Früher hatte ich oft Einschlafprobleme. Um besser einschlafen zu können, habe ich alles Mögliche versucht: Entspannungsübungen, Meditation, Einschlafmusik. Eine Sache habe ich nie verstanden: Schäfchen zählen. Wie soll mir das denn beim Einschlafen helfen? Bis mir irgendwann bewusst wurde, dass Ausdrücke wie „Schäfchen zählen“, „ein Bild vor Augen haben“ oder „sich x vorstellen“ nicht metaphorisch gemeint sind, sondern Menschen wirklich Bilder vor ihrem geistigen Auge sehen.
Was ist Aphantasie eigentlich genau?
Aphantasie ist die eingeschränkte oder fehlende Fähigkeit, willentlich mentale Bilder zu erzeugen: einige Personen sehen anstelle von klaren, deutlichen Bildern nur undeutliche oder schemenhafte Bilder, andere sehen gar keine. Der Übergang zu einer normalen Vorstellungskraft ist fließend, genauso wie zu der besonders ausgeprägten Vorstellungskraft, der Hyperphantasie. Was interessant ist: einige Betroffene von Aphantasie können dennoch in visuellen Bildern träumen (Aphantasia Network, 2025).
Geprägt wurde der Begriff Aphantasie vom britischen Neurologen Adam Zenman, der einen Patienten untersuchte, der sein bildliches Vorstellungsvermögen nach einer Operation verloren hatte. Später wurde dann in Studien festgestellt, dass Aphantasie auch angeboren sein kann. Ungefähr 4 % aller Menschen haben ein stark eingeschränktes visuelles Vorstellungsvermögen, das teilweise auch als Hypophantasie beschrieben wird, und bei etwa 0,8 % der Menschen fehlt das visuelle Vorstellungsvermögen vollständig (Dance, Ipser & Simner, 2022). In der Literatur werden die beiden Gruppen meist zusammengefasst.
Weil Aphantasie als Forschungsthema noch relativ jung ist, konnte die Ursache dafür noch nicht vollständig geklärt werden. Aktuell wird untersucht, welche neuronalen und kognitiven Mechanismen dafür verantwortlich sind, wobei unklar ist, ob eine Störung des Systems vorliegt, das visuelle Bilder erzeugt, oder ob das System betroffen ist, durch das die Bilder ins Bewusstsein gebracht werden (Blomkvist & Marks, 2023, S. 224).
Um eine Aphantasie festzustellen, wird aktuell meist das sogenannte Vividness of Visual Imagery Questionnaire (VVIQ) verwendet, in dem die Proband:innen aufgefordert werden, visuelle Bilder zu formen (Blomkvist, 2023, S. 869). Wichtig zu sagen ist: Aphantasie ist keine Krankheit oder Störung, sie ist eher eine andere Art zu denken.
Auswirkungen der Aphantasie
Wie bei den meisten neurokognitiven Besonderheiten bestehen auch bei der Aphantasie Auswirkungen auf das tägliche Leben.
Zu den eher einschränkenden Eigenschaften der Aphantasie gehört es, dass das autobiografische Gedächtnis betroffen ist. Erinnerungen und die Art wie sie gespeichert und abgerufen werden sind bei Aphantasiker:innen anders als bei Personen mit (besser) funktionierender visueller Vorstellungskraft. Dadurch ist es für Personen mit Aphantasie zum Beispiel schwieriger, sich detailliert an vergangene Ereignisse zu erinnern (Dawes, Keogh, Robuck & Pearson, 2022, S. 2496).
Ein weiterer Punkt ist die Empathie. Dazu wurde in Studien die empathische Reaktion von Personen mit und ohne Aphantasie verglichen. In einem Teil der Studie wurde den Teilnehmer:innen verbales Material vorgelegt, wobei Aphantasiker:innen deutlich niedrigere Empathie-Werte zeigten als die Kontrollgruppe. Bei visuellem Material fiel der Unterschied weg, und in beiden Gruppen traten sehr ähnlicher Werte auf. Das deutet darauf hin, dass das Empathie-Empfinden mit Bildern verknüpft sind, die bei Aphantasiker:innen eben fehlen, wenn sie etwas nur hören (Monzel, Keidel & Reuter, 2023). Wie sich die Aphantasie tatsächlich auf das Leben auswirkt, ist natürlich sehr individuell.
Meine Art zu denken
Ich habe erst vor wenigen Jahren zum ersten Mal von der Aphantasie gehört. Als ich einen Text darüber gelesen habe, dachte ich erst mal „Warte, was soll das bedeuten, Menschen können Bilder in ihrem Kopf sehen??“. Das hat für mich absolut keinen Sinn ergeben. Und auch heute, nachdem ich viel mehr über das Thema weiß und auch mit Nicht-Aphantasiker:innen darüber gesprochen habe, ist es für mich immer noch unbegreiflich, genauso wie es für sie unbegreiflich ist, dass ich mir nichts bildlich vorstellen kann.
Wenn ich die Augen schließe, ist da nur schwarz, und das war schon mein ganzes Leben lang so. Und natürlich: weil die Fähigkeit, mentale Bilder zu erzeugen bei mir nicht vorhanden ist, bin ich nie auf die Idee gekommen, dass das bei anderen Menschen nicht so ist, das wäre mir niemals in den Sinn gekommen.
Umgekehrt geht es natürlich den Menschen in meinem Umfeld, die über eine bildhafte Vorstellung verfügen, genauso. Für sie ist die Vorstellung ohne mentale Bilder zu denken, zuerst sehr rätselhaft. Nach langen Gesprächen über das Thema ist uns klar geworden, dass unsere Denkprozesse in einigen Aspekten grundverschieden sind. Ich beschreibe anderen meine Art, mir Dinge „vorzustellen“ meistens so: Wenn ich zum Beispiel an einen Ball denke, dann ist das Konzept vollständig da. Ich weiß, wie der Ball aussieht, denke an die Farben, das Material und so weiter. Nur das dazugehörige Bild bleibt unsichtbar – es ist so, als wäre auf einem Computer das Bild eines Balles geladen, aber der Monitor bleibt aus. Genau so fühlt es sich in meinem Kopf aus: das Bild ist irgendwo im System, ich kann es nur nicht sehen, der Monitor ist schwarz. Meine Träume sind aber, wie bei den meisten Menschen, visuell.

Quelle: eigene Aufnahme
Empathie und autobiografisches Gedächtnis
Wenn ich Erkenntnisse aus Studien zur Aphantasie lese, erkenne ich mich in vielem wieder, auch wenn ich natürlich nicht mit Sicherheit weiß, ob die Punkte wirklich nur von der Aphantasie verursacht sind.
Mein autobiografisches Gedächtnis ist zum Beispiel wirklich sehr schlecht, an Dinge und Erlebnisse aus meiner Kindheit kann ich mich nur kaum erinnern, auch die zeitliche Einordnung von Ereignissen der Vergangenheit fällt mir sehr schwer. Was die Empathie angeht, würde ich sagen ich bin ein sehr empathischer und einfühlsamer Mensch. Aber trotzdem: wenn ich etwas Trauriges sehe, zum Beispiel in einem Film, nimmt mich das deutlich stärker mit, als wenn ich es zum Beispiel lese.
Fazit
Herauszufinden, dass andere Menschen sich Dinge bildlich vorstellen können und ich nicht, hat mich erstmal sehr traurig gemacht. Ich hatte lange das Gefühl, als würde ich etwas verpassen, das schön ist und Spaß macht. Mittlerweile weiß ich, dass Aphantasie nicht nur schlechte Seiten hat, und Bilder vor dem inneren Auge nicht immer positiv sind. Ich sehe die Aphantasie auch nicht mehr als das Fehlen einer Fähigkeit, sondern mehr als eine besondere Denkweise. Außerdem habe ich dadurch neue Erkenntnisse gewonnen und mich selbst ein bisschen besser kennengelernt. Und letzten Endes ist das etwas Gutes.
Literaturverzeichnis
Aphantasia Network. (2025, 13. November). Dreams – Aphantasia Topics, Aphantasia Network. Verfügbar unter: https://aphantasia.com/topic/dreams
Blomkvist, A. (2023). Aphantasia: In search of a theory. Mind & Language, 38(3), 866–888. https://doi.org/10.1111/mila.12432
Blomkvist, A. & Marks, D. F. (2023). Defining and ‚diagnosing‘ aphantasia: Condition or individual difference? Cortex; a Journal Devoted to the Study of the Nervous System and Behavior, 169, 220–234. https://doi.org/10.1016/j.cortex.2023.09.004
Dance, C. J., Ipser, A. & Simner, J. (2022). The prevalence of aphantasia (imagery weakness) in the general population. Consciousness and Cognition, 97, 103243. https://doi.org/10.1016/j.concog.2021.103243
Dawes, A. J., Keogh, R., Robuck, S. & Pearson, J. (2022). Memories with a blind mind: Remembering the past and imagining the future with aphantasia. Cognition, 227, 105192. https://doi.org/10.1016/j.cognition.2022.105192
Monzel, M., Keidel, K. & Reuter, M. (2023). Is it really empathy? The potentially confounding role of mental imagery in self-reports of empathy. Journal of Research in Personality, 103, 104354. https://doi.org/10.1016/j.jrp.2023.104354
Bildquellen
Titelbild: https://pixabay.com/illustrations/brain-mind-psychology-idea-drawing-2062057/ (ElisaRiva, 2017)
Beitragsbild: eigene Aufnahme






