By Published On: 28. August 2025Categories: Gesundheit

Das Gehirn ist eines der komplexesten Organe des menschlichen Körpers. Es agiert als Steuerzentrale für alles, was wir tun, denken und fühlen. Lange Zeit galt es als statisch: Einmal geformt, würden seine Strukturen und Funktionen unverändert bleiben. Doch die Forschung der letzten Jahrzehnte hat gezeigt, dass das Gehirn in Wirklichkeit bemerkenswert anpassungsfähig bzw. plastisch ist. Dieser Anpassungsprozess, bekannt als Neuroplastizität, wird als fundamentaler Mechanismus für Lernerfahrungen gesehen.

Was ist Neuroplastizität?

Neuroplastizität ist die Fähigkeit des Gehirns, seine Struktur und Funktion in Reaktion auf Erfahrungen, Lernen und sogar Verletzungen zu verändern. Dies bedeutet, dass Neuronen – die Bausteine des Nervensystems – neue Verbindungen herstellen, vorhandene Verbindungen stärken oder schwächen und in einigen Fällen sogar neue Neuronen generieren können. Diese Anpassungsfähigkeit ermöglicht es uns, neue Fähigkeiten zu erlernen, Erinnerungen zu bilden und uns von Hirnverletzungen zu erholen. In metaphorischen Begriffen kann man sich das Gehirn als eine Stadt vorstellen, in der Neuronen wie Straßen und neue Erfahrungen als Architekten fungieren. Durch Erfahrungen und Lernen können neue Straßen gebaut, bestehende verbreitert oder sogar ganze Stadtteile umstrukturiert werden. Es existieren zwei Haupttypen der Neuroplastizität: strukturelle und funktionelle. Strukturelle Neuroplastizität bezieht sich auf physische Veränderungen im Gehirn, wie die Bildung neuer Synapsen, die anatomische Vergrößerung oder die Umstrukturierung bestehender neuronaler Netzwerke. Funktionelle Neuroplastizität hingegen beschreibt Veränderungen in der Art und Weise, wie Informationen durch das Gehirn fließen, oft als Reaktion auf neue Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten (Jäncke & Pieper, 2020).

Neuroplastizität in Aktion

Bereits in den 1940er Jahren postulierte der Psychologe Donald Hebb die sogenannte Hebbsche Lernregel, die besagt, dass synaptische Verbindungen zwischen Nervenzellen gestärkt werden, wenn die beteiligten Zellen gleichzeitig aktiviert werden. Dies geschieht durch synaptische Plastizität, bei der die Synapsen, also die Verbindungsstellen zwischen Neuronen, sich verändern. Jedes Mal, wenn wir etwas Neues lernen – sei es eine Sprache, ein Musikinstrument oder eine neue Fertigkeit – werden spezifische neuronale Pfade aktiviert und Synapsen gestärkt. Durch Wiederholung und Übung werden diese Pfade effizienter, was zu einer verbesserten Leistung führt. Es werden zwei Formen der synaptischen Plastizität unterschieden: Langzeitpotenzierung (LTP) und Langzeitdepression (LTD). LTP stärkt die Synapsen, während LTD sie schwächt (Elbert & Rockstroh, 2012, S. 722). Neuroplastizität kann sogar noch einen Schritt weiter gehen, denn das Gehirn kann sich unter Umständen durch die Bildung neuer Gehirnzellen (Neurogenese) selbst reparieren (Myers, 2014, S. 80).

Ein beeindruckendes wie profanes Beispiel für Neuroplastizität ist die Erholung nach einem Schlaganfall. Nach einer solchen Verletzung sind alte Pfade beschädigt und das Gehirn kann neue Wege finden, um Funktionen wiederherzustellen, die durch die geschädigten Bereiche verloren gegangen sind. Das Gehirn kompensiert und reorganisiert sich, indem andere Hirnbereiche die geschädigten Regionen unterstützen. Durch intensive Rehabilitation können andere Teile des Gehirns lernen, Aufgaben zu übernehmen, die zuvor von den beschädigten Bereichen ausgeführt wurden. Dies zeigt die bemerkenswerte Fähigkeit des Gehirns zur Anpassung und Selbstheilung. Darüber hinaus verdeutlicht es, dass kognitive Funktionen nicht strikt an spezifische Gehirnregionen gebunden sind (Myers, 2014, S. 80).

Neuroplastizität: Praktische Anwendungen und Herausforderungen

Es wurde lange angenommen, dass die Fähigkeit des Gehirns zur Plastizität mit dem Alter abnimmt. Tatsächlich bestätigen neuere Studien, dass das Gehirn bis ins hohe Alter plastisch bleibt. Ältere Erwachsene können weiterhin neue Fähigkeiten erlernen und neuronale Verbindungen stärken, was ihre kognitive Reserve erhöhen kann. Kognitive Reserve bezieht sich auf die Fähigkeit des Gehirns, trotz altersbedingter Veränderungen oder Schäden effektiv zu funktionieren und plastischer zu sein. Aktivitäten wie geistige Übungen, soziale Interaktionen und körperliche Bewegung wurden alle mit einer erhöhten Neuroplastizität und Neurogenese in Verbindung gebracht. Diese Aktivitäten in Kombination mit einer fett- und zuckerarmen Ernährung können helfen, das Risiko neurodegenerativer Erkrankungen zu verringern, die allgemeine kognitive Gesundheit zu fördern und eine gute Lebensqualität zu erhalten (Crăciun, 2023, S. 122-128).

Dennoch sind nicht alle Formen der Plastizität positiv. Zum Beispiel kann das Gehirn auch maladaptive Muster entwickeln, wie bei chronischen Schmerzen („Schmerzgedächtnis“) oder Suchtverhalten. Hierbei werden neuronale Pfade gestärkt, die negative oder schädliche Verhaltensweisen fördern. So kann der ursprüngliche Beweggrund für den Schmerz zwar behoben worden sein, das Schmerzempfinden kann jedoch aufgrund der neuronalen Veränderungen bestehen bleiben. Das Verständnis dieser Prozesse ist entscheidend, um wirksame Behandlungsstrategien zu entwickeln, denn durch gezielte Interventionen kann bspw. eine Schmerzdesensibilisierung erreicht werden (Schröger & Hartwigsen, 2024, S. 35).

Fazit

Die Entdeckung der Neuroplastizität hat das Verständnis des menschlichen Gehirns revolutioniert. Sie zeigt, dass das Gehirn ein dynamisches System ist, das sich bis ins hohe Alter an neue Herausforderungen anpassen, entwickeln und reorganisieren kann. Diese Fähigkeit zur erfahrungs- bzw. nutzungsabhängigen Veränderung beeinflusst die Entwicklung der modernen Neurowissenschaften erheblich und ist grundlegend für das Verständnis von Lernen und Gedächtnis.
Neuroplastizität eröffnet neue Möglichkeiten für die Behandlung neurologischer Erkrankungen und liefert spannende Erkenntnisse für das lebenslange Lernen. Indem wir die Prinzipien der Neuroplastizität besser verstehen, können wir nicht nur unser eigenes Gehirn gesund halten, sondern auch die Lebensqualität von Menschen weltweit verbessern. Vorstellbar ist auch, dass es künftig Stammzelleninjektionen oder Medikamente geben wird, die zerstörte Gehirnzellen ersetzen respektive deren Neubildung anregen (Myers, 2014, S. 82). Bis dahin ist es empfehlenswert, auf die natürlichen Neuro-Booster: Sport, Schlaf und eine fett- sowie zuckerarme Ernährung zurückzugreifen.

Literaturverzeichnis

Crăciun, I. C. (2023). Kognitive Entwicklung im mittleren und höheren Alter: Von der Neuroplastizität zur Selbstwirksamkeit und positiven Sicht auf das Altern. In Förderung der Entwicklung im mittleren und höheren Lebensalter (S. 115-151). Berlin Heidelberg: Springer-Verlag.

Elbert, T., & Rockstroh, B. (2012). Kortikale Reorganisation. In H.-O. Karnath, & P. Thier, Kognitive Neurowissenschaften (S. 719-729). Berlin Heidelberg: Springer-Verlag.

Jäncke, L., & Pieper, M. (2020). Plastizität. In Dorsch – Lexikon der Psychologie (19. Aufl., S. 1364). Bern: Hogrefe-Verlag.

Myers, D. G. (2014). Neurowissenschaft und Verhalten. In D. G. Myers, Psychologie (3. Aufl., S. 49-88). Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag.

Schröger, E., & Hartwigsen, G. (2024). Biologische Psychologie – Ein Überblick für Psychologiestudierende und – interessierte. (T. Strobach, Hrsg.) Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag.

Titelbildquelle

mirerek8. (30. August 2023). ai-generiert-neuronen-gehirn-geist. Abgerufen am 16. Juli 2025 von Pexels: https://pixabay.com/de/illustrations/ai-generiert-neuronen-gehirn-geist-8221926/

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