengehen

Immer dann, wenn Menschen eine bestimmte Situation als bedeutsam wahrnehmen, sind Emotionen im Spiel (Zimbardo, 2008, S. 454). Während diese Emotionen automatisch und meist nonverbal vonstattengehen (Ekman, 2023, S. 63), spielen sich eine ganze Kette von Ereignissen ab, die schließlich einer (Emotions-) Kategorie zugeordnet werden können (Knapp & Miller, 1985, S. 505). Abb. 1 veranschaulicht fünf Elemente des Emotionserlebens: kognitive, physiologische und motivationale Aspekte sowie der Ausdruck und die subjektive Gefühlserfahrung (Eder & Brosch, 2017, S. 189). Die mimischen Ausdrucksweisen dieser Emotionszustände tragen einerseits zum subjektiven Erleben dieser bei und haben gleichzeitig kommunikative Eigenschaften. In diesem Zusammenhang wird die Fähigkeit eigene und fremde Gefühle treffend wahrzunehmen, zu verstehen und zu beeinflussen, als emotionale Intelligenz bezeichnet (Becker-Carus & Wendt, 2017, S. 551). Hierbei wird der Empathie, also der Fähigkeit sich in andere Personen hineinzufühlen, eine bedeutende Rolle zugesprochen (Birbaumer & Schmidt, 2010, S. 731). Diese Einfühlungsgabe ist eng verbunden mit der Fähigkeit eigene Emotionen wahrzunehmen und ausdrücken zu können (Welding, 2020, S. 7). Abb. 2 fasst wichtige Merkmale emotionaler Intelligenz bildlich zusammen.

Abb.1: Komponentenmodell der Emotionen

(Quelle: (Eder & Brosch, 2017, S. 189)

Abb. 2: Wichtige Merkmale Emotionaler Intelligenz

(Bosley & Kasten, 2020b, S. 3)

Warum der Emotionsumgang nicht jedem gleich gut gelingt

Menschen unterscheiden sich im Umgang mit den eigenen und fremden Emotionen. Ein adäquater Umgang ist nicht naturgegeben und muss, vom Säuglingsalter an, erlernt werden (Welding, 2020, S. 1), wobei jeder Mensch im Laufe der Kindheit und Jugend Entwicklungsveränderungen erfährt (Singer, 2006). Das Komplex Alexithymie, das umgangssprachlich als „Gefühlsarmut“ oder „Gefühlsblindheit“ bezeichnet wird (Hoyer & Knappe, 2020, S. 1321) und auch als „das Fehlen von Worten für Gefühle“ übersetzt werden kann (Schreitter von Schwarzenfeld & Tress, 2013, S. 382), kann diesbezüglich als ein Ergebnis misslungener Lernerfahrung gesehen werden. Betroffene, die darin hohe Werte aufweisen sind demnach nicht oder wenig fähig, bei sich oder bei anderen Personen, Gefühle wahrzunehmen sowie adäquat darauf zu reagieren (Martin & Rief, 2020, S. 1208). So gelingt die Benennung, Wiederhabe und Beschreibung von Gefühlen nur mäßig. und es fällt Betroffenen schwer, eigene Gefühle von körperlichen Empfindungen zu unterscheiden (Röhner & Schütz, 2020, S. 69). Bezugnehmend auf Abb. 1 wirkt sich die Einschränkung bei einer physiologischen Emotionserregung folglich auf den Ausdruck (Gestik, Stimme), das subjektive Gefühlserleben (Gefühl bewusst wahrnehmen), die Kognition (Ursachenzuschreibung) sowie Motivation (Handlungsbereitschaft) aus. So wird bspw. Trauer nicht als solche Emotion erkannt und führt folglich nicht zu der Bereitschaft bspw. Trost zu spenden (Beer & Güth, 2019, S. 129)

Die Verbreitung und Entstehung von Alexithymie

Das Konstrukts ist in der deutschen Bevölkerung normalverteilt. Knapp zehn Prozent können einem hoch-alexithymen Bereich zugeordnet werden, wobei Männer etwas häufiger betroffen sein sollen als Frauen  (Franz et al., 2008). Zur Ätiologie werden verschiedene Faktoren, wie genetische Veranlagung, ein dysfunktionaler elterlicher Erziehungsstil sowie emotionale und physische Vernachlässigung, diskutiert (Terock et al., 2019, S. 264–270). Bindungstheoretische Erklärungsversuche gehen davon aus, dass es der Bezugsperson nicht gelungen ist, einfühlsam, prompt und teilnehmend spiegelnd auf die Bedürfnisse des Säuglings zu reagieren, da das im emotionalen Kommunikationsprozess gezeigte Affektverhalten des Kindes nicht adäquat entschlüsselt wurde. In der Folge resultierten bleibende Veränderungen im kindlichen Gehirn, was sich entwicklungspsychologisch in der mangelhaften bis fehlenden Mentalisierungsfähigkeit niederschlägt. So kann das Kind ohne die symbolische Repräsentation eigene oder fremde emotionale Impulse nicht erkennen, tolerieren und interpretieren (Schreitter von Schwarzenfeld & Tress, 2013, S. 380–383). 

Warum ein gesunder Umgang mit den eigenen und fremden Emotionen wichtig sein kann und die Folgen von Alexithymie

Emotionale Fähigkeiten verhelfen in allen Lebensbereichen zum Erfolg, machen sie Menschen oft glücklicher, selbstbewusster und kompetenter (Bosley & Kasten, 2020b, S. 2). Zwar verursacht die Einschränkung Alexithymie bei den Betroffenen selbst keine direkten körperlichen Folgen, jedoch wird das Phänomen als Vulnerabilitätsfaktor in Zusammenhang mit verschiedenen psychosomatischen Krankheitsbildern gebracht. Erklärt werden sie dadurch, dass der reduzierte Emotionsausdruck mit erhöhter Aufmerksamkeitslenkung auf somatische Aspekte von Gefühlen einhergeht (Martin & Rief, 2020, S. 1208).

Für nahe Angehörige kann die Einschränkung als sehr belastend erlebt werden. So sind es insbesondere emotionale Situationen, in denen sich Menschen von Freunden, dem/der Partner*in oder den Eltern nach Verständnis, Mitgefühl und Liebe sehnen. Wird dieses Bedürfnis andauernd vernachlässigt, führt dies zu Irritationen, Konflikten und geht entsprechend mit Stresserleben aller Beteiligten einher (AOK, 2021). Trennen sich Paare schließlich voneinander, so kann sich dies nicht nur negativ auf das Wohlbefinden der Partner auswirken. Insbesondere Kinder leiden im Rahmen Ihrer Entwicklung an den Folgen des inadäquaten Emotionsumgangs, hängt ihre eigene emotionale und folglich soziale Kompetenzentwicklung vom familiären Umfeld ab (Bosley & Kasten, 2020a, S. 24).

Was können Alexithymie-Betroffene und Angehörige tun?

Der Umgang mit den eigenen Gefühlen kann entwickelt werden (Bosley & Kasten, 2020b, S. 18). Spezifische Trainings, wie erlebnisorientierte Gruppentherapien, erwiesen sich für alexithyme Personen als hilfreich. Das Training Emotionaler Kompetenz (TEK) nach Berking zielt darauf ab, Defizite der Emotionsregulation zu beeinflussen (Berking & Schwarz, 2013, S. 38–41). Für Angehörige kann allein die Information darüber, dass es sich bei diesem Phänomen nicht um eine böse Absicht oder Gleichgültigkeit der Betroffenen handelt, sondern eine Störung dahintersteckt, Verständnis für die Betroffenen hervorrufen sowie die Bereitschaft zur Hilfestellung im Umgang mit emotional herausfordernden Situationen, was sich positiv auf alle Beteiligten auswirken kann.

Zusammenfassung und Fazit

Emotionen sind komplex, ein gesunder Umgang mit ihnen ist nicht naturgegeben und bedarf eines Lernprozesses, welchen nicht jeder Mensch gleich erfolgreich absolviert. Jede*r zehnte Deutsche ist als hoch-alexithym einzustufen, d.h. eingeschränkt in der Wahrnehmung und im Umgang mit eigenen und demzufolge auch mit fremden Emotionen, was multifaktoriell erklärt werden kann (Terock et al., 2019, S. 263). In der Folge leiden Betroffene indirekt an den unerklärlichen somatoformen Auffälligkeiten und Angehörige direkt an der Einschränkung, da emotionales Situationserleben auf eine chronisch inadäquate Reaktion stößt. Die Aufklärung über die dahinterliegenden Prozesse und Ursachen dieser Einschränkung können allen Beteiligten wertvolle Hilfestellung leisten. So können spezifische emotionsfokussierte Unterstützungsangebote aufgesucht werden, um den Zugang zu den eigenen Emotionen und den Umgang damit zu erlernen. Zudem kann dieses Wissen missinterpretierte Annahmen im Konfliktkontext aufklären und Verständnis für die Betroffenen bei Angehörigen auslösen. Daraus kann auch die Bereitschaft zur Hilfestellung im Umgang mit emotionalen Situationen erwachsen, was sich auf alle Beteiligten positiv auswirken kann.

Abbildungsverzeichnis

Titelbild: Emotion Woman: https://pixabay.com/de/illustrations/frau-malen-kunst-zeichnung-2196323/

Abb.1: Komponentenmodell der Emotionen; (Quelle: Eder & Brosch, 2017, S. 189)

Abb. 2: Wichtige Merkmale Emotionaler Intelligenz; (Quelle: Bosley & Kasten, 2020b, S. 3)

Literaturverzeichnis

AOK. (2021). Emotionen lassen sich lernen. Alexithymie: Blind für Gefühle. AOK-Medienservice, (02/21), 2–4. Verfügbar unter: https://www.aok-bv.de/imperia/md/aokbv/presse/medienservice/ratgeber/ams_ratgeber_02_2021_web.pdf

Becker-Carus, C. & Wendt, M. (2017). Emotion. In C. Becker-Carus & M. Wendt (Hrsg.), Allgemeine Psychologie (S. 539–568). Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-53006-1_12

Beer, U. & Güth, M. R. (2019). Fühlen macht Sinn. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-57864-3

Berking, M. & Schwarz, J. (2013). Training emotionaler Kompetenzen. InFo Neurologie & Psychiatrie, 15(1), 38–44. https://doi.org/10.1007/s15005-013-0027-4

Birbaumer, N. & Schmidt, R. F. (2010). Emotionen. In N. Birbaumer & R. F. Schmidt (Hrsg.), Biologische Psychologie (Springer-Lehrbuch, S. 711–748). Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-540-95938-0_27

Bosley, I. & Kasten, E. (2020a). Emotionale Intelligenz und die soziale Interaktion. In I. Bosley & E. Kasten (Hrsg.), Emotionale Intelligenz bei Kindern fördern (S. 23–36). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28561-6_2

Bosley, I. & Kasten, E. (2020b). Grundlagen. In I. Bosley & E. Kasten (Hrsg.), Emotionale Intelligenz bei Kindern fördern (S. 1–22). Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28561-6_1

Eder, A. & Brosch, T. (2017). Emotion. In J. Müsseler & M. Rieger (Hrsg.), Allgemeine Psychologie (S. 185–222). Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-53898-8_7

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Knapp, M. L. & Miller, G. R. (1985). Handbook of interpersonal communication (1st). Thousand Oaks: Sage.

Martin, A. & Rief, W. (2020). Somatoforme Störungen. In J. Hoyer & S. Knappe (Hrsg.), Klinische Psychologie & Psychotherapie (S. 1199–1219). Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-61814-1_53

Röhner, J. & Schütz, A. (2020). Ein integratives Kommunikationsmodell nach Hargie und Kollegen. In J. Röhner & A. Schütz (Hrsg.), Psychologie der Kommunikation (Basiswissen Psychologie, S. 53–87). Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-61338-2_3

Schreitter von Schwarzenfeld, J. & Tress, W. (2013). Einschränkungen der Willensfreiheit bei somatoformen Störungen. Psychotherapeut, 58(4), 379–387. https://doi.org/10.1007/s00278-013-0975-7

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Terock, J., van der Auwera, S., Völzke, H. & Grabe, H. J. (2019). Alexithymer Patient. Psychotherapeut, 64(4), 263–271. https://doi.org/10.1007/s00278-019-0363-z

Welding, C. (2020). Emotionale Prosodie und Alexithymie. Produktion und Rezeption von emotionaler Prosodie bei hoch- und niedrig-alexithymen Sprechern. Dissertation. Freie Universität Berlin, Berlin. Verfügbar unter: https://refubium.fu-berlin.de/bitstream/handle/fub188/28175/Dissertation_Welding.pdf?sequence=3

Zimbardo, P. G. (2008). Psychologie (18., akt. Aufl.) [München]: Addison-Wesley.

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