Die Soziale Arbeit steht heute mehr denn je unter Druck: steigende Fallzahlen, komplexe Problemlagen, ein wachsender Fachkräftemangel – und gleichzeitig hohe Erwartungen an Professionalität, Wirkung und Innovation. Gerade in einem Umfeld, in dem Ressourcen knapp und Herausforderungen vielschichtig sind, stellt sich die Frage: Brauchen wir neue Wege des Denkens und Handelns?
In anderen Disziplinen ist die Suche nach kreativen Lösungswegen längst etabliert – besonders in der Produktentwicklung oder im Innovationsmanagement. Eine Methode, die dort zunehmend Erfolg hat, ist Design Thinking. Doch was passiert, wenn man diese Methode in die Soziale Arbeit überträgt? Passt dieser kreative Ansatz überhaupt in ein Feld, das stark von Ethik, Beziehung und institutionellen Rahmenbedingungen geprägt ist? Oder ist das Ganze doch eher ein kurzlebiger Trend aus der Start-up-Welt?
Zwischen Empathie und Kreativität: Was Design Thinking eigentlich ist
Design Thinking wird häufig als Innovationsmethode beschrieben, doch im Kern ist es viel mehr: ein Denkansatz, der konsequent von den Bedürfnissen der Nutzer:innen ausgeht. Es geht nicht darum, sofort eine perfekte Lösung zu finden – vielmehr steht das Verstehen, Ausprobieren und Verwerfen im Vordergrund. Der Prozess ist iterativ, also in Schleifen gedacht: Eine Idee wird schnell prototypisch umgesetzt, getestet und – bei Bedarf – verworfen oder angepasst. Fehler gelten dabei nicht als Scheitern, sondern als notwendiger Teil des Erkenntnisprozesses (Krauss & Plugmann, 2022, S.183).
Das Besondere an Design Thinking ist seine Radikalität in der Perspektivübernahme: Es beginnt mit echter Empathie – einer systematischen Auseinandersetzung mit den Erfahrungen, Problemen und Bedürfnissen der Menschen, für die eine Lösung entwickelt wird. Diese Haltung erinnert stark an zentrale Werte der Sozialen Arbeit (Freiling & Harima, 2024, S.109-110; Börchers, 2024, S.89-90).
Warum Design Thinking überraschend gut zur Sozialen Arbeit passt
Was zunächst wie ein Fremdkörper wirkt – ein wirtschaftsnaher Innovationsprozess in einem sozialen Kontext – erweist sich bei näherer Betrachtung als erstaunlich anschlussfähig. Denn viele Prinzipien des Design Thinking lassen sich mit Grundhaltungen der Sozialen Arbeit verbinden. Die Empathiephase, in der die Lebenswelt der Nutzer:innen intensiv erkundet wird, gleicht dem sozialarbeiterischen Prinzip der Lebensweltorientierung. Auch das Prinzip der Partizipation, also die aktive Beteiligung von Betroffenen an Entscheidungen, wird in beiden Bereichen großgeschrieben (Börchers, 2024, S.89-90; Freiling & Harima 2024, S.109-110).
Spannend ist zudem der Gedanke der „Co-Kreation“: Klientinnen sind nicht nur Empfängerinnen von Hilfe, sondern aktive Mitgestalter:innen von Lösungen. Damit wird ein Empowerment-Prozess angestoßen, der das Selbstwertgefühl stärken und echte Teilhabe ermöglichen kann. Gerade in der Arbeit mit Jugendlichen, Menschen mit Behinderung oder in der Gemeinwesenarbeit kann dieser Ansatz viel bewegen (Freiling & Harima, 2024, S.105-106).
Zudem bietet der iterative Charakter des Design Thinking einen wichtigen Vorteil: In der Sozialen Arbeit gibt es selten einfache oder eindeutige Lösungen. Viele Problemlagen sind komplex und dynamisch. Hier bietet es sich geradezu an, neue Ideen zunächst im Kleinen auszuprobieren, Feedback einzuholen und daraus zu lernen. Diese „Fehlerfreundlichkeit“ kann eine wohltuende Ergänzung zu den oft starren Strukturen und Dokumentationspflichten im Feld sein (Börchers, 2024, S.89-90; Freiling & Harima, 2024, S.109-110).
Praxisbeispiel: Digitale Stadtteilzentren für mehr Teilhabe
Ein innovatives Forschungsprojekt zeigt, wie sich Design Thinking nutzen lässt, um soziale Teilhabe in einer mobilen und zunehmend digitalen Gesellschaft neu zu gestalten. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass Menschen – etwa durch berufliche Mobilität, Alter, Migration oder soziale Isolation – den Kontakt zu ihrem gewohnten Sozialraum verlieren und dadurch von Austausch, Kultur und Begegnung ausgeschlossen sein können. Das Projekt reagiert darauf mit der digitalen Transformation klassischer Stadtteilzentren: In partizipativen Prozessen mit betroffenen Zielgruppen werden neue Formate entwickelt, die Begegnung und kulturelle Teilhabe auch über räumliche Distanzen hinweg ermöglichen – etwa durch virtuelle Rundgänge, Avatare, hybride Theaterformate oder 3D-Begegnungsräume. Ziel ist es, Stadtteilzentren nicht nur technisch zu erweitern, sondern sie auch sozial inklusiver zu gestalten: mit niedrigschwelligen, diversitätssensiblen Angeboten, die niemanden ausschließen – unabhängig von Herkunft, Sprache oder technischer Erfahrung. In drei Regionen werden die entwickelten Ideen erprobt und wissenschaftlich begleitet. So entsteht ein konkretes Beispiel für soziale Innovation in der Sozialen Arbeit – mit dem Ziel, Teilhabe neu und digital zu denken, ohne den Menschen aus dem Blick zu verlieren (Krauss & Plugmann, 2022, S.184-189).
Fazit: Design Thinking – Haltung, Methode und Chance für soziale Innovation
Design Thinking steht in der Sozialen Arbeit nicht nur für eine kreative Methode, sondern für eine grundlegend partizipative Haltung: Im Mittelpunkt steht der Mensch – mit seinen Erfahrungen, Bedürfnissen und sozialen Realitäten. Gerade in einer zunehmend komplexen, digitalen und diversen Gesellschaft bietet dieser Ansatz das Potenzial, innovative Lösungen zu entwickeln, die nicht über Betroffene hinweg geplant, sondern mit ihnen gemeinsam gestaltet werden. Soziale Innovation gelingt nur, wenn technische oder organisatorische Veränderungen auf Akzeptanz stoßen und in den Alltag der Menschen passen. Design Thinking fördert genau diesen Perspektivwechsel – durch Empathie, interdisziplinäre Zusammenarbeit und iterative Prozesse. Damit wird es zu einem wertvollen Werkzeug für eine Soziale Arbeit, die nicht nur begleitet, sondern aktiv mitgestaltet (Krauss & Plugmann, 2022, S.193).
Von der Idee zur Wirkung: So gelingt der Einstieg in Design Thinking
Design Thinking lebt von einer bestimmten Haltung – getragen von Prinzipien wie Empathie, Co-Creation oder Experimentierfreude. Sie schaffen die Basis für kreative, lösungsorientierte Prozesse in der Sozialen Arbeit. Damit der Einstieg in der Praxis gelingt, helfen zusätzlich einige einfache Handlungsempfehlungen: Fragen stellen statt vorschnell lösen, zuhören statt interpretieren – und einfach mal ausprobieren, statt alles bis ins Detail zu planen. So lassen sich auch im komplexen Alltag neue Denk- und Handlungsspielräume eröffnen (Freiling & Harima, 2024, S. 103-109).
Was wäre, wenn soziale Angebote nicht mehr für, sondern mit den Menschen entwickelt würden, die sie nutzen sollen?
Design Thinking gibt uns nicht nur ein praktisches Werkzeug – sondern die Chance, unsere Haltung zur Gestaltung von Sozialräumen neu zu denken: menschlich, kreativ und wirksam.
Literaturverzeichnis
Krauss, S./Plugmann, P. (2022), Innovationen in der Wirtschaft, 1. Aufl., Wiesbaden. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-37411-2
Gehm, J. (2022), Design Thinking etablieren, 1. Aufl., Wiesbaden. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-37243-9
Börchers, K. (2024), Agile Audits im Krankenhaus, 1. Aufl., Wiesbaden. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-44339-9
Freiling, J./Harima, J. (2024), Entrepreneurship, 2. Aufl., Wiesbaden. DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-44080-0
Titelbildquelle
Titelbild von UX Indonesia veröffentlicht am 20.April 2020 auf https://unsplash.com/de/fotos/frau-in-schwarzem-langarmhemd-mit-weissem-papier-pqzRfBhd9r0
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