By Published On: 16. Juni 2025Categories: Psychologie

 
In der Pädagogik, sowie in der Psychologie und Medizin gibt es verschiedene Sichtweisen auf Autismus. Welche Paradigmen, Ansichten und Denkweisen es gibt, wird in diesem Artikel erklärt. Die rein klinische Sichtweise auf Autismus wird kritisch betrachtet und ein Einblick in die Neurodiversität gegeben.

Was ist Autismus?

Laut dem ICD-10 ist Autismus eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Der klinisch-medizinische Blick sieht in diesem Krankheitsmodell Beschwerden im Erleben, Denken und Verhalten betroffener Personen. Verschiedene Ausführungen der neurobiologischen Defizite und unterschiedliche psychosoziale Einflüsse finden sich in unterschiedlichen Arten der Autismus-Spektrum-Störung wieder. Die neurodiversitätsorientierte Beschreibung des Autismus-Spektrums ist eine Vielfalt von autistischen Erlebens-, Denk- und Verhaltensweisen. Das Autismus-Spektrum gilt als natürliche Lebensvariante und nicht als Störung (Zentrum für Diagnostik und Therapie von Autismus-Spektrum-Störungen, 2025; Spektrum,2025).

 
Was ist Neurodiversität?

Neurodiversität ist eine Theorieperspektive, die sich auf neuronale Unterschiede stützt und diese Unterschiede als natürliche Versionen verschiedener menschlicher Nervenverbindungen sieht. Neurodiversität schließt alle Menschen ein und zeigt deren Vielfalt. Hirnstrukturen und Nervenbahnen sind individuell von Mensch zu Mensch. Der Begriff „Neurodiversität“ bezieht sich immer auf eine Gruppe, ein Individuum ist „neurodivergent“. Neurodivergente Menschen haben eine abweichende Wahrnehmungs- und Handlungsweise von einem dominanten gesellschaftlichen Standard, der Neurotypik (Hurtig-Bohn, 2025, S. 145; Lindmeier, et al., 2023, S. 11f.).

Neurodiversität ist ein soziologischer und identitätspolitischer Begriff. In der folgenden Gegenüberstellung zweier Paradigmen wird sich vor Allem auf den Autismus als Neurodivergenz bezogen, da dieser das ganze Wesen eines Menschen ausmacht (Lindmeier, et al., 2023, S. 13).

Das Pathologie-Paradigma

Im Pathologie-Paradigma werden Neurodivergenzen als Abweichungen von einer neurologischen Norm gesehen. Diese neurologische Normalität wird jedoch nicht näher definiert. Personen werden somit in „normal“ und in „nicht-normal“ unterteilt (Lindmeier, et al., 2023, S. 14). Das Pathologie-Paradigma unterstützt Methoden und Angebote, welche Autist*innen helfen soll, sich anzupassen und ihre autistische Wahrnehmung sowie Handlung abzuschwächen (Lindmeier, et al., 2023, S. 17).

Die Behandlungsperspektive sieht Autismus als eine Störung, welche mit Defiziten im Verhalten einhergeht. Diese Defizite stehen zusammen mit dem gestörten Sozialverhalten im Zentrum. Die autismusspezifische Verhaltenstherapie (AVT) und die angewandte Verhaltensanalyse (ABA) zum Beispiel, haben als Ziel Autismus zu behandeln und negativ auffallendes störendes Verhalten zu verhindern (Lindmeier, et al., 2023, S. 33).   

 
Das Neurodiversitäts-Paradigma

Die neurologische Entwicklung und die neurologische Funktion von Menschen werden hier als individuell angesehen. Diese Unterschiede werden als natürlich und wertvoll gewertet und deshalb nicht unbedingt als pathologisch. Die Neurodiversität betrachtet den aktuellen Umgang mit neurodiversen Menschen kritisch, da dieser zum Großteil an medizinischen Schädigungsbildern orientiert ist. Politische Diskurse finden vor allem durch Aktivist*innen statt, die Cyberaktivismus betreiben und online somit leicht sehr viele Menschen erreichen, dies ist vor allem dem Aufschwung der sozialen Medien zu verdanken (Lindmeier, et al., 2023, S. 15f.).

Die Strukturen der Neurodiversität ist denen anderer Diversitätsdimensionen ähnlich, wie z. B. Klasse, Ethnie und Sexualität. Gemein haben sie auch die Diskriminierung und Abwertungserfahrungen und kritisieren deshalb hegemoniale Strukturen. Die Benachteiligungen sind nicht naturgesetzlich, sondern entstehen durch soziale Strukturen. Ebenso ist es zum Teil mit Behinderungserfahrungen, da neurodivergente Menschen den neurotypischen Ansprüchen nicht (immer) gerecht werden können. Doch diese Behinderungserfahrungen können durch Umweltveränderungen und Assistenzen vermieden oder reduziert werden (Lindmeier, et al., 2023, S. 18f.).

Die Neurodiversitätsperspektive distanziert sich von der Defizit-Sichtweise und ist der Meinung, Autismus selbst kann nicht therapiert werden, da er ein fester Bestandteil der autistischen Person und ihres Wesens ist. Die Besonderheiten der Wahrnehmung sind hier der Fokus und es wird nicht versucht ein Verhalten zu „normalisieren“. Es werden Unterstützungsangebote und Interventionen bestärkt, die neurodivergenten Menschen helfen sollen, eine Besserung ihres Wohlbefindens und ihrer Lebensqualität zu erreichen. Ihre Wahrnehmungs- und Handlungsweise wird hierbei nicht als Problem gesehen, sondern unterstützt. Der Aufbau von Coping-Strategien zur Selbstbefähigung und Stressbewältigung werden gefördert (Lindmeier, et al., 2023, S. 17,33f.).

Medikalisierung und Neurodiversität

Medikalisierung meint die Ausweitung medizinischer Begriffe, Praktiken und Diagnosen auf eigentlich alltägliche gesellschaftliche Phänomene (Springer Medizin, 2013).

Grenzveränderungen von Normalisierungen können empirisch nachgewiesen werden. Eine Auflösung der Grenzen zwischen dem Neurotypus und dem Pathologischen ist für eine Normalisierung für neuronale Divergenzen notwendig. Das Kategorisieren von neurologischen Strukturen und Formen ist weiterhin möglich, jedoch sollten diese Einteilungen nicht zwangsläufig als Störungsbild gesehen werden. Außerdem sind das Erkennen und Anerkennen von pathologischen Zuständen in einzelnen Bereichen der Neurodivergenz ebenfalls wichtig und durchführbar. Die Neurodiversität ist auch nicht das Gegenmodell für Diagnoseverfahren, sondern für die ausschließliche Diagnostik (durch Expert*innen). Diagnostiziert zu sein garantiert kein Krankheitsgefühl und ist somit auch nicht problematisch. Die Interpretation der Gesellschaft dieser Diagnose führt oft zu Schwierigkeiten. Da das Verständnis und Bewusstsein über Neurodiversität größer werden, wächst auch das Selbstverständnis der Menschen. Das Selbstverständnis, eventuell auch in Form von „Selbstdiagnosen“ laufen autonom und in Korrelation zu standardisierten Verfahren. Eine Diagnose prägt erst dann die Identität, wenn sich die Person damit auseinandergesetzt hat und sich selbst reflektiert sowie verstanden hat. In diesem Fall ist es auch irrelevant, ob es sich um eine Selbstdiagnose oder eine Diagnose durch standardisierende Verfahren handelt (Lindmeier, et al., 2023, S. 22).    

Fazit

In der Psychologie und der Medizin geht bzw. ging es oft vor Allem um die Ursache, die Diagnose und die Behandlung der Autismus-Spektrum-Störung. Das neue Neurodiversitäts-Paradigma distanziert sich von der pathologischen Denkweise und sieht Autismus als eine natürliche neuronale Variation die Wahrnehmung und Handlungsweise von Menschen betreffen. Ein Perspektivwechsel fordert statt Defizit-Denkweise die Akzeptanz und Unterstützung von Neurodivergenzen. Die meisten Beeinträchtigungen und Behinderungserfahrungen, welche autistische Menschen machen, liegen nicht an dem Autismus selbst, sondern an den sozialen Normen und gesellschaftlichen Strukturen. Wichtig ist also, Inklusion zu schaffen und Barrieren aufzulösen, um neurodivergenten Menschen Unterstützung und Selbstbestimmung zu bieten. Das kritische Betrachten von Medikalisierung und die Normalisierung von Divergenzen sind hierfür notwendig. Autismus kann also als eine Neurodivergenz betrachtet werden, auch wenn es laut ICD-10 noch immer als eine Störung eingestuft wird.

Literaturverzeichnis

Hurtig-Bohn, K. L. (2025). In: Kognitive Vermittlungsstrategien und Möglichkeiten der Simultanerfassung im Kontext Autismus, 1. Auflage, Wiesbaden

Lindmeier, C.; Grummt, M.; Richter, M. (2023). In: Neurodiersität und Autismus, 1. Auflage, Stuttgart

Springer Medizin (2013). Medikalisierung. Abgerufen am 29.04.2025 auf https://www.springermedizin.de/medikalisierung/8286164

Spektrum Lexikon der Psychologie (2025). Autismus. Abgerufen am 29.04.2025 auf https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/autismus/1772

Zentrum für Diagnostik und Therapie von Autismus-Spektrum-Störungen (2025). Neurodiversität oder/und klinische Diagnose. Abgerufen am 29.04.2025 auf https://move-autismus.de/neurodiversitaet-klinische-diagnose/

Titelbildquelle:

Titelbild von Pawel Czerwinski veröffentlicht am 23. April 2021 auf https://unsplash.com/de/fotos/das-wort-autistisch-mit-weissen-buchstaben-auf-schwarzem-hintergrund-geschrieben-aPYBkSc3qaM

Nutzungsbedingungen unter https://unsplash.com/de/lizenz

Teile diesen Artikel