By Published On: 8. April 2016Categories: Gesundheit, Psychologie, Wirtschaft

Die Übergriffe auf Frauen in der Silvesternacht haben in Deutschland eine neue Debatte ausgelöst. Ganz Deutschland war geschockt über das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen. Doch die Vorkommnisse sind kein Einzelfall. Was viele nicht wissen: frauenfeindliche Handlungen finden viel öfter statt als die meisten denken und dies häufig am Arbeitsplatz.

Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) veröffentlichte im März 2014 eine Studie zu Gewalt gegen Frauen. Für die Erhebung wurden 42.000 Frauen in 28 EU-Mitgliedsstaaten befragt. Demnach ist

EU-weit jede zweite Frau (55 %) seit ihrem 15. Lebensjahr mindestens einmal von sexueller Belästigung betroffen.[1]

Damit spiegelt Deutschland den europäischen Durchschnitt wider und die Zahlen, die bereits im Jahre 2004 in einer repräsentativen Umfrage des Bundesministeriums für Familie, Frauen, Senioren, Familie und Jugend (BMFSFJ) erhoben wurden, bestätigen sich: Aus dieser Studie geht hervor, dass deutschlandweit

58 % aller befragten Frauen seit ihrem 16. Lebensjahr mindestens einmal in ihrem Leben sexuelle Belästigung erlebt haben.[2]

Wann handelt es sich um sexuelle Belästigung?

Von sexueller Belästigung spricht man, wenn das Verhalten einer Person (in dem Fall der belästigenden) sexuell geprägt und bei der Zielperson unerwünscht ist, ja sie sogar in ihrer Würde verletzt. Hierbei kann es sich um Einschüchterungen, Anfeindungen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen handeln.[3] Darunter fallen z.B.:

  • unerwünschte sexualisierte Kommentare wie Sprüche oder Witze
  • unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen von pornographischen Darstellungen, z.B. Poster oder Kalender
  • unerwünschte sexualisierte Handlungen wie Nachpfeifen, unsittliches Anstarren, Telefonanrufe, Briefe oder Emails mit abwertenden/obszönen Inhalten, Bildern etc. über Sex, Frauen oder Männer im Allgemeinen oder über Homosexuelle
  • aufdringliche sexuelle Angebote wie „Setz dich auf meinen Schoß!“ oder unerwünschte Einladungen mit sexuellen Absichten
  • unerwünschte sexuell bestimmte Körperkontakte wie (scheinbar zufällige) Berührungen von Brust oder Po oder unerwünschte Nackenmassagen.[4]


Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz

Diese Auflistung zeigt, dass die Definition der sexuellen Belästigung ein weites Spektrum umfasst und sich nicht immer eindeutig abgrenzen läßt. Entscheidend hierfür ist niemals das Verhalten der belästigenden Person, ihre Motive oder eventuellen Entschuldigungen im Nachhinein. Es zählt ausschließlich, wie das Verhalten auf die betroffene Person wirkt und welche Nachteile ihr gegebenenfalls entstehen.[5]

Wer ist betroffen und wo findet sexuelle Belästigung statt?

Sexuelle Belästigung ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Nicht nur Frauen sind hiervon betroffen, ebenso zählen Männer und Homosexuelle zu den Opfern. Die Täter bedienen sich dieses Instruments, um z. B. ihre Machtposition oder Überlegenheit auszunutzen, so z. B. bei Auszubildenden, Studierenden oder behinderten Menschen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen und somit einem erhöhten Risiko unterliegen. Auch in Zusammenhang mit Mobbing oder bei Konkurrenzverhältnissen findet sexuelle Belästigung statt, um Betroffene zu demütigen und zu entwürdigen und dadurch zu schwächen.

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes führte 2015 eine Befragung unter Beschäftigten in Deutschland durch. Demnach hat

jeder Zweite Befragte sexuelle Belästigung schon einmal am Arbeitsplatz erlebt.

Dabei finden die Belästigungen vorrangig im Büro statt, zudem auf betrieblichen Veranstaltungen und auf Fluren bzw. im Fahrstuhl. Etwa jede sechste Frau und jeder 14. Mann schätzt das Ereignis ausdrücklich als sexuelle Belästigung ein.[6]

 

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Abb. 1: Sexuelle Belästigung – konkrete Erfahrung und persönliche Einschätzung (Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Antidiskriminierungsstelle des Bundes: 2015)

Folgen von sexueller Belästigung

Betroffene sind oftmals zunächst irritiert und fragen möglicherweise sich selbst: Was habe ich jetzt gerade erlebt? Sie wissen vielleicht das Geschehene nicht einzuordnen, wollen nicht als prüde oder humorlos gelten oder suchen die Schuld zunächst bei sich. Auch und gerade wenn die Belästigung durch eine Person mit einem beruflich höheren Status oder in kleinen Unternehmen durch den Chef persönlich erfolgt, haben Betroffene oftmals Angst vor negativen Konsequenzen. Sie sollten die Vorfälle jedoch nicht negieren, denn sexuelle Belästigung kann viele negative Folgen haben, so beispielsweise generelle Verunsicherung, Abnahme der Konzentrations- und Leistungsfähigkeit, Scham- und Schuldgefühle, in schweren Fällen Angst, Depression und psychosomatische Beschwerden, sinkende Arbeitsmotivation und Arbeitsfreude. Im schlimmsten Fall folgt dadurch ein Verlust des Arbeitsplatzes.[7]

Wie ist eigentlich die gesetzliche Regelung?

Sowohl auf EU-Ebene als auch in Deutschland wurden Rahmenwerke verankert, die die Bekämpfung und Prävention von Gewalt gegen Frauen zum Ziel haben. Dies sind auf EU-Ebene zum Beispiel die 2012 verabschiedete Opferschutz-Richtlinie der EU[8], worin die Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten in der EU manifestiert sind. Darin wird speziell auf die Opfer geschlechtsbezogener Gewalt, sexueller Gewalt und die Opfer von Gewalt in engen Beziehungen verwiesen. In Deutschland ist mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) 2006 ein Gesetz in Kraft getreten, das zum Ziel hat, „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.“[9] Dabei steht der Schutz vor Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf im Fokus des AGG, und zwar in allen Phasen des Arbeitsverhältnisses, also von der Personalgewinnung über die Phase des bestehenden Arbeitsverhältnisses (Personalbeurteilung/-honorierung, Personalentwicklung) bis hin zum Personalaustritt. (Sexuelle) Belästigung ist in § 3 Abs. 3 f. geregelt. Laut AGG ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Beschäftigten vor jedweder Diskriminierung, einschließlich sexueller Belästigungen, zu schützen und zwar auch dann, wenn sie von Lieferanten, Vertragspartnern oder Kunden ausgehen.[10]

Arbeitgeber sind verpflichtet, die Belegschaft über das AGG zu informieren. Hierfür bieten sich verschiedene Möglichkeiten an: ein Aushang am schwarzen Brett oder eine Information im Intranet. Teilweise werden diese Informationen auch in Form von Pflichtschulungen vermittelt, die die Belegschaft bei Eintritt ins Unternehmen bzw. einmal jährlich als Onlinetraining zu absolvieren hat.

Was können Opfer tun?

Leider ist ein Großteil der Beschäftigten nur unzureichend über ihre Rechte informiert. So meint nur jeder Zweite, dass er ein Recht darauf hat, sich zu beschweren bzw. gerichtlich zur Wehr zu setzen und nur jedem Fünften ist bewusst, dass es die Pflicht des Arbeitgebers ist, sie/ihn vor sexueller Belästigung zu schützen.

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Abbildung 2: Wissen über die Rechte von Beschäftigten bei sexueller Belästigung (Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Antidiskriminierungsstelle des Bundes: 2015)

Fast jeder Zweite Beschäftigte kennt keine Maßnahmen im eigenen Unternehmen, die vor sexueller Belästigung schützen und mehr als 70 % kennen auch keine präsente Ansprechperson, an die sie sich im Zweifelsfalle wenden könnten.[11] Fakt ist: sexuelle Belästigung ist kein Kavaliersdelikt! Betroffene haben das Recht, sich zur Wehr zu setzen:

  • Machen Sie der belästigenden Person unmissverständlich klar, dass Sie dieses Verhalten nicht wünschen. Kündigen Sie weitere Schritte bei Missachtung an.
  • Informieren Sie Ihren Vorgesetzten oder – wenn es selbst der Vorgesetzte ist – dann dessen Vorgesetzten.
  • Informieren Sie den zuständigen internen Ansprechpartner, z.B. die betriebliche Beschwerdestelle, den Gleichstellungsbeauftragten, den Betriebs- oder Personalrat.
  • Sollten Sie durch Ihren Arbeitgeber keine Unterstützung erfahren, so suchen Sie sich außerbetriebliche Unterstützung, z.B. bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes.
  • Führen Sie in jedem Fall ein Gedächtnisprotokoll. Vermerken Sie darin Zeit, Ort und Art der Belästigung und von wem diese ausging. Anhand dessen können Sie später die Vorfälle genau darstellen, denn die Täter weisen gern den Vorfall zurück, verharmlosen oder stellen die Belästigung im Nachhinein als „Kompliment“ dar.[12]

Und was können Unternehmen und Führungskräfte tun?

Nach § 12 Abs. 1 AGG haben Arbeitgeber nicht nur eine Informationspflicht, sondern sind auch verpflichtet, vorbeugende Maßnahmen zum Schutz vor Benachteiligungen zu treffen. Eine unabhängige Expert/-innen-Kommission, die von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes im Themenjahr 2015 „Gleiches Recht. Jedes Geschlecht“ eingesetzt wurde, kommt zu dem Schluss, „dass in vielen Betrieben, Behörden und öffentlichen Einrichtungen bislang konkrete Handlungsleitlinien, Zuständigkeiten und Verfahrensregeln fehlen.“[13]

Um hier Abhilfe zu schaffen, sollten sich Geschäftsführungen aktiv mit dem Thema auseinandersetzen. Oberste Maxime sollte sein, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das frei von Diskriminierung, Belästigung und jeglicher Benachteiligung ist und in dem Beschäftigte – ganz gleich welchen Geschlechts, welcher sexueller Orientierung oder welcher ethnischer Herkunft – Raum für Entfaltung finden. Ein solches Arbeitsumfeld kann nur durch die Geschäftsführung geschaffen werden, die wiederum mit gutem Beispiel vorangehen und ein respektvolles Miteinander vorleben sollte. Hierzu gehören auch eine eindeutige Positionierung gegen Belästigung oder Gewalt am Arbeitsplatz und das klare Signal, dass Belästigungen jeglicher Art geahndet werden.

Die Kommission kommt zu folgenden Handlungsempfehlungen für Unternehmen:[14]

  • Schulungen für Führungskräfte und Betriebsräte
  • Verankerung des Themas im Verhaltenskodex, der für alle Beschäftigen verpflichtend ist
  • Präventionstrainings für Beschäftigte als Bestandteil von Fortbildungen und On-Boarding
  • Regelung von Zuständigkeiten und Benennung von Ansprechpersonen
  • Etablierung eines transparenten Beschwerdeverfahrens und Zusicherung von Vertraulichkeit.

Fazit

Die oben aufgezeigten Zahlen verdeutlichen, dass beim Thema sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz noch Handlungsbedarf besteht. Die durch die Vorfälle in der Silvesternacht angestoßene öffentliche Debatte in Politik und Gesellschaft rund um sexuelle Gewalt ist deshalb wichtig und richtig. Neben den von der Kommission vorliegenden Handlungsempfehlungen gibt es weitere Möglichkeiten, sexueller Belästigung am Arbeitsplatz zu begegnen. In erster Linie sollten auf politischer Ebene konkrete verpflichtende Maßnahmen für Unternehmen verankert werden, die über die bislang geltende Regelung in Form einer Information „in geeigneter Art und Weise“ hinausgehen. Aber auch Unternehmen können aktiv werden und sich beispielsweise am bundesweiten Diversity Tag beteiligen, der einmal jährlich im Juni stattfindet (der nächste Diversity Tag ist am 7. Juni 2016), und bei dem Unternehmen durch unterschiedlichste Aktionen Sensibilität für das Thema schaffen können.

Denn: Unternehmen tragen Verantwortung. Wenn sich Vorstände und die Geschäftsführung deutlich gegen jede Art von Diskriminierung und (sexuelle) Belästigung positionieren und Verstöße sofort ahnden, dann erzeugt dies eine starke Symbolkraft, die auf die gesamte Belegschaft ausstrahlt. Unternehmen sollten nicht länger zögern und sich der Thematik stellen. Dabei können sie sich an Betrieben orientieren, die bereits Maßnahmen zur Umsetzung des AGG etabliert haben. Werden Sie aktiv!

 

Bildnachweise
Beitragsbild: „Defense“ von DDRockstar, https://de.fotolia.com/id/74390788

Bild im Text: „frau jung wird belästigt im Büro“ von Picture-Factory, https://de.fotolia.com/id/96152388

Verweise
[1] Vgl. Agentur der Europäischen Union für f.Grundrechte: 2014, S. 30.

[2] Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: 2004: S. 28

[3] § 3 AGG (3.04.2013)

[4] Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes (20.02.2016), www.antidiskriminierungsstelle.de.

[5] Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes: 2015, S. 7.

[6] Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes (20.02.2016), www.antidiskriminierungsstelle.de.

[7] Vgl. Müller, C./Sander, G.: 2009, S. 65.

[8] Vgl. Amtsblatt der Europäischen Union (20.02.2016), http://eur-lex.europa.eu.

[9] § 1 AGG (3.04.2013)ngsstelle.de

[10] Vgl. Wirlitsch, M./Hörmann, M: 2014, S. 65 ff.

[11] Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes (20.02.2016); www.antidiskriminierungsstelle.de.

[12] Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes (20.02.2016); www.antidiskriminierungsstelle.de

[13] Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes: 2015, S. 9.

[14] Vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes: 2015, S. 10 f.

Literaturverzeichnis
Müller, C./Sander, G.:
Innovativ führen mit Diversity-Kompetenz. Vielfalt als Chance. Haupt Verlag. Bern, Stuttgart, Wien. 2009

Wirlitsch, M./Hörmann, M.:
Arbeits- und Personalrecht. SRH FernHochschule Riedlingen. Riedlingen. 2014

Internetquellen
Agentur der Europäischen Union für Grundrechte: Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung. Ergebnisse auf einen Blick. 2014. URL:

http://fra.europa.eu/sites/default/files/fra-2014-vaw-survey-at-a-glance-oct14_de.pdf

(13.02.2016)

Amtsblatt der Europäischen Union: Richtlinie 2012/29/EU des europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2012 über Mindeststandards für die Rechte, die Unterstützung und den Schutz von Opfern von Straftaten sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses. 2012. URL: http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32012L0029&from=PL (20.02.2016)

Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Gleiche Rechte – gegen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Bericht der unabhängigen Expert_innenkommission der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. 2015. URL: http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Handlungsempfehlungen_Kommission_Geschlecht.html;jsessionid=B387F66B90070E51F51C944B3556709A.2_cid322 (20.02.2016)

Antidiskriminierungsstelle des Bundes:
Grenzen setzen – Was tun bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz? 2015. URL: http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Flyer/ADS-Flyer-Grenzen-setzen-20111207.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (20.02.2016)

Antidiskriminierungsstelle des Bundes: Pressekonferenz zum Start des Themenjahres. 2015. URL: http://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Downloads/DE/publikationen/Umfragen/Umfrage_sex_Belaestigung_Los_1.pdf?__blob=publicationFile (20.02.2016)

Antidiskriminierungsstelle des Bundes:
Sexuelle Belästigung. 2016. URL:

http://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ThemenUndForschung/Geschlecht/sexuelle_Belaestigung/sexBelaestigung_node.html;jsessionid=A4FDECE5FA964B55EC660081121107C7.2_cid322 (20.02.2016)

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland.2004. URL: 
http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung4/Pdf-Anlagen/langfassung-studie-frauen-teil-eins,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf (13.02.2016)


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