By Published On: 20. Juli 2020Categories: Literaturempfehlungen

1946 erschien erstmals das Buch „Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager“ des österreichischen Arztes und Holocaust-Überlebenden Viktor Frankl. Frankl, bekannt als Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse[1], beschreibt darin seine Erlebnisse in mehreren Konzentrationslagern und seine Erkenntnisse bezüglich des Leids und der Sinnsuche des Menschen.

Buchvorstellung

Auf den ersten Seiten seines Buches, dem, trotz des nur kurzen zeitlichen Abstands zwischen Niederschrift und selbst erfahrenem Leid, sowie der Tatsache, dass Eltern, Frau und Bruder den Holocaust nicht überlebt haben, keinerlei Verlangen nach Vergeltung anzumerken ist, spricht Frankl davon, dass es sich bei seinem Text um eine „psychologische Untersuchung“[2] handelt, bei der es um die den wenigen überlebenden Gefangenen „(…) eigenartige und, psychologisch gesehen, (…) [n]euartige[s] (…) Einstellung zum Leben“[3] geht.  Frankl teilt seinen Text in drei Teile ein, die er als erste, zweite und dritte „Phase“ bezeichnet und mit den jeweiligen Untertiteln „Die Aufnahme ins Lager“[4], „Das Lagerleben“[5] und „Nach der Befreiung aus dem Lager“[6] versieht.

Der erste Teil beginnt mit der Schilderung der Ankunft in Auschwitz und des Erschreckens, als Frankl und seine Leidensgenossen noch im ankommenden Zug bemerken, wohin sie gebracht worden sind.[7] Es kommt unverzüglich zur ersten Selektion, in deren Folge die meisten Menschen, die zusammen mit Frankl angekommen sind, innerhalb von wenigen Stunden ermordet werden. Frankl selbst gehört zu den wenigen, die stattdessen zur Zwangsarbeit eingeteilt werden.[8] Ohne jegliche Sentimentalität beschrieben, wird das Grauen der ersten 24 Stunden im Lager hier unmittelbar spürbar – soweit das für Außenstehende überhaupt möglich ist.

Die „zweite Phase“ umfasst den größten Teil des Buches und beschreibt in verschiedenen Facetten das Leben, Arbeiten und Leiden im Lager, wobei jeder der zahlreichen kurzen Abschnitte je einem konkreten oder eher psychologisch-philosophischen Thema gewidmet ist, wie z.B. dem Verkümmern des Gefühlslebens („Apathie“[9]), der extrem mangelhaften Versorgung („Hunger“[10]), oder der überlebenswichtigen Vorstellung  einer besseren Zukunft („Spinoza als Erzieher“[11]). Auch finden hier erstmals drei wichtige Begriffe von Frankls psychotherapeutischem Ansatz gemeinsame Erwähnung, nämlich „Liebe“[12], „Leisten“ [12] (im Sinne von Arbeit) und „Leiden“ [12] (im Sinne des redlichen Ertragens eines nicht vermeidbaren Leids). An anderer Stelle stellt Frankl dann heraus, dass Arbeit, Liebe und Leid der logotherapeutischen Lehre zufolge die drei hauptsächlichen Wege zum Finden von Sinn im Leben sind.[13] Hierdurch wird auch verständlich, wie es zu der nur auf den ersten Blick scheinbar gänzlich anderen Wortwahl des Titels der englischsprachigen Ausgabe („…Search for Meaning“) verglichen mit dem deutschen „Konzentrationslager-Bericht[s]“[14] kam.

Im letzten und kürzesten Teil seiner „Psychologie des Konzentrationslagers“[15] widmet Frankl sich auf acht knappen Seiten der Zeit nach der Befreiung. Zu normaler Freude zunächst noch nicht fähig, schleppen die überlebenden Häftlinge sich aus dem Lager und brauchen Zeit, ihr normales (Gefühls-)Leben wieder zu erlernen.[16] Auch werden die negativen seelischen Auswirkungen des durchlebten Leids thematisiert, die Frankl bei vielen seiner befreiten Lagerkameraden nun beobachtet[17], sowie die Enttäuschung und Verbitterung derjenigen Heimkehrenden, denen von ihrem Umfeld kaum Verständnis und Mitgefühl für das Durchlittene entgegengebracht wird oder denen das jahrelang ersehnte Wiedersehen mit ihren Angehörige nicht vergönnt ist[18]. Dennoch schließt das Buch mit der positiven Bemerkung, dass die Rückkehrer eines Tages in den Genuss kommen des „…köstlichen Gefühl[s], nach all dem Erlittenen nichts mehr auf der Welt fürchten zu müssen – außer [ihrem] Gott“[19].

Unterschiedliche Ausgaben und weiteres Material

Ein knappes Dreivierteljahrhundert nach seinem erstmaligen Erscheinen liegt das Buch heute in verschiedenen Ausgaben und Übersetzungen in zahlreiche Sprachen vor. Dabei wird dem ursprünglichen Titel der deutschen Ausgabe seit 1977 der Zusatz „…Trotzdem Ja zum Leben sagen“ vorangestellt, entnommen einem Lied, das ein Häftling, der das Konzentrationslager Buchenwald nicht überlebte, dort verfasst hat[20]. Weiterhin enthält die aktuelle deutsche Ausgabe auch Frankls erstmals bereits 1948 unter Pseudonym veröffentlichte Theaterstück „Synchronisation in Birkenwald – Eine metaphysische Conférence“ [21].

Die ursprüngliche englischsprachige Ausgabe „From Death-Camp to Existentialism“ trägt heute den griffigen Titel „Man’s Search for Meaning“[22] und enthält zusätzlich eine ebenfalls lesenswerte Einführung in die Logotherapie, die, folgend auf die Schulen Freuds und Adlers, auch als „’Dritte Wiener Schule der Psychotherapie’“[23] bezeichnet wird.

Fazit

„Man’s Search for Meaning” ist ein Beispiel bewegender Literatur, das nicht nur jedem Psychologiestudierenden, sondern einer größeren Leserschaft sowohl als Zeitzeugnis als auch aufgrund der darin vermittelten psychologischen Erkenntnisse empfohlen werden kann, sei es in der deutschen, der englischen oder der Kombination beiden Ausgaben mit ihrem jeweils unterschiedlichen Zusatzmaterial. Aus praktischer Sicht besteht ein weiterer Vorteil darin, dass der Kerntext, anders als im Falle vieler anderer einflussreicher, aber auch umfangreicherer Werke, innerhalb weniger Tage gelesen werden kann.

 

[1] Vgl. Raskob (2005), S. 1
[2] Frankl (2020), S. 23
[3] Frankl (2020), S. 23
[4] Frankl (2020), S. 25
[5] Frankl (2020), S. 41
[6] Frankl (2020), S. 132
[7] Vgl. Frankl (2020), S. 26
[8] Vgl. Frankl (2020), S. 29-31
[9] Frankl (2020), S. 41-44
[10] Frankl (2020), S. 52-56
[11] Frankl (2020), S. 112-117
[12] Frankl (2020), S. 63
[13] Vgl. das Postskriptum 1984 – „The Case for a Tragic Optimism” in Frankl (2006), S. 145-146
[14] Von Weigel im Vorwort (1977) zu Frankl (2020), S. 9, als verkürztes Synonym für den ähnlich formulierten vollständigen Titel der deutschen Ausgabe verwendet
[15] Frankl (2020), S. 132
[16] Vgl. Frankl (2020), S. 132-135
[17] Vgl. Frankl (2020), S. 135-137
[18] Vgl. Frankl (2020), S. 137-139
[19] Frankl (2020), S. 139
[20] Vgl. Weigels Vorwort (1977) zu Frankl (2020), S. 11
[21] Vgl. Frankl (2020), S. 143-187
[22] Vgl. Frankl (2006)
[23] Vgl. z.B. Reitinger (2018), S. 1

 

Literatur:

Frankl, V. E. (2006), Man’s Search for Meaning, o. Aufl., Boston: Beacon Press.

Frankl, V. E. (2020), …Trotzdem Ja zum Leben sagen – Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, 9. Aufl., München: Kösel.

Raskob, H. (2005), Die Logotherapie und Existenzanalyse Viktor Frankls – Systematisch und kritisch, 1. Aufl., Wien New York: Springer.

Reitinger, C. (2018), Zur Anthropologie von Logotherapie und Existenzanalyse – Viktor Frankl und Alfried Längle im philosophischen Vergleich, 1. Aufl., Wiesbaden: Springer.

 

Beitragsbild: Buchcover der aktuellen deutschen und englischen Ausgabe, fotografiert von Moritz Garlichs

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